07.09.2006
Vorübergehendes Chaos: Paradigmenwechsel in Turbulenzforschung
Nature-Publikation von internationaler Forschergruppe belegt „transientes Chaos“: Turbulente Strömungen in Rohren zerfallen wieder – Weit reichende Konsequenzen für das Verständnis turbulenter Zustände
Noch geht die physikalische Fachwelt davon aus, dass turbulente Rohrströmungen mit den Mitteln der statistischen Mechanik erfassbar sind und als dauerhafter Zustand gelten können. Nun aber hat eine internationale Forschergruppe um den theoretischen Physiker Professor Dr. Bruno Eckhardt von der Philipps-Universität Marburg in der Publikation „Finite lifetime of turbulence in shear flows“, die heute im renommierten Fachjournal Nature erscheint (Nature, 7. September 2006; 442 (7107)), neue Ergebnisse veröffentlicht. Mit ihrer „verblüffenden Entdeckung“ (Eckhardt) widersprechen sie einem zentralen und für gut belegt gehaltenen Paradigma der Turbulenzforschung: Turbulente Strömungen in Röhren, so der Kern der Aussage, gehen entgegen bisheriger Ansicht von selbst wieder in eine gleichförmige, „laminare“ Strömung über. Mit einem Fachbegriff ausgedrückt: Das chaotische Strömungsverhalten in Röhren ist transient, also vorübergehend. Physiker, angewandte Mathematiker und selbst Astronomen, die über die Entstehung von Galaxien forschen, dürften nun ihre theoretischen Modelle überdenken müssen.
Gemeinsam mit Dr. Björn Hof von der britischen University of Manchester, Professor Dr. Jerry Westerweel von der niederländischen Delft University of Technology und Dipl.-Phys. Tobias M. Schneider von der Philipps-Universität führt Eckhardt in Nature überzeugende theoretische wie auch experimentelle Belege für seine Hypothese an. „Unsere Ergebnisse“, so der Leibnizpreisträger des Jahres 2002, „haben weit reichende Konsequenzen für unser Verständnis der Natur des turbulenten Zustands und für die Beeinflussung turbulenter Strömungen.“
Hohe Strömungsgeschwindigkeit führt zu Turbulenz
Turbulenz tritt gemeinhin bei sehr hohen Strömungsgeschwindigkeiten auf, wie sie etwa in der Luft um ein fahrendes Auto oder ein Flugzeug oder eben in einem flüssigkeitsdurchströmten Rohr bei ausreichend hohem Druck vorkommen. „Trotz der Allgegenwart des Problems ringt man aber weiter um eine zuverlässige Beschreibung“, sagt Eckhardt. Grund dafür sei, dass sich turbulente Strömungsfelder nicht analytisch fassen lassen, sondern dass man für ihre Beschreibung auf Experimente und numerische Verfahren angewiesen ist.
Verstärkt noch durch Ergebnisse aus der Chaosforschung habe sich in den letzten Jahrzehnten die Vorstellung durchgesetzt, dass eine turbulente Strömung als eigenständiger Zustand aufzufassen sei, in dem ein Fließgleichgewicht herrsche. Denn einerseits erzeugen die in der Flüssigkeit aneinander reibenden Flüssigkeitsschichten Wärme. Dabei geht der Turbulenz Energie verloren, sodass die Strömung von selbst wieder zur Rückkehr in den laminaren Zustand tendieren sollte. Gleichzeitig aber wird der Strömung durch den Druckunterschied zwischen Anfang und Ende des Rohrs auch Energie zugeführt, sodass die Turbulenz schließlich doch – und zwar auf Dauer – erhalten bleibt. Genau dieser Vorstellung, dass der Druckunterschied den turbulenten Zustand auf Dauer aufrecht erhält, widersprechen Eckhardt und seine Kollegen nun.
Experimentelle Überprüfung mit Hindernissen
Die experimentelle Überprüfung ihrer Hypothese stellte allerdings besondere Anforderungen. „Eine turbulente Strömung durch einen Gartenschlauch, der einmal um den Äquator gewickelt ist“, so schätzen die Wissenschaftler ab, „müsste durchschnittlich fünf Jahre lang fließen, bis man beobachten könnte, dass die Strömung wieder zerfällt.“ Zwar nicht anhand eines Gartenschlauchs, sondern mittels eines dreißig Meter langen Kupferrohrs im Keller des Physikgebäudes in Manchester sowie mithilfe numerischer Simulationen auf dem neuen MARC-Hochleistungsrechner der Philipps-Universität belegten die Forscher, dass die am Beginn des Rohrs angeregte Turbulenz schlussendlich wieder zerfällt.
„Allerdings steigt ihre Lebensdauer in Abhängigkeit von verschiedenen Parametern exponentiell sehr stark an“, so Eckhardt. Für ein beispielhaftes städtisches Abwasserrohr von sechzig Zentimetern Durchmesser wurde auf Basis der neuen Ergebnisse sogar eine Abklingzeit von 10 3000 Jahren errechnet – verglichen damit ist nicht einmal das Alter unseres Universums, runde 14 Milliarden Jahre, eine nennenswerte Zahl. Diese Umstände dürften zumindest zum Teil erklären, warum man bislang von einer dauerhaften Turbulenz ausging. „Unsere Beobachtungen zeigen aber darüber hinaus“, so Eckhardt, „dass das Netzwerk von Strömungszuständen komplizierter und komplexer ist als bisher angenommen und eine andere Beschreibungs- und Betrachtungsweise erfordert.“
Die Ergebnisse der internationalen Forschergruppe sind von Bedeutung für die mathematische Beschreibung turbulenter Strömungen, für deren (praktische) Beeinflussbarkeit und für eine Reihe von Anwendungen etwa im Bereich der Astrophysik. Die Möglichkeit, dass die Strömung wieder zerfällt, bedeutet unter anderem, dass sich eine turbulente Rohrströmung mit minimalem Energieaufwand wieder in einen laminaren Zustand überführen lassen sollte. Astrophysiker dürften sich für Eckhardts Ergebnisse insbesondere im Zusammenhang mit dem Phänomen der Akkretion interessieren. Dabei ziehen kosmische Objekte wie Sterne oder Schwarze Löcher aufgrund ihrer Schwerkraft Materie aus der Umgebung an. Im Zuge der entstehenden turbulenten Materieströme bilden sich dann Planetensysteme oder ganze Galaxien.
Unsere Ergebnisse sind allerdings so verblüffend“, sagt Eckhardt, „dass sie sicherlich kritische Überprüfungen herausfordern werden.“ Diese werden sich voraussichtlich nicht nur auf Rohrströmungen, sondern auch auf verwandte Strömungssituationen beziehen. Doch Eckhardt, Hof, Westerweel und Schneider sind sich sicher: „Mit dem transienten Chaos im Rohr haben wir für einen weiteren Typ nichtlinearer Dynamik eine Realisierung in einer Strömung gefunden.“Angesichts ihrer weit reichenden Bedeutung wird die Arbeit des internationalen Forscherteams auch in der „news & views“-Rubrik des Nature-Magazins unter dem Titel „Lost in transience“ kommentiert.
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Professor Dr. Bruno Eckhardt
Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Physik, Renthof 5, 35032 Marburg
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