24.04.2007
Eigenverantwortung und Gesundheit
Interdisziplinäres Symposium erörtert öffentlich am Beispiel der Adipositas, wie Genetik unser Verständnis von Krankheit und Gesundheit verändert
Die Erkenntnisse aus der Erforschung des menschlichen Genoms eröffnen für die Medizin eine Fülle an neuen Diagnose-, Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten. Zugleich wird die stetig wachsende Bedeutung der Genetik für die medizinische Praxis von vielen Seiten mit Skepsis betrachtet. Eine der strittigen Fragen ist, wie die Genetik unser traditionelles Verständnis von Krankheit und Gesundheit verändert. Am 27. April 2007 wird sich ein interdisziplinäres Symposium mit dem Titel „Der gesund-kranke Mensch“ öffentlich dieser Problematik widmen.
„Wir haben bewusst diesen paradox klingenden Titel gewählt, weil er das Problem sehr gut trifft. Bei immer mehr Krankheiten werden Einflüsse genetische Veranlagungen erkannt. Solche Prädispositionen werden in Zukunft möglicherweise mehr als bisher durch Gentests identifiziert werden können, bevor sich überhaupt Symptome einer Erkrankung zeigen. Wir wollen mit unserer Tagung den Blick auf die Menschen lenken, die um eine genetische Veranlagung wissen, bei denen aber (noch) keine Anzeichen einer Krankheit erkennbar sind. Sollte man sie als krank oder gesund betrachten? Welche Folgen hätte das jeweils für das Gesundheitssystem? Kann solches Wissen für die Prävention genutzt werden? Das sind nur einige der Fragen, die wir an einem konkreten Phänomen, der Adipositas (extremes Übergewicht) diskutieren wollen. Da in den letzten Jahren immer mehr genetische Befunde dazu vorliegen und eine rege Diskussion darüber geführt wird, ob Adipositas als Krankheit einzuschätzen ist oder nicht, eignet sie sich besonders für die Erörterung solch grundsätzlicher Fragen“, führt Dr. Anja Hilbert, Leiterin der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Nachwuchsforschergruppe „Psychosoziale, ethische und rechtliche Konsequenzen genetischer Befunde bei Adipositas“ aus.
Seit Beginn des Jahres 2005 untersuchen die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Nachwuchsforschergruppe die ethischen, rechtlichen und psychosozialen Aspekte der molekularen Biomedizin. Das BMBF fördert im ELSA-Schwerpunkt bundesweit vier Nachwuchsprojekte.
Die Erforschung des menschlichen Genoms und die Entwicklungen in der molekularen Biomedizin werfen zudem eine Fülle an speziellen ethischen und rechtlichen Fragen auf. „Insbesondere die Frage nach der Verantwortung für die eigene Gesundheit wird unter den Vorzeichen der Biomedizin neu gestellt werden müssen“, erläutert Dipl.-Theol. Jens Ried. „Eigenverantwortung ist in den letzten Jahren zu einem Schlagwort der Sozialpolitik geworden. Die Fortschritte in der Erforschung des menschlichen Genoms könnten diese Tendenz weiter befördern. Da die weitaus meisten Erkrankungen in einem komplexen Zusammenspiel von Genom, Umwelt und Verhalten entstehen, könnte man sagen, jeder Betroffene habe gewissermaßen einen ‚Eigenanteil’ an seiner Krankheit, den er auch selbst zu verantworten habe – mit entsprechenden Konsequenzen z.B. bei der Kostenübernahme durch Krankenkassen. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir damit umgehen wollen.“ Ref. iur. Daniel Schneider ergänzt: „Die Regelungen zur Gesetzlichen Krankenversicherung im Sozialgesetzbuch V sprechen zwar gegenwärtig auch schon von Eigenverantwortung und sehen Kostenbeteiligungen der Versicherten bei selbstverschuldeten Krankheiten vor, de facto spielt das aber in der Rechtsprechung keine größere Rolle – jedenfalls noch nicht. Es kann durchaus sein, dass sich da in den nächsten Jahren einiges tun wird.“
Die Themen des Symposiums sind sowohl für eine Vielzahl von Disziplinen, u.a. auch Sozialwissenschaften, als auch für die Institutionen des Gesundheitssystems von Belang. Die Tagung ist daher interdisziplinär ausgerichtet und führt Fachleute aus verschiedenen Wissenschaften sowie Experten aus dem Gesundheitswesen zusammen.
Dr. Anja Hilbert führt zunächst in die Leitfrage des Symposiums ein und wird die Bedeutung von Eigenverantwortung für die Adipositasprävention thematisieren. Die Genetikerin Dr. Anke Hinney (Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Essen-Duisburg) erläutert am Beispiel der Adipositas die Mechanismen von Gen-Umwelt-Interaktionen. Ref. iur. Daniel Schneider (Rechtswissenschaften, ELSA-Nachwuchsforschergruppe) und Dipl.-Theol. Jens Ried (Bioethik / Sozialethik, ELSA-Nachwuchsforschergruppe) nehmen die rechtlichen und ethischen Aspekte in den Blick. PD Dr. Thomas Lemke (Soziologie, Johann Wolfgang v. Goethe-Universität Frankfurt am Main) beleuchtet sozialwissenschaftliche Hintergründe der Genmedizin. Kai Kolpatzik vom AOK-Bundesverband wird ausführen, welche Rolle Gentests und Eigenverantwortung in den Gesetzlichen Krankenkassen spielen. Prof. Dr. Peter Dabrock (Bioethik / Sozialethik, Philipps-Universität Marburg) stellt schließlich die Frage nach der Gesundheitsmündigkeit angesichts der Fortschritte in der molekularen Medizin.
„Wir wollen mit unserer Tagung vor allem ein alle betreffendes Thema auf wissenschaftlichem Niveau für die allgemeine Öffentlichkeit zur Sprache bringen. Wir werden an einem Nachmittag natürlich keine Lösungen finden können; aber wir wollen fundiert informieren und einen öffentlichen Diskussionsprozess über diese Fragen, die uns schon längere Zeit beschäftigen, anregen – das wird uns sicher gelingen und damit ist für alle viel gewonnen“, resümiert Dr. Anja Hilbert.
Weitere Informationen
Das Symposium wird in der Aula der Alten Universität, Lahntor 3, 35037 Marburg von 14 bis 17 Uhr stattfinden.
ELSA-Nachwuchsforschergruppe „Psychosoziale,
ethische und rechtliche Konsequenzen genetischer Befunde bei
Adipositas“
Fachbereich Psychologie, Arbeitsgruppe Klinische Psychologie und
Psychotherapie
Gutenbergstraße 18. 35032 Marburg
Tel.: 06421/2823657 (Sekretariat), Fax: 06421/2828904
Internet: www.uni-marburg.de/nfg-adipositas
Dr. Anja Hilbert
Tel.: 0 64 21 / 282 37 87, E-Mail:
hilbert@staff.uni-marburg.de
Dipl.-Theol. Jens Ried
Tel.: 0 64 21 / 282 37 88, E-Mail:
ried@staff.uni.marburg.de
Ref. iur. Daniel Schneider
Tel.: 0 64 21 / 282 36 83, E-Mail:
daniel.schneider@staff.uni-marburg.de