10.01.2008
Stigmatisierung von Übergewicht ist ein unterschätztes Problem
Marburger Wissenschaftler suchen nach Möglichkeiten, stigmatisierende Einstellungen zu reduzieren
Eine repräsentative Untersuchung in der deutschen Bevölkerung zeigt, dass Vorurteile gegen übergewichtige und adipöse Menschen stark verbreitet sind. Eine Nachwuchsforschergruppe aus Marburg sucht nach Möglichkeiten, stigmatisierende Einstellungen zu reduzieren.
Die Adipositas (schweres Übergewicht) ist eines der gegenwärtig drängendsten weltweiten Gesundheitsprobleme. Nach den aktuellsten Zahlen des Robert-Koch-Institutes sind in der Bundesrepublik 18,1% der Erwachsenen und 6,3% der Kinder und Jugendlichen adipös, zusätzlich sind 15% der Minderjährigen und mehr als 40% der Volljährigen übergewichtig. Die medizinischen Folgen sind gravierend: Adipositas erhöht sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen das Risiko für eine Vielzahl an Krankheiten wie Diabetes mellitus Typ 2 oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. „Über die möglichen medizinischen Risiken des Übergewichtes wissen wir mittlerweile recht viel“, führt PD Dr. Anja Hilbert, Leiterin einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten und an der Philipps-Universität Marburg angesiedelten Nachwuchsforschergruppe zur Adipositas aus. „Adipöse Menschen sind aber auch Stigmatisierungen und Diskriminierungen in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen ausgesetzt – z.B. im Bildungswesen, am Arbeitsplatz, aber auch im Gesundheitswesen. Wie Untersuchungen aus den USA zeigen, werden stark übergewichtige Personen als willensschwach, faul und weniger intelligent eingestuft. Bislang wissen wir so gut wie nichts darüber, ob sich das in Europa und besonders in Deutschland ähnlich verhält.“
Um diese Lücke zu schließen haben die Marburger Wissenschaftler in Kooperation mit Prof. Dr. Elmar Brähler von der Universität Leipzig eine repräsentative Untersuchung in der deutschen Bevölkerung durchgeführt. „Das Ergebnis hat uns schon etwas überrascht“, kommentiert Prof. Dr. Winfried Rief vom Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität. „Fast ein Viertel der Befragten haben eindeutig stigmatisierende Einstellungen geäußert; nur knapp über 20% lehnen eine pauschale negative Beurteilung von adipösen Personen ausdrücklich ab. Besonders bemerkenswert ist allerdings, dass 55% unentschieden sind.“
Dieses Resultat weist wohl auf ein hohes Maß an latenter Stigmatisierung hin. „Es scheint so zu sein, dass die Mehrheit sich nicht sicher ist, ob die Vorurteile über adipöse Menschen zutreffen oder nicht. Das heißt aber möglicherweise, dass viele grundsätzlich auch bereit wären, diese Stereotypen zu bestätigen. Von welchen Faktoren das abhängt, wissen wir allerdings noch nicht sicher“, resümiert Anja Hilbert.
Einen Hinweis hat die Studie aber doch ergeben: 85% der Befragten gaben an, Adipöse seien im Wesentlichen selbst für ihr starkes Übergewicht verantwortlich, da sie sich einfach zu wenig bewegen und zu viel essen. „Die neuesten Forschungsergebnisse zeigen zwar ganz klar, dass Adipositas durch eine Vielzahl an Faktoren wie genetische Prädisposition, das Lebensumfeld, der jeweilige Lebensstil etc. bedingt wird. Aber in der Öffentlichkeit ist bislang zu wenig bekannt, wie komplex das Übergewichtsproblem eigentlich ist. Wer die Ursachen einer Adipositas vor allem im individuellen Verhalten sucht, neigt auch eher zu Vorurteilen“, erläutert Dipl.-Theol. Jens Ried, Mitglied der Nachwuchsforschergruppe.
Die Nachwuchswissenschaftler sehen genau darin aber auch eine Möglichkeit, stigmatisierende Einstellungen zu reduzieren. In einem kürzlich abgeschlossenen Experiment der Nachwuchsforschergruppe mit insgesamt 130 Studenten wurde durch ein computergestütztes Lernmodul über die Entstehung der Adipositas und Stigmatisierung informiert. „Wir konnten feststellen, dass stigmatisierende Einstellungen sich verringern, wenn mehr Wissen über die Adipositas und die verbreiteten Vorurteile vorhanden ist“, berichtet Anja Hilbert. „Wir werden diesen Ansatz weiter verfolgen und verschiedene Strategien zur Reduktion des Adipositasstigmas entwickeln und testen.“
Die bisherige Arbeit und die geplanten Projekte der Nachwuchsforschergruppe haben auch den Geldgeber überzeugt. Das BMBF hat die bisherige Tätigkeit der Nachwuchsforschergruppe vor kurzem begutachtet und wird das erfolgreiche Projekt für weitere zwei Jahre fördern. Die Philipps-Universität finanziert anschließend für drei weitere Jahre die aussichtsreiche Arbeit der jungen Wissenschaftler.
Kontakt:
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ELSA-Nachwuchsforschergruppe „Psychosoziale, ethische und rechtliche Konsequenzen genetischer Befunde bei Adipositas“
Fachbereich Psychologie, Arbeitsgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie,
Gutenbergstraße 18, 35032 Marburg
Tel.: 06421/2823657 (Sekretariat), Fax: 06421/2828904
www.uni-marburg.de/nfg-adipositas -
PD Dr. Anja Hilbert, Tel.: 0 64 21 / 282 37 87, hilbert@staff.uni-marburg.de
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Dipl.-Theol. Jens Ried, Tel.: 0 64 21 / 282 37 88, ried@staff.uni.marburg.de