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15.04.2008

"Leuchtturm geisteswissenschaftlicher Forschung in Hessen“

Der hessische Ministerpräsident Roland Koch hat heute das Marburger Forschungszentrum „Deutscher Sprachatlas“ besucht: „Ich habe hier ein Beispiel dafür gesehen, wie geisteswissenschaftliche Spitzenforschung heute aussehen soll: Diese Forschungseinrichtung gehört aktuell zu den Leuchttürmen geisteswissenschaftlicher Forschung in Hessen“, so Koch.

Prof. Dr. Joachim Herrgen (li.) und Prof. Dr. Jürgen Erich Schmidt zeigen Roland Koch seltene Sprachatlanten.
Im Gespräch mit dem Team des Forschungszentrums informierte sich Koch über den aktuellen Stand: Wie hier ein junges Team nicht nur in der sprachwissenschaftlichen Forschung Exzellenz zeige, sondern gleichzeitig die Studierenden in die Arbeiten einbeziehe und so beispielhaft Forschung und Lehre verbinde, das nötige allen Respekt ab, erklärte Koch. Das Forschungszentrum „Deutscher Sprachatlas“ an der Philipps-Universität Marburg ist das älteste sprachwissenschaftliche Forschungsinstitut der Welt. Gegründet durch den Marburger Sprachwissenschaftler Georg Wenker, werden hier seit über 125 Jahren die Dialekte und Regionalsprachen des Deutschen untersucht. Zuletzt hat das Forschungszentrum dadurch Aufsehen erregt, dass das Marburger Projekt „regionalsprache.de (REDE)“ 2007 in die Förderung des Akademienprogramms aufgenommen worden ist. Das Ziel dieses Projektes, das von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur betreut wird, ist die Erhebung und umfassende Analyse der regionalen Sprachvariation in Deutschland. Dieses Projekt ist mit einer Laufzeit von 19 Jahren und einer Fördersumme von rund 14 Millionen Euro eines der umfangreichsten geisteswissenschaftlichen Forschungsvorhaben überhaupt.

Die Daten, die in diesem Projekt erhoben werden, sollen gemeinsam mit den bisherigen wissenschaftlichen Ergebnissen der Dialektologie in einer interaktiven Forschungsplattform für jedermann im Internet zur Verfügung stehen. Dank ausgefeilter sprachtechnologischer Methoden wird es der Wissenschaft damit erstmals möglich, sprachlichen Wandel online zu dokumentieren und zu analysieren. Auch jenseits der wissenschaftlichen Nutzung stellt REDE eine faszinierende Quelle dar: Sie erlaubt es, die unterschiedlichsten Erscheinungsformen der deutschen Dialekte zu studieren, sei es in Form dynamisch überblendbarer Sprachkarten, sei es anhand von Tonaufnahmen der alten Ortsdialekte oder anhand aktueller Materialien zum modernen Sprachgebrauch. Neben der sprachwissenschaftlichen Grundlagenforschung bietet das Projekt vielfältige Anwendungsmöglichkeiten, zum Beispiel in der Krimi­nalistik oder im Rahmen industrieller Sprachverarbeitungssysteme.

Das Forschungszentrum „Deutscher Sprachatlas“

Das „Forschungszentrum ‚Deutscher Sprachatlas’“ (DSA) ist das älteste sprachwissenschaftliche Forschungsinstitut der Welt (seit 1876). Hier wurde die Sprachgeographie als wissenschaftliche Disziplin begründet. In den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts hatte das Forschungszentrum entscheidenden Anteil an der theoretischen und methodologischen Internationalisierung der deutschen Sprachwissenschaft. In den letzten Jahren konnte der DSA seine Stellung als die zentrale Forschungseinrichtung des gesamten deutschsprachigen Raums für die Wissenschaftsdisziplinen Dialektologie, Variationslinguistik und Regionalsprachen­forschung ausbauen. Die aktuellen methodologisch-technischen Entwicklungen werden allgemein als maßstabsetzend angesehen. Der Versuch, die theoretischen Grundlagen einer neuen sprachwissenschaftlichen Teildisziplin „Sprachdynamik“ zu entwickeln, stößt national und international auf positive Resonanz.

Die Sonderstellung des DSA beruht darauf, dass er für verschiedene Wissenschaftsdis­ziplinen die Forschungsgrundlagen bereitstellt. Waren es in der Vergangenheit die „Sprachrohdaten“, die nur in Marburg zugänglich waren, so ist es heute die singuläre Fähigkeit des DSA, alle in mehr als einem Jahrhundert dezentral und transnational von verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen erhobenen Sprachdaten mit geographischem Bezug in identischer geographischer Projektion und identischer linguistischer Klassifikation aufeinander zu bezie­hen und mit Interpretationsdaten zu korrelieren. Neu eingehende Daten werden laufend inte­griert. Die aufbereiteten Daten werden einerseits der internationalen Wissenschaft zur Verfügung gestellt.

Beim Ministerpräsidenten fand die Vizepräsidentin Prof. Dr. Katharina Krause (re.) ein offenes Ohr für die Pläne zum Campus Firmanei.
Aktuell erforscht hier eine spezialisierte Arbeitsgruppe die Dynamik der Regionalsprache – besonders für das Deutsche. Es ist das Ziel dieses Teams, die Kräfte, die auf die ständig sich wandelnde Sprache im Raum einwirken, theoretisch zu erfassen und praktisch zu beschreiben. Im Zentrum der Arbeit steht aktuell ein Expertensystem, das es möglich macht, den Wandel der gesprochenen Sprache im Raum systematisch zu analysieren, und zwar über ein Jahrhundert hinweg. Die historischen und aktuellen Forschungsergebnisse der Regionalsprachenforschung werden hier online publiziert und mit Ton­dokumenten, bibliographischen, soziodemographischen, topographischen, kulturhistorischen und nicht zuletzt linguistischen Daten verbunden. Es entsteht so ein ein­maliges dialektologisches und variationslinguistisches Informations­system, das international online und interaktiv nutzbar ist.

Das Projekt „regionalsprache.de“

„Verschwinden die Dialekte? Wenn ja: Was tritt an ihre Stelle? Wann haben diese Prozesse angefangen? Wie laufen sie ab?“ In solchen auf den ersten Blick einfachen Fragen, wie sie oft zu hören sind, zeigt sich, dass Beobachtung und Bewertung von sprachlicher Variation und sprachlichem Wandel eine Alltagserfahrung der Menschen ist. Bei genau­erem Hinsehen sind solche Fragen dann aber nicht leicht zu beantworten. Der Grund: Die Dialektologie hat zwar seit fast 200 Jahren die alten Orts­dialekte dokumentiert und analysiert, nicht aber die Prozesse und Ergeb­nisse des Dialektwandels. Der Dialektwandel wurde von den Dialekto­logen meist als „Dialektsterben“ abgetan und nicht untersucht, so dass ein wirkliches Verständnis der Dynamik der deutschen Regionalsprachen unmöglich wurde.

Sicher ist, dass die Dialekte des Deutschen durch den Einfluss der Hochsprache einem massiven Wandel ausgesetzt waren und sind. Die Struktur und Dynamik dieses sprachlichen Wandels jedoch, der aus dem Zusammenwirken der Ortsdialekte mit der überregionalen Hoch­sprache entsteht und der mittlerweile die gesprochene Alltagssprache der meisten Sprachteilnehmer charakterisiert, ist bis heute nicht umfassend beschrieben worden. In diesen neuen Formen regionalen Sprechens, jen­seits der alten Ortsdialekte, liegen jedoch die Strukturen einer neuen Regionalität im Deutsch des 21. Jahrhunderts verborgen. Diese „moder­nen Regionalsprachen“ des Deutschen, die nicht mehr unbedingt dialek­tal, aber ebenso wenig nur hochsprachlich geprägt sind, zeugen von einem gewaltigen Veränderungspotenzial des Gegenwartsdeutschen, das alle Sprecher nachhaltig prägt – und zwar viel mehr als der zurzeit so dominant empfundene Einfluss des Englischen.

Um diese Prozesse angemessen analysieren zu können, planen die Mar­burger Forscher im Verbund mit Kooperationspartnern in Mannheim, Saarbrücken und Trier zunächst eine flächendeckende Spracherhebung. Durch die Analyse von authentischen Situationen der Alltagskommunikation in allen Regionen wird es erstmals möglich sein, die Struktur der Sprachräume des Deutschen in ihrer ganzen Vielfalt und Heterogenität zu bestimmen.

Gleichzeitig wird ein interaktives Online-Informationssystem aufgebaut, das sämtliche Forschungsergebnisse und Datenbestände, die seit dem 19. Jahrhundert erarbeitet wurden, der Öffentlichkeit zugänglich macht. Die Computertechnik erlaubt es, Informationen unterschiedlichster Art (Sprachkarten, Tonaufnahmen, Texte, Literaturquellen, Ergebnisse empi­rischer Erhebungen) und aus verschiedenen Zeitstufen direkt aufeinander zu beziehen. Eine wirkliche wissenschaftliche Analyse der Dynamik der gesprochenen Sprache wird auf diese Weise möglich. Der entscheidende qualitative Gewinn für die sprachwissenschaftliche Forschung besteht in der mehrdimensionalen Analyse, welche die verschiedenen genannten Datentypen zusammen bringt.

Neben der sprachwissenschaftlichen Grundlagenforschung eröffnet das Projekt Möglichkeiten der praktischen Anwendung, die weit über die Grenzen des Fachs hinausreichen. Ein Beispiel ist die Kriminalistik: Durch Optimierung der Sprechererkennung ist es möglich, die Fahndung nach Straftätern zu verbessern. Andere Anwendungsfelder sind der Sprachun­terricht und die Sprachtechnologie. Mit Hilfe der Daten aus REDE wird es beispielsweise möglich sein, Sprachverarbeitungssysteme zu entwickeln, die auch regionale Charakteristika von Sprache erkennen und verarbeiten können.

Das Projekt „regionalsprache.de“ fügt sich nahtlos in die bestehenden sprachwissenschaftlichen Forschungsstrukturen an der Philipps-Universität Marburg ein. Es eröffnet weitreichende Möglichkeiten der interdisziplinären Forschung, etwa auf den Gebieten der theoretischen Linguistik und der Kognitionswissenschaft.

Weitere Informationen:

Forschungszentrum „Deutscher Sprachatlas“
Hermann-Jacobsohn-Weg 3, 35032 Marburg
Telefon: +49 6421 28-22483
E-Mail: dsa@staff.uni-marburg.de , Internet: www.uni-marburg.de/fb09/dsa

Akademie der Wissenschaften und der Literatur
Geschwister-Scholl-Straße 2, D-55131 Mainz
Telefon: +49 6131 577-0, E-Mail: generalsekretariat@adwmainz.de