02.11.2010
„Ich denke mit meinem Ohr, nicht mit meinem Hirn“
Melinda Nadj Abonji beim „SPIEGEL“-Gespräch über die Musikalität und Wirkung von Sprache
In der gut besuchten Aula der Alten Universität in Marburg diskutierten gestern die Buchpreisgewinnerin Melinda Nadj Abonji und die „SPIEGEL“-Redakteurin Claudia Voigt die Frage, „warum wir Romane lesen sollten“. In ihrer Begrüßung hob Universitätspräsidentin Prof. Dr. Katharina Krause hervor, dass die Debatte hervorragend zum Studienschwerpunkt „Literaturvermittlung in den Medien“ der Marburger Germanistik passe. Im Rahmen eines Studierendenprojekts unter Leitung von Dr. Erika Schellenberger-Diederich sei dort gerade ein anderes Beispiel für die Wirkungsmacht von Literatur entstanden: die Anthologie „Mein Lieblingsgedicht. Prominente antworten. Von Elke Heidenreich bis Richard von Weizsäcker“.
Die 42jährige Literatin, Slam-Poetin und Musikerin Melinda Nadj Abonji las aus ihrem Roman „Tauben fliegen auf“, das vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels mit dem diesjährigen Buchpreis ausgezeichnet wurde, und gab bereitwillig Auskunft über ihre Arbeit. Prägend für ihren Umgang mit Sprache sei ihre enge Beziehung zur Musik gewesen, antwortete die Autorin auf die Frage der SPIEGEL-Redakteurin nach dem Ursprung ihrer „weit ausschwingenden, rhythmisierten Sätze“. Sie versuche, sich der musikalischen Zeichensetzung sprachlich anzunähern, wozu das Deutsche mit seinen mannigfaltigen Verwendungsmöglichkeiten von Punkten und Kommata ein reiches Potential biete. „Ich denke mit meinem Ohr, nicht mit meinem Hirn“, erklärte Melinda Nadj Abonji. Sie versuche, zuerst Erfahrungen zuzulassen, ihrer Musikalität nachzuspüren, bevor sie mit dem Kopf darauf reagiere, und diese dann sprachlich nachzuvollziehen.
Für die Tochter von Immigranten, die der ungarischen Minderheit in der serbischen Region Vojvodina entstammen, war die erste Erfahrung in der neuen Schweizer Heimat die der Sprachlosigkeit: „Meine Pflegefamilie sprach nur Schweizerdeutsch, ich sprach nur Ungarisch“. Für die pausenlos arbeitenden Eltern, die schlecht ausgebildet, aber voller Hoffnung auf ein besseres Leben emigriert waren, fungierten die Kinder lange Zeit als Übersetzer, erzählte die Autorin. Obwohl ihnen selbst „für Integration schlicht die Zeit fehlte“, setzten die Eltern auf Bildung für die Kinder und den Erwerb von Deutschkenntnissen für sich selbst.
Ihre Kindheitserfahrungen mit Kulturschock und Sprachlosigkeit weckten aber auch eine ungeheure Lust am Experiment und Spiel mit der Sprache, berichtete die Schriftstellerin weiter. Ihr eher intuitiver Schreibstil versuche mehr der inneren Stimme zu folgen als vorher Struktur und Figuren festzulegen. „Mein Studium der Geschichte und Literaturwissenschaft möchte ich aber keinesfalls missen“, betonte Nadj Abonji. Denn insbesondere ihr Dozent Herbert Gamper an der Universität Zürich habe sie gelehrt, Texte „wirklich und sehr sorgfältig“ zu lesen, so dass man erkenne, wenn am eigenen Text etwas nicht stimme. Rund 160 Romanseiten habe sie daher umgeschrieben, als sie gemerkt habe, dass in einer Art Selbstschutzmechanismus der Ton zu ironisch-distanziert geraten war: „Die Verletzlichkeit des Textes ist wichtig, um die Menschen zu berühren“.
Biographie grundiere ihren Roman, versicherte Nadj Abonji auf Nachfrage, er sei aber weder Autobiographie noch Geschichtsschreibung: „Das Leben lässt sich nicht abschreiben“. Doch habe sie sich schreibenderweise Dinge angeeignet, die sie nicht erlebt habe und so eine fiktive Variante der Wahrheit geschaffen.
Der Roman "Tauben fliegen auf" wurde auf der Frankfurter Buchmesse vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels kürzlich als der beste deutschsprachige Roman des Jahres 2010 ausgezeichnet. Aus der Sicht einer jungen Frau erzählt Melinda Nadj Abonji von einer Familie, die aus Serbien in die Schweiz zieht, sich dort eine Gastronomenexistenz aufbaut und am Vorabend der jugoslawischen Kriege in die alte Heimat reist. "So gibt das Buch 'Tauben fliegen auf' das vertiefte Bild eines gegenwärtigen Europas im Aufbruch, das mit seiner Vergangenheit noch lang nicht abgeschlossen hat", bekundete die Buchpreis-Jury.
Seit dem Sommersemester 2007 diskutieren SPIEGEL-Redakteure an zahlreichen deutschen Hochschulen mit prominenten Gästen. So sprach Claus Peymann im Mai 2007 an der Philipps-Universität Marburg über "Theater und politisches Engagement".