16.05.2012
„Sind 25.000 Promotionen im Jahr zu viel?“
Im Rahmen des zweiten Hochschulpolitischen Forums der Philipps-Universität haben Mitglieder der Universität gestern in der Aula der Alten Universität mit dem Präsidenten der Humboldt-Universität Berlin, Professor Dr. Jan-Hendrik Olbertz über das Wissenschaftssystem in Zeiten von „Fachkräftemangel“ und „Prekarisierung“ diskutiert.
Diese Schlagworte aus aktuellen hochschulpolitischen Debatten kennzeichnen zwei Herausforderungen, denen sich die Universitäten derzeit unter anderem stellen müssen: Erstens der Bedarf des Arbeitsmarktes, wenn nicht der Gesellschaft, nach Hochqualifizierten und zweitens der Wunsch des Wissenschaftlichen Nachwuchses nach Karriereperspektiven und Verbleib in der Wissenschaft.
In ihrer Begrüßung unterstrich die Präsidentin der Philipps-Universität, Professorin Dr. Katharina Krause, das lang anhaltende dezidierte Interesse der Philipps-Universität an der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, für den 2005 das Graduiertenzentrum für Geistes- und Sozialwissenschaften als unterstützende Organisation gegründet wurde. „Das ganze Spannungsfeld, in dem das Promovieren zwischen Forschungstätigkeit, Betreuungsverhältnis und übergreifenden Qualifizierungsangeboten steht, tat sich damals auf und es besteht weiter fort trotz unbestreitbaren Erfolgs dieser Einrichtung, des parallel arbeitenden Graduiertenzentrums für Lebens- und Naturwissenschaften und der Förderangebote unter dem Dach von MARA, der Marburg University Research Academy,“ führte die Präsidentin aus. Gleichzeitig stelle sich aber auch die kritische Frage, ob die Förderung von Promotionen in Graduiertenschulen der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Exzellenzinitiative als das uneingeschränkte Erfolgsmodell zu sehen sei, als das es oft im politischen Raum präsentiert werde.
„Diese Exzellenzwettbewerbe drehen sich nicht um die besten Ideen, sondern um Geld“, ergänzte der Präsident der Humboldt-Universität Berlin und ehemalige Kultusminister Sachsen-Anhalts, Professor Dr. Jan-Hendrik Olbertz, in seinem Impulsvortrag. Dies wirke sich insbesondere auf den hochqualifizierten wissenschaftlichen Nachwuchs aus, der nach Ablauf der Projektförderung nicht weiterfinanziert werden könne, weil eine Fortsetzung die Hochschulen finanziell überfordern würde.
In der von der Bildungsjournalistin Britta Mersch moderierten Podiumsdiskussion wies Ortrun Brand, Doktorandin am interdisziplinären Graduiertenkolleg "Geschlechterverhältnisse im Spannungsfeld von Arbeit, Organisation und Demokratie", darauf hin, dass wissenschaftliche Innovation und damit der Beitrag zum Wettbewerb der Ideen häufig nicht von arrivierten Professoren, sondern dem Mittelbau käme. „Gerade dieser ist besonders von unsicheren Beschäftigungsverhältnissen betroffen; rund 70 Prozent der Stellen sind befristet“, erklärte die Politikwissenschaftlerin Professorin Dr. Ursula Birsl. „Problematisch ist vor allem die Situation der Nachwuchsforscher auf wissenschaftlichen Hilfskraftstellen, die in Hessen nicht in die Zuständigkeit der Personalvertretungen fallen und häufig noch unterhalb der Armutsgrenze entlohnt werden“, legte Brand dar. Sie wertete die Tatsache, dass statistisch gesehen zwei Drittel der Promotionsarbeiten nicht zum erfolgreichen Abschluss kämen, auch als Hinweis darauf, dass unter Umständen die Arbeitsbedingungen im Argen lägen.
Krause unterstrich die Bedeutung von realistischen Vertragslaufzeiten bezogen auf den Umfang des jeweiligen Promotionsprojekts sowie die Eröffnung von beruflichen Perspektiven. Möglicherweise werde unter betriebs- und volkswirtschaftlicher Perspektive in Deutschland zuviel promoviert, räumte sie ein, da einerseits Promovierte häufig keine adäquate Beschäftigung fänden und es andererseits aus Sicht des gültigen Systems der Hochschulfinanzierung lohnender sei, die Zahl der Studienplätze zu erhöhen. „Damit einher ginge aber eine Veränderung der Personalstruktur in Richtung Hochdeputatstellen, was aus der Perspektive der Forschung und einer an Aspekten aktueller Forschung orientierten Lehre nicht sinnvoll wäre“, warnte die Präsidentin.
Olbertz sprach sich trotz der Abhängigkeit der Hochschulen vom rein zahlenorientierten Erfolgsbudget für einen Kulturwandel aus: Professorinnen und Professoren sollten nach Qualität und Betreuungsgüte bei Promotionen gemessen werden, nicht an der reinen Anzahl von Promotionen, die an ihrem Institut entstünden, postulierte er. Unerlässlich sei auch Transparenz in allen das Promotionsverfahren betreffenden Fragen, forderte Krause: „Betreuungsvereinbarungen sollten nicht nur in strukturierten Promotionsprogrammen, sondern flächendeckend Usus sein, weil sie die gegenseitige Verbindlichkeit von Betreuern und Promovierenden erhöhen.“ Dazu gehöre gegebenenfalls auch die gemeinsame, rechtzeitige Erörterung eines „Plan B“ für eine Karriere außerhalb der Hochschule, erläuterte der Chemiker Professor Dr. Paultheo von Zezschwitz.
Birsl ergänzte: „Gleichzeitig schaffen fachliche Netzwerke ganz eigene Dynamiken des Sich-Ausprobierens im Forscherumfeld; wir setzen sehr stark auf Selbstorganisation statt Verschulung.“ Beispielhaft seien „Promotionsfreisemester“ ohne Lehrbelastung in Spitzenzeiten der Projektarbeit, wie sie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie möglich seien, und ein gemeinsames Hinwirken auf frühe selbständige Forschung. „Wir müssen unsere jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler pfleglich behandeln und so fördern, dass sie beizeiten Fuß fassen in der Universität. Sonst lassen wir ein Potential verwahrlosen, ohne das die Hochschulen nicht handlungsfähig wären“, fasste Olbertz zusammen. Auf der Wunschliste der Doktorandin Brand standen dazu eine gezielt geförderte, vielfältigere soziale Zusammensetzung der Promovierenden, geregelte Beschäftigungsverhältnisse und Leitlinien für Lehraufträge sowie eine systematische Erhebung zu den Promotionsbedingungen als Voraussetzung für Qualitätsmanagement.
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