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31.10.2014

Wie das Blei der Philologie in das Gold der Dichtung verwandelt wird

Ruth Klüger erhält den Brüder Grimm-Preis 2014

Ruth Klüger, Trägerin des Brüder Grimm-Preises 2014 der Philipps-Universität Marburg (Foto: Pressestelle der Philipps-Universität/Markus Farnung)
Uni-Präsidentin Prof. Dr. Katharina Krause (rechts) gratuliert der Grimm-Preisträgerin 2014, Prof. Dr. Ruth Klüger (Foto: Pressestelle der Philipps-Universität/Markus Farnung).
Ministerialrat Reinhard Schinke (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst), Laudator Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Detering, Grimm-Preisträgerin Prof. Dr. Ruth Klüger, Universitätspräsidentin Prof. Dr. Katharina Krause, Jurymitglied Prof. Dr. Karl Braun (Foto: Pressestelle der Philipps-Universität/Markus Farnung).

Am 31. Oktober 2014 hat die Germanistin und Autorin Professorin Dr. Ruth Klüger den Brüder Grimm-Preis der Philipps-Universität aus den Händen von Universitätspräsidentin Professorin Dr. Katharina Krause entgegengenommen. „In Anknüpfung an das germanistische Werk der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm würdigt die Philipps-Universität Ruth Klüger als herausragende Literaturwissenschaftlerin“, sagte Krause anlässlich der Preisverleihung in der vollbesetzten Aula der Alten Universität. „Die Dichte und Konzentriertheit ihrer wissenschaftlichen Arbeit sowie die hohe literarische Qualität ihrer essayistischen und autobiographischen Schriften lässt sie zu einer der gegenwärtig bedeutendsten Intellektuellen deutscher Sprache zählen,“ führte die Präsidentin aus.

Der fachübergreifende Vorschlag der Jury, Ruth Klüger den Preis zu verleihen, hebt ihren Forschungsschwerpunkt in der Epoche der Brüder Grimm hervor. Ihr besonderes Augenmerk auf die Literaturproduktion und -rezeption von Frauen sowie auf antisemitische Tendenzen innerhalb der deutschen Literatur, verliehen ihrer literaturwissenschaftlichen Arbeit eine weithin sichtbare und innovative Position, begründete die Jury.

Nach einem Grußwort von Ministerialrat Reinhard Schinke vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst beschrieb Prof. Dr. Karl Braun vom Marburger Institut für Europäische Ethnologie Klügers Werdegang. 1931 in Wien geboren, zählt Ruth Klüger zu den bekanntesten Germanistinnen in den USA. Sie lehrte Germanistik an der University of Virginia in Princeton sowie an der University of California in Irvine und war Herausgeberin der Literaturzeitschrift German Quarterly. Zugleich hat sie sich als Schriftstellerin einen Namen gemacht: Ihre 1992 erschienene Biographie „weiter leben“, in der sie ihre Kindheit und Jugend in Wien und in den Lagern Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt beschreibt, zählt zu den prominentesten und anerkanntesten Werken der „Zeugen-Literatur“ des Genozids am europäischen Judentum und wurde in zehn Sprachen übersetzt. Sie ist vielfach mit Preisen geehrt und ausgezeichnet worden, unter anderem 2008 mit der Hermann-Cohen-Medaille und dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. „Ruth Klüger schreibt leidenschaftliche Texte“, sagte Braun.

Eindrücklich beschrieb Braun den „Terror verletzender Ausgrenzung im Umfeld Grimmscher Märchen“, den die damals achtjährige Klüger in einem Kino im Wien der späten 1930er erlebte, zu dem ihr als Jüdin der Zutritt eigentlich verboten war: während der ganzen Vorstellung von „Schneewittchen“ fürchtete sie entdeckt zu werden. „Das Märchen von Schneewittchen lässt sich auf die Frage reduzieren, wer im Königsschloss etwas zu suchen hat und wer nicht“, zitierte Braun die Autorin. Diese Erfahrung, wer im Königsschloss oder im Kino etwas zu suchen habe und wer nicht,  präge ihren Blick auf die Literatur.

Prof. Dr. Dr. h. c. Heinrich Detering charakterisierte in seiner Laudatio die „Wörterlust und Zauberkunst“, die das Schaffen der Preisträgerin bestimmten und mit deren Hilfe sie ihre Fachkollegen, Zuhörer und Leser gleichermaßen regelrecht verhexe. „Ruth Klüger hat einen Rang inne in der internationalen Germanistik als Forscherin und Lehrerin, als charismatische und streitbare Vermittlerin deutscher Literatur“, erklärte er. Zum Widerspruch zu reizen sei das Motto ihres akademischen Alltags: „Ihre Streitlust ist Einladung zur Erwiderung – ich spreche da aus Erfahrung“, sagte er. Ihr wissenschaftliches Werk sei eng verknüpft mit ihrem literarischen Schaffen. Er bescheinigte ihr Selbstironie, Beobachtungsschärfe und Witz statt Larmoyanz in der Schilderung ihrer persönlichen Erfahrungen. Ihre autobiographischen Texte seien zugleich Essays mit politisch-gesellschaftlichen Dimensionen.

Ruth Klüger brachte ihre Freude darüber zum Ausdruck, als Germanistin einen Preis in Empfang zu nehmen, der im Namen der großen Rollenmodelle ihres Berufes gestiftet worden sei: „Über die Brüder Grimm lässt sich so viel Gutes sagen, wie kaum über andere deutsche Philologen, sowohl über ihren Charakter und ihre politische Standhaftigkeit als auch über ihre wissenschaftliche Leistung.“ Sie nannte das Zuhören eine der bewundernswerten Eigenschaften der Brüder und die Vorbedingung ihres Erfolgs.  „Das ist nicht so selbstverständlich, wie es klingt, denn sie waren Professoren, die von Beruf aus Zuhörer hatten, nicht Zuhörer waren.  Und nun schon gar, Frauen ernst genug zu nehmen, um das was diese erzählten, fleißig aufzuschreiben!“, beschrieb Klüger. In ihrem Vortrag „Grimms Märchen als Frauenliteratur“ widmete sich die Preisträgerin vornehmlich den so genannten Mädchenmärchen, die für ein weibliches Publikum erzählt worden seien und oft um das Thema Pubertät kreisten.

In ihrer Rede nannte Klüger Wilhelm und Jacob Grimm – „Wissenschaftler und Zauberer zugleich“ – „die Alchemisten der Germanistik“, die das Blei der Philologie in das Gold der Dichtung verwandelt hätten. „Die Volksmärchen gehen die Ängste und Wünsche der Kinder mit einer Direktheit an, die sich oft über die die landläufige Moral und Pädagogik hinwegsetzt, dann aber nach Umwegen sucht – und zwar lustige, traurige, oft gruselige -, um die angedeuteten Konflikte verdaulich zu machen in einem für das kindliche Verstehen beschränkten Raum.“ Zwar gebe es Grenzen dessen, was man Kindern zumuten könne, doch gleichzeitig wollten und sollten sie wissen, was auf sie zukomme. „In den Mädchenmärchen gehört dazu öfters die spielerische Entmachtung des männlichen und Ermächtigung des weiblichen Geschlechts. Den Märchen gelingt es, uralte mythische Konstellationen mit dem Alltag zu verbinden und beides, Alltag und Mythos, so zu veranschaulichen und zu verharmlosen, dass sie für Kinder zugänglich werden“, schloss Klüger.

Mit dem Brüder Grimm-Preis würdigt die Philipps-Universität Marburg alle zwei Jahre hervorragende Leistungen auf den Forschungsgebieten der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, insbesondere den Sprach- und Literaturwissenschaften, der Volkskunde / Europäischen Ethnologie, der Rechtsgeschichte und der Geschichtswissenschaft. Die Auszeichnung ist mit einer Medaille und 5.000 Euro Preisgeld verbunden.

Weitere Informationen:

Rede der Preisträgerin

Laudatio von Prof. Dr. Karl Braun

Laudatio von Prof. Dr. Heinrich Detering

Brüder Grimm-Preis im Internet:
www.uni-marburg.de/forschung/forschungsprofil/preistraeger/ausz-grimm

Kontakt

Prof. Dr. Karl Braun
Institut für Europäische Ethnologie

Tel.: 06421/28-24923
E-Mail