30.11.2015
Elektronen im Quanteninformationskarussell
Physiker aus Marburg und Regensburg finden neuen Ansatz für die Quanteninformationsverarbeitung
In einem Magnetfeld verhalten sich Elektronen eines Halbleiters anders als erwartet, wenn man ihre Bewegungen mit einem starken Lichtfeld im Terahertz-Spektralbereich antreibt. Das haben Physiker der Universitäten Regensburg und Marburg beobachtet; sie widerlegten damit theoretische Überlegungen, die seit 50 Jahren Bestand hatten. Die Forscher veröffentlichten ihre Entdeckung jetzt in der renommierten Fachzeitschrift „Nature Physics“. Die Ergebnisse legen die Grundlage für magnetische Quantenbits und liefern somit einen neuen Ansatz für Fortschritte in der Quanteninformationsverarbeitung sowie für die künftige Entwicklung eines Quantencomputers.
Die Informationsverarbeitung in Computern beruht auf der gezielten Steuerung elektrischer Ströme auf mittlerweile extrem kurzen Zeitskalen von Bruchteilen von Nanosekunden. Die Schaltvorgänge innerhalb eines Chips werden dabei jedoch nur durch den Transport von Elektronen erreicht, ohne besonderen Nutzen aus deren quantenmechanischer Wellennatur zu ziehen. Könnte diese Eigenschaft gezielt ausgenutzt werden, würde ein großer Traum vieler Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler in greifbare Nähe rücken: der Quantencomputer. Mit ihm könnten kryptographische und naturwissenschaftliche Fragestellungen, die aus heutiger Sicht noch unlösbar scheinen, in kürzester Zeit beantwortet werden.
Den Herausforderungen der Quanteninformationsverarbeitung haben sich weltweit schon viele Forscherteams gestellt, sodass inzwischen zahlreiche Konzepte zur Implementierung der sogenannten Qubits existieren, die das quantenmechanische Äquivalent zum konventionellen Bit darstellen. Qubits lassen sich durch Quantensysteme umsetzen, die typischerweise extrem fragiler Natur sind. Dementsprechend erfordern nahezu alle Ansätze eine aufwändige Strukturierung von komplexen Nanomaterialien sowie kryogene Kühlung auf wenige Grad über dem absoluten Temperaturnullpunkt, damit thermische Einflüsse die empfindliche Wellenfunktion des Qubits nicht zerstören.
Ein Team um Professor Dr. Stephan Koch und Professor Dr. Mackillo Kira von der Arbeitsgruppe Theoretische Halbleiterphysik der Philipps-Universität sowie Dr. Christoph Lange und Professor Dr. Rupert Huber vom Institut für Experimentelle und Angewandte Physik der Universität Regensburg haben nun in einem nanometerdünnen Halbleitersystem eine neue Klasse von Wechselwirkungen nachgewiesen, die sich für Qubits in einfachen Strukturen nutzen ließen – und dies potenziell bei Zimmertemperatur. Dazu legten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein starkes Magnetfeld an die Halbleiterprobe an, in der dann alle Elektronen ähnlich wie in einem Karussell eine Kreisbewegung um die Magnetfeldachse vollführen.
Gemäß dem in den 1960er Jahren entwickelten und nach seinem Erfinder benannten Kohn-Theorem sollte die Wellenfunktion dieser sogenannten Landau-Elektronen zwar sehr robust gegen äußere Störungen sein und sich daher für Qubits wenig eignen. Mittels starker elektromagnetischer Impulse im Terahertz-Spektralbereich gelang es den Forschern jedoch, dieses Quantenkarussell auf kürzester Zeitskala so stark aufzuschaukeln, dass die Elektronen mit dem Kristallgitter wechselwirken und dabei eine starke Taumelbewegung vollführen.
Die resultierende nichtlineare Abweichung von der idealen Kreisbahn erlaubt es, Quanteninformationen innerhalb von wenigen Femtosekunden (1 Femtosekunde = 10 ‑15 s) gezielt zu lesen und zu schreiben, also weit mehr als 1.000 Mal schneller als in einem konventionellen Computer. Liegt kein Schreib- oder Leseimpuls an, sorgt das Kohn-Theorem hingegen weiterhin dafür, dass die Quanteninformation sehr lange erhalten bleibt. Zu diesem experimentellen Ergebnis steuerten die theoretischen Physiker aus Marburg eine vollständige Quantentheorie bei, die auf aufwendigen numerischen Simulationen basiert und nicht nur die bereits gemessenen Daten vollständig erklärt, sondern auch Voraussagen für zukünftige Materialsysteme erlaubt.
Die Forscher prüfen derzeit, wie sich die ideale Kombination von effizientem Quantenschalter und robustem Quantenspeicher auf andere Materialsysteme wie Graphen übertragen lässt, wodurch sich das Konzept auch bei Raumtemperatur ausnutzen ließe. Zudem laufen bereits analoge Experimente zur Quantenoptik, in denen künstlich geschaffene Quasiteilchen – halb Licht, halb Materie – mit noch stärkeren Nichtlinearitäten aufwarten. Aus Sicht der Wissenschaftler ist mit den vorliegenden Ergebnissen der Grundstein für magnetische Quantenbits gelegt, womit sich ein breites und neuartiges Forschungsfeld für die Quanteninformationsverarbeitung öffnet.
Die Professoren Dr. Stephan Koch und Dr. Mackillo Kira lehren Theoretische Halbleiterphysik an der Philipps-Universität. Die aktuelle Veröffentlichung wurde unter anderem von der Alexander-von-Humboldt-Stidtung sowie von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) durch deren Sonderforschungsbereich (SFB) 1083 an der Philipps-Universität finanziell gefördert. Der SFB vereint mehr als 60 Forscherinnen und Forscher aus Chemie und Physik, die Grenzflächen an einer Vielzahl anorganischer und organischer Festkörper untersuchen, um anhand ihrer Modellsysteme zu einem detaillierten Verständnis der chemischen Bindung, der elektronischen Kopplung und der Energieübertragung zu gelangen. (Pressetext: Alexander Schlaak, Pressestelle der Universität Regensburg)
Originalpublikation:
T. Maag & al.: Coherent
cyclotron motion beyond Kohn’s theorem, Nature Physics 2015,
doi: 10.1038/nphys3559
Weitere Informationen:
Ansprechpartner: Professor Dr. Mackillo Kira,
Fachgebiet Theoretische Halbleiterphysik
Tel.: 06421 28-2
4222
E-Mail:
Mackillo.Kira@physik.uni-marburg.de
Homepage:
http://www.uni-marburg.de/fb13/forschung/theoretische-halbleiterphysik
Pressemitteilung zur Theorie der quantenoptischen Spektroskopie:
http://www.uni-marburg.de/aktuelles/news/2011/0918a
Pressemitteilung zum SFB 1083: http://www.uni-marburg.de/aktuelles/news/2013b/