17.03.2016
Zu viel Medizin oder zu wenig – was ist das richtige Maß?
10. Tag der Allgemeinmedizin an der Universität Marburg mit 200 Teilnehmern
Anspruch und Wirklichkeit in der medizinischen Versorgung
David Klemperer ist in Deutschland einer der prominentesten Sprecher für das Thema medizinische Überversorgung. Gleich zu Beginn seines Vortrags stellte er klar: „Ich liebe die Medizin und bin fasziniert davon, was wir heute tun können und welche Probleme wir nicht mehr haben, beispielsweise durch die Erfindung des Penicillins.“ Ärzt/innen in Deutschland hätten einen hohen Anspruch, dem Patientenwohl zu dienen, sagte Klemperer. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus? Ein Blick auf die Fakten werfe Fragen auf. In Deutschland wird immer häufiger operiert – im Jahr 2013 gab es laut Statistischem Bundesamt 15,8 Millionen chirurgische Eingriffe, im Jahr 2005 waren es noch ein Drittel weniger. Dabei ist die regionale Verteilung sehr unterschiedlich. Beispiel Mandelentfernung: Von zehntausend Kindern und Jugendlichen wurden 2010 bis 2012 je nach Region in Deutschland zwischen 13 und 107 operiert. Das ergab eine 2015 erschienene Studie der Bertelsmann-Stiftung. Wie kommt es zu den regionalen Versorgungsunterschieden? Die Studie nennt als einen Grund die Größe der HNO-Belegabteilungen in Kliniken. Je größer sie sind, desto mehr Mandeloperationen werden durchgeführt. „Dabei ist bis heute nicht belegt, was der Nutzen einer Mandeloperation für den Patienten ist“, erklärt Klemperer.
Auch andere Behandlungen seien überflüssig, beispielsweise würden bei stabilen koronaren Herzerkrankungen oft Stents (Gefäßprothesen) gesetzt, obwohl nachgewiesen sei, dass sie keinen Vorteil gegenüber einer medikamentösen Behandlung bringen. Klemperer betonte, es sei ein großer Verdienst von Prof. Donner-Banzhoff, dass er die Entwicklung einer Entscheidungshilfe zum Einsatz von Stents vorangebracht habe. Diese ist inzwischen in die nationalen Leitlinien zur Versorgung von koronaren Herzkrankheiten eingegangen.
Klemperer problematisierte auch die Gabe von Chemotherapien in Fällen, in denen nur eine geringe Lebenszeitverlängerung zu erwarten sei. „Patienten entscheiden sich oft ohne ausreichende Informationen für eine Chemotherapie“, sagte Klemperer. Als weitere Beispiele für Überversorgung nannte Klemperer den Einsatz bildgebender Diagnoseverfahren bei akuten unspezifischen Rückenschmerzen. „Es werden zu schnell zu viele Bilder gemacht und es gibt zu wenig psychosoziale Diagnostik.“
Aufwertung der sprechenden Medizin
Als Barriere für gute Medizin nannte Klemperer das Fallpauschalensystem: „Damit wurde bislang kein Geld gespart, aber die Zahl unnötiger Leistungen ist explodiert.“ Klemperer kritisierte das schnelle, intuitive Denken in der Medizin. Dies sei zwar Ausdruck des professionellen Engagements der Ärzte, bringe aber nicht die erwartete Wirkung. Häufig gebe es auch eine paternalistische Haltung gegenüber Patienten. Ärzte gingen davon aus, dass sie wüssten, was die Patienten denken.
Klemperer plädierte für eine neue Kultur und betonte die Bedeutung der sprechenden Medizin: Arzt und Patient sollen sich als Partner verstehen und gemeinsam über die Behandlung entscheiden. Aufgabe des Arztes sei es, Behandlungsoptionen, ihren tatsächlichen Nutzen, ihre Risiken und Auswirkungen genau zu erklären und in Ruhe mit dem Patienten zu erörtern. Für die Entscheidung sei wichtig, dass die Wirksamkeit einer Behandlung empirisch belegt sei: „Die Gespräche über Optionen müssen auf der Basis evidenzbasierter Informationen geführt werden“, forderte Klemperer.
„Diese neue Kultur, in der Arzt und Patient gemeinsam über eine Behandlung entscheiden, ist nicht älter als 20 Jahre“, sagte Klemperer, der sich seit 1989 mit dem Thema Über- und Unterversorgung befasst. Er blickt optimistisch in die Zukunft: „Es hat sich schon viel getan, immer mehr Menschen sind sich der Probleme in der medizinischen Versorgung bewusst und arbeiten an Lösungen. Die Medizin wird nicht so bleiben wie sie ist, das ist für mich klar.“
In der anschließenden Diskussion berichteten Hausärzt/innen von Erfahrungen bei der Entscheidungsfindung. In der Praxis gäbe es bisweilen Krankheitsbilder, bei denen es schwierig sei, einen Rat zu geben, weil die Effekte von Behandlungen unzureichend belegt seien. Klemperer wies darauf hin, dass das Zweitmeinungsverfahren in vielen Fällen hilfreich sei, beispielsweise bei der Entscheidung für oder gegen eine Operation. Für den Bereich der Herz- und Gefäßerkrankungen stehe mit „arriba“ ein Instrument zur Verfügung, mit dem sich die Wirkung von Therapien darstellen lasse, ergänzte Prof. Dr. Erika Baum, Leiterin der Abteilung Allgemeinmedizin an der Philipps-Universität.
Umfangreiches Workshop-Angebot
Zum Tag der Allgemeinmedizin, den die Abteilung Allgemeinmedizin des Fachbereichs Medizin der Philipps-Universität Marburg in diesem Jahr zum zehnten Mal veranstaltete, kamen 200 Hausärzt/innen und Praxismitarbeiter/innen aus Nord- und Mittelhessen sowie angrenzenden Regionen. Über den Hauptvortrag von Prof. Klemperer hinaus hatten die Teilnehmer/innen die Möglichkeit, sich in 30 Workshops zu aktuellen Themen der Allgemeinmedizin weiterzubilden. Dazu gehörten unter anderem Workshops zu interkultureller Kompetenz in der Hausarztpraxis, die Versorgung von Parkinson-Patienten, Behandlung von Sportverletzungen, Notfalltrainings sowie Tipps für die Patientenkommunikation und Praxisorganisation.
Kontakt
Prof. Dr. Erika Baum, Abteilung Allgemeinmedizin, Präventive und Rehabilitative Medizin, Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg
Tel.:
06421/28-65120
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