08.03.2016
Depression: Psychopharmaka sind nicht für jeden die beste Behandlungsoption
Forscherteam analysierte Medikamenten-Studien
Behandlungen mit Psychopharmaka können nur dann ihr volles Potenzial entfalten, wenn zusammen mit der Behandlung auch die Umwelt und das Verhalten der Patienten stimuliert werden. Zu diesem Schluss kommt ein interdisziplinäres Forschungsteam aus klinischen Psychologen, Psychobiologen, Neurowissenschaftlern und Psychiatern. In einer Zusammenschau von über 150 Arbeiten analysierten die Wissenschaftler Erkenntnisse aus Placebostudien, Untersuchungen zur Neuroplastizität und Tierstudien. Die Ergebnisse erscheinen demnächst in der Druck-Ausgabe der Fachzeitschrift „Neuroscience and Biobehavioral Reviews“.
Psychopharmaka lindern die Symptome bei Störungen wie Depression oder Schizophrenie häufig, aber sie tun es nicht immer. Es gibt immer stärkere Hinweise darauf, dass es eine Reihe von Umgebungsbedingungen gibt, die die Wirksamkeit günstig beeinflussen. So zeigen Studien zur Wirkung von Psychopharmaka, dass Placebo-Reaktionen oft sehr hoch sind, manchmal wirken sie ebenso gut wie Medikamente. Detailliertere Analysen der Placebo-Reaktion zeigen, dass die Erwartungen der Patienten an die Behandlung, ihre bisherigen Erfahrungen mit dem Medikament und die therapeutische Beziehung wichtige Umgebungsbedingungen sind, die einen Einfluss auf die Wirkung haben.
Der Mensch ist einer sich ständig ändernden Umwelt ausgesetzt. Das verlangt eine hohe Anpassungsfähigkeit, die bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt ist. Grundvoraussetzung für die Anpassungsleistung ist die Fähigkeit des Gehirns, sich kontinuierlich durch neue Reize zu verändern, also zu lernen. Diese Fähigkeit wird als Neuroplastizität bezeichnet. Hohe Neuroplastizität ist eine wichtige Voraussetzung für psychische Gesundheit. Aus der bisherigen Forschung vermutet man, dass eine verminderte Neuroplastizität dazu beiträgt, dass psychische Störungen wie zum Beispiel Depressionen entstehen beziehungsweise chronifizieren.
Tierstudien zeigen, dass Antidepressiva an diesem Punkt ansetzen und Veränderungen der Plastizität anregen. Der Netzwerkhypothese zufolge ist das Gehirn in der Zeit der Umstrukturierung besonders empfänglich für alle Reize und Erfahrungen, die aus der Umwelt kommen. Diese Reize können sowohl die Richtung als auch die Höhe der Plastizität beeinflussen. In den meisten psychopharmakologischen Studien wurde dem Kontexteffekt bislang wenig Beachtung geschenkt.
In neueren Tierstudien konnte die Umwelt jedoch so kontrolliert werden, dass Behandlungsverläufe mit Psychopharmaka auf unterschiedliche Umwelteinflüsse zurückgeführt werden können. Die Ergebnisse zeigen: Positive, angereicherte Umwelten, (wie zum Beispiel viele soziale Kontakte zu Artgenossen), verbesserten den Behandlungsverlauf erheblich. Schädliche Umwelten hingegen (wie zum Beispiel eine karge Gestaltung der Umgebung, wenig soziale Kontakte) verschlechterten den Behandlungsverlauf ernstlich. „Dies bedeutet, dass ungünstige Umgebungseinflüsse die Medikamentenwirkung nicht nur abschwächen, sondern das Medikament sogar zur schädlichen Droge machen können“, sagt Winfried Rief. „Keine medikamentöse Behandlung wäre hier die bessere Alternative.“
„Unsere Zusammenschau einschlägiger Studien zeigt, dass Psychopharmaka nicht für jeden Betroffenen die Therapie erster Wahl sind“, sagt Winfried Rief. „Für manche Patienten wäre es nach einer gründlichen Kosten-Nutzen-Abwägung besser, wenn sie eine Placebo-Medikation oder eine aktiv-abwartende Begleitung, das „watchful waiting“, erhielten. Gerade bei nur mittelschwer Ersterkrankten oder bei wenig unterstützenden Umgebungsbedingungen sollte die Entscheidung zur medikamentösen Behandlung zurückhaltender getroffen werden. Der Einsatz von Antidepressiva macht nur Sinn, wenn man begleitend schaut, dass positive Umgebungseinflüsse den Heilungsprozess unterstützen. Das kann beispielsweise durch eine Psychotherapie gefördert werden“, sagt Winfried Rief.
Durch die begleitende
psychotherapeutische Behandlung sollte sowohl eine störungsspezifische
Therapie erfolgen, als auch weitere Interventionen zur Stimulation
allgemeiner Verhaltens- und Umweltbedingungen, die die Sozialkontakte
verbessern die körperliche Aktivität steigern. Auch bekannte
Placebo-Mechanismen können in positiver Weise den Heilungsverlauf
unterstützen. So erlaubt eine positive therapeutische Beziehung,
positive Erwartungen an den Ausgang der Therapie zu entwickeln und
eventuelle Befürchtungen und Ängste zu entkräften.
(Pressetext:
Dr. Anne Klostermann,
Deutsche Gesellschaft für
Psychologie)
Originalpublikation:
Winfried
Rief & al.: Rethinking
psychopharmacotherapy: The role of treatment context and brain
plasticity in antidepressant and antipsychotic interventions.
Neuroscience and Biobehavioral Reviews,
60/2016, 51-64, DOI:
www.dx.doi.org/10.1016/j.neubiorev.2015.11.008
Weitere Informationen:
Ansprechpartner:
Professor Dr. Winfried
Rief,
Leiter Psychotherapie-Ambulanz Marburg &
AG Klinische Psychologie und Psychotherapie
E-Mail:
rief@staff.uni-marburg.de