16.06.2016
Dies Academicus nimmt die aktuelle Migrationsdiskussion in den Blick
Ein breites Veranstaltungsprogramm verknüpft akademische Forschung mit Initiativen der Stadtgesellschaft in Marburg
Bereits am 16. März 2016 haben Uni-Senat und Präsidium in einer Erklärung gemeinsam und einstimmig gefordert, dass sich die Hochschulen und insbesondere die Beschäftigten und Studierenden der Philipps-Universität Marburg mit dem Thema Migration auseinander setzen. Die Universität als Ort der differenzierten Diskussion müsse ihren Beitrag für die gesamtgesellschaftliche Debatte leisten, sagte Krause.
Zum Auftakt erläuterte der Göttinger Sozialpsychologe Prof. Samuel Salzborn, wie weit die rechtspopulistische Partei AfD in die Gesellschaft reicht und welche verborgenen antisemitischen und rassistischen Ressentiments sie in der Bevölkerung bedient. So versuche die AfD den nationalsozialistischen Begriff der Volksgemeinschaft wieder hoffähig zu machen, mit dem sie sich gegen alle anderen Menschen, insbesondere Migranten, abgrenze. Der Begriff sei zutiefst antidemokratisch. Die AfD stilisiere das „unschuldige deutsche Volk“ als Opfer einer durchtriebenen Nazi-Elite. „Dabei hatte das NS-Regime eine große Zustimmung unter der deutschen Bevölkerung“, entzauberte Salzborn den Opfermythos. Und der Begriff von einem homogenen deutschen Volk sei in einer modernen, heterogenen Gesellschaft und Demokratie einfach nicht diskutabel, konstatierte Salzborn vor rund 150 Gästen.
Diese Heterogenität und Vielfalt zeigte sich in den über vierzig Programmpunkten des „Dies Academicus“. In Vorträgen, in Workshops und an Infoständen präsentierten sich die Initiativen der Universität und der Stadt Marburg. Notärzte berichteten, welche Herausforderungen bei der Versorgung von Flüchtlingen zu meistern sind. Sexuelle Übergriffe auf Migrantinnen wurden thematisiert. Der Asta der Universität bereitet ein Mentoring-Programm für Geflüchtete vor. Studierende können ihre zugereisten Kommilitonen betreuen. Ähnlich funktioniert schon das Tandem-Programm des Centrums für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS): Deutschsprachige und Migranten bringen sich gegenseitig ihre Landessprache bei, erklärt Farida Rona. Die Studentin des CNMS berichtete auch von ihrem Freiwilligeneinsatz im nunmehr geräumten griechischen Flüchtlingslager Idomeni.
Hans Robert Jarke, Asylreferent von Amnesty International in Marburg, war es wichtig, auf die Hintergründe der Flüchtlingsbewegungen hinzuweisen. Eine Posterausstellung zeigte: Wo kommen die Migranten her, und wo liegen die Fluchtursachen. „Man kann hier nicht verallgemeinern und pauschalisieren. Das sind alles Einzelschicksale“, betonte Jarke.
Diesen Einzelschicksalen ging auch ein Uni-Seminar unter dem Motto „den Geflüchteten eine Stimme geben“ nach. Studierende interviewten Migranten und fragten nach deren Ängsten und möglichen Konflikten. Viele Befragte fühlten sich beispielsweise kriminalisiert. Großes Konfliktpotenzial barg auch das ungewisse und lange Warten im Asylverfahren.
Asyl ist ein Menschenrecht und im Grundgesetz verankert. Das spricht für offene Grenzen und erklärt für Prof. Andreas Zick die Haltung von Angela Merkel, die vergangenes Jahr mit ihrer Aussage „Wir schaffen das“ die Flüchtlingsdebatte prägte. Zick leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. Der in Marburg promovierte Forscher erhält den diesjährigen Communicator-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für seine engagierte Forschungsvermittlung.
In seinem Impulsvortrag und der anschließenden Podiumsdiskussion zeichnete Zick ein eher düsteres Bild unserer Gesellschaftsverfassung. Die 1059 Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte des Jahre 2015 seien eindeutig zu viel. Zick macht eine deutliche Polarisierung der Gesellschaft aus: Rund ein Drittel der Menschen möchte eine stärkere Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen. Ein anderes Drittel lehnt dies ab. Integration gerät zur Einbahnstraße: Die Migranten müssen sich anpassen, die Einheimischen bewegen sich kaum. Die Marburger Politikwissenschaftlerin Prof. Ursula Birsl sieht durch die rechtspopulistischen Strömungen die Demokratie in Gefahr.
Wie gestalten wir die Zukunft? fragte der Marburger Sozialpsychologe, Prof. Ulrich Wagner. Sein Ansatz: Fluchtursachen beseitigen, also die Waffenexporte reduzieren und die Ausbeutung von Menschen verhindern, was allerdings ein langwieriges Unterfangen sei. Positiv sieht Zick, wie sich Zivilgesellschaft und Willkommenskultur getroffen haben. „Die Zivilgesellschaft hat hier die Politik weit überholt“, sagte Zick vor den rund 200 Gästen in der voll besetzten Aula der Alten Universität. Für Hochschulen hat der Konfliktforscher auch ein Rezept parat. Sein Institut hat an der Universität Bielefeld die Kampagne „Uni ohne Vorurteil“ entwickelt, die sich gegen die Abwertung, Ausgrenzung und Diskriminierung von Gruppen wendet. Für andere Hochschulen und gesellschaftliche Bereiche könnte das ein Vorbild sein. (Text: Martin Schäfer)
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