16.08.2019 Altaraufsätze künden von überregionalen Verbindungen
Team aus der Kunstgeschichte durchleuchtet den Bestand hessischer Retabel in einer Überblicks-Publikation
Beim Blick ins Buch rückt der Apostel die Augengläser zurecht: Conrad von Soests Altar in Bad Wildungen, auf dem erstmals nördlich der Alpen eine Brille dargestellt wurde, gehört gewiss zu den berühmtesten hessischen Beispielen für mittelalterliche Retabel, also Altaraufsätze. Hessen besitzt eine große Zahl solcher Werke, die teils von Künstlern wie Albrecht Dürer und Hans Holbein dem Älteren stammen, teils von unbekannten Meistern. Jetzt stellt ein Doppelband die Objekte erstmals im Zusammenhang vor:
Ulrich Schütte & al. (Hg.): Mittelalterliche Retabel in Hessen, Band I: Bildsprache, Bildgestalt, Bildgebrauch, Band II: Werke, Kontexte, Ensembles, Petersberg (Michael Imhof Vlg.) 2019, ISBN 978-3-7319-0197-6, 520 Seiten in 2 Bd., 99 Euro
Die Pinsel liegen gekreuzt auf dem Boden, daneben die Palette mit einer Handvoll Farbkleckse. Der fromme Künstler hat sein Handwerkszeug beiseitegelegt, seine Hände sind zum Gebet gefaltet: So präsentiert sich der Urheber der Sakramentsretabel im hessischen Korbach den Betrachtern. „Der sogenannte ‚Korbacher Franziskanermaler‘ ist biografisch nicht zu fassen“, sagt Professor Dr. Ulrich Schütte, der den Sammelband federführend mit herausgegeben hat, „wir wissen nichts zur Vita des Künstlers.“ Überhaupt verfüge die Kunstgeschichte „durchgängig über ein recht schmales Gerüst von Daten“ zu mittelalterliche Retabeln.
Seit fast fünfzehn Jahren erforscht der Kunsthistoriker von der Philipps-Universität Marburg systematisch die Retabel in Hessen. „Hier hat sich ein reicher und außergewöhnlich qualitätvoller Bestand mittelalterlicher Altarretabel erhalten“, sagt der Hochschullehrer, fügt aber gleich hinzu: „Der Großteil der etwa 220 erhaltenen Werke ist von der Forschung bislang kaum beachtet worden.“
Das hat sich dank des Kompendiums geändert, für das Schütte zahlreiche Fachleute als Autorinnen und Autoren gewonnen hat. Der erste Band behandelt anhand der hessischen Werke übergeordnete Fragestellungen, etwa zu den Stiftern oder zur Nutzung von Altarretabeln. Der zweite Band stellt 30 ausgewählte Retabel und Werkgruppen vor, um die Vielfalt und Einzigartigkeit des überlieferten Bestandes vor Augen zu führen; diese Beiträge bieten einen repräsentativen Querschnitt, der geografisch von Hofgeismar in Nordhessen bis Schöllenbach in Südhessen reicht. Das älteste Objekt stammt aus der Zeit um 1270/80 und befindet sich in der Stiftskirche im mittelhessischen Wetter. Die Blüte der Herstellung hessischer Retabel umfasste etwa den Zeitraum vom späten 13. Jahrhundert bis zur Reformation.
Wenn die berücksichtigten Werke etwas verbindet, dann ist es ihre Vielfalt – sowohl inhaltlich wie auch formal. „Das heutige Hessen war im Mittelalter eine Transitregion, die sich durch Verbindungen zu den Werkstätten naher wie ferngelegener Kunstzentren auszeichnete“, erläutert Schütte: Hier kreuzten sich Handelswege, hier tauschten Einheimische und Fremde ihr Wissen und ihre Kontakte aus. Nicht alle Retabel haben sich an ihrem ursprünglichen Aufstellungsort erhalten. Die Publikation zielt unter anderem auf eine Rekonstruktion der ursprünglichen Werkkontexte.
Hierfür hat sich insbesondere als hilfreich erwiesen, dass Mitherausgeber Professor Dr. Jochen Sander einige der Werke mit einem mobilen Infrarot-Gerät durchleuchtet hat. So konnte der Frankfurter Kunsthistoriker Unterzeichnungen, Änderungen oder spätere Übermalungen erkennen, etwa die judenfeindliche Kennzeichnung einer Figur, die der ausführende Maler erst nachträglich auf dem Altaraufsatz der Stiftskirche in Wetter anbrachte.
Fast alle Retabel, die noch in Kirchenräumen vorhanden sind, wurden für die Publikation neu fotografiert, dank der Beteiligung des Deutschen Dokumentationszentrums für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, dessen Direktor Professor Dr. Hubert Locher ebenfalls dem Kreis der Herausgeber angehört.
Weitere Herausgeber sind Professor Dr. Klaus Niehr von der Universität Osnabrück und Dr. Xenia Stolzenburg von der Philipps-Universität Marburg. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das Deutsche Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, die Hessische Kulturstiftung sowie die Ernst-von-Siemens-Kunststiftung unterstützten die Forschungsarbeiten sowie die Erstellung der Publikation finanziell.
Internet-Ressourcen:
· Die neu angefertigten Aufnahmen hessischer Retabel sind mitsamt den wesentlichen Werkinformationen in der Datenbank „Bildindex der Kunst und Architektur“ des Deutschen Dokumentationszentrums für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg öffentlich zugänglich
· Die wissenschaftlichen Daten zu den einzelnen Werken sind über den Volltextserver ART-Dok der Virtuellen Fachbibliothek Kunst frei zugänglich, den die Universitätsbibliothek Heidelberg betreibt: arthistoricum.net
· Informationen zum Buch auf der Verlags-Webseite
· Forschungsprojekt zu den hessischen Retabeln
· Retabel-Projekt im Marburger Unijournal (2014)