28.09.2020 Das vergangene Reich gibt keine Ruhe
In seinem neuen Buch analysiert der Historiker Eckart Conze die Reichsgründung vor 150 Jahren und ihr schwieriges Erbe
Der Schatten ist so lang wie finster. „Deutschland den Deutschen“, „Deutschland zuerst“: Ein neuer Nationalismus knüpft an die Zeiten des deutschen Nationalstaats an, wie er einst im Kaiserreich verwirklicht war. „Ein freiheitliches und demokratisches Nationsverständnis, wie es sich in den Jahrzehnten nach 1945 entwickeln konnte, wird heute wieder herausgefordert“, schreibt der Marburger Zeithistoriker Eckart Conze in seinem neuesten Buch, in dem es um die Geschichte und die Nachwirkungen des deutschen Kaiserreichs geht, das mit der Kaiserproklamation in Versailles vor 150 Jahren begann: Eckart Conze: Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe, München (dtv) 2020, ISBN 978-3423282567, 288 Seiten, 22 Euro.
Der Autor unternimmt mit seinem jüngsten Werk den Versuch, „die Reichsgründung von 1871 und den damals errichteten deutschen Nationalstaat, das Kaiserreich, im Lichte der Gegenwart zu betrachten“. Wirkt das deutsche Kaiserreich anderthalb Jahrhunderte nach seiner Gründung noch auf die Bundesrepublik nach? Wie blicken die Deutschen heute auf den deutschen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts?
Wie aktuell das Thema des Buches ist, hat der Autor erst jüngst und ganz unmittelbar erfahren: Die Nachfahren von Kaiser Wilhelm drohten dem Historiker durch ihren Anwalt mit rechtlichen Konsequenzen, weil ihnen missfällt, wie sich Conze zu Entschädigungsforderungen der Familie geäußert hat. In der Tat geht es in gegenwärtigen Debatten auch „um das Bild der Hohenzollern in der deutschen Geschichte, um das Bild Preußens und das Bild des Kaiserreichs“, behauptet der Autor und fragt: Verspüren die Nachfahren Wilhelms II. Rückenwind durch den Zeitgeist, durch das politische und gesellschaftliche Klima?
Die Stimmen werden lauter, die Nation und Nationalstaat nicht liberal, demokratisch und weltoffen denken. „Unkritisch und offensiv bekennt sich ein neuer Nationalismus zur preußisch-deutschen Nationalgeschichte und stellt die Berliner Republik in ihre schwarz-weiß-rote Tradition“, konstatiert Conze. „Anderthalb Jahrhunderte nach seiner Gründung und mehr als hundert Jahre nach seinem Untergang ist uns das ferne Reich wieder näher gerückt.“
Conze nimmt die Reichsgründung nach dem Deutsch-Französischen Krieg in den Blick, aber auch die Dynamiken der Nationalisierung, die ein Teil der europäischen Geschichte seit der Französischen Revolution waren. Mit der Reichsgründung endete diese Nationalisierung nicht, sondern wirkte fort. Die Geburt des Reichs im Sieg über den „Erbfeind“ Frankreich sei „zum Fundament der nationalen Einheit“ geworden, schreibt der Historiker. „Abgrenzung und Ausgrenzung – nach außen wie im Inneren – waren konstitutive Elemente des deutschen Nationalismus“. Wer sowohl mit Blick auf den Ersten Weltkrieg als auch mit Blick auf den Nationalsozialismus die Frage nach dem „Warum“ nicht völlig ausblenden wolle, der müsse sich mit der Geschichte des Kaiserreichs auseinandersetzen. Dazu soll das Buch – „historische Analyse und geschichtspolitische Intervention“ – einen Beitrag leisten.
Der Zeithistoriker Professor Dr. Eckart Conze lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Philipps-Universität Marburg. Er war Sprecher der „Unabhängigen Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Auswärtigen Amts“, gehört dem Leitungsteam des Sonderforschungsbereichs „Dynamiken der Sicherheit“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft an und ist Ko-Direktor des Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse (ICWC) der Universität Marburg.