06.07.2021 Ein Kriegsgrund mit Geschichte: ‚Humanitäre Intervention‘
Historikerverband würdigt Marburger Neuerscheinung zu militärischer Interventionspolitik im 16. Jahrhundert mit Dissertationspreis
Krieg führen für Menschenrechte, ist das gerechtfertigt? Darf man militärisch in einem fremden Land eingreifen, um die Einwohner zu schützen? Diese Fragen stellen sich nicht erst, seitdem man die Kriegführung auf dem Balkan und im Irak auf diese Weise rechtfertigte. Auch vor 400 Jahren gab es bereits Interventionen, die mit dem Schutz bedrängter Personengruppen legitimiert wurden. Auf welche Weise das geschah, steht im Fokus einer aktuellen Studie aus der Marburger Geschichtswissenschaft: Julian Katz: Kriegslegitimation in der Frühen Neuzeit. Intervention und Sicherheit während des anglo-spanischen Krieges (1585-1604) (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 86), Berlin (De Gruyter) 2021, ISBN: 978-3-110723502, X+568 Seiten, 69,95 Euro. Die Arbeitsgemeinschaft Internationale Geschichte des Deutschen Historikerverbands hat dem Werk soeben ihren Promotionspreis zugesprochen.
Was zeichnet die damaligen Begründungen aus? Wie unterscheiden sie sich von einer modernen Argumentation? Die Dissertation knüpft eng an Themenbereiche des Sonderforschungsbereichs SFB/TRR 138 „Dynamiken der Sicherheit“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft an, in dem Katz nach seiner Doktorarbeit zu neuen Fragestellungen forscht. Der Verbund vereint Arbeitsgruppen der Philipps-Universität Marburg, der Justus-Liebig-Universität Gießen und des Marburger Herder-Instituts, die sich epochenübergreifend mit der Geschichte von Sicherheitsvorstellungen und mit deren politisch-gesellschaftlicher Bedeutung beschäftigen.
Julian Katz untersucht in seiner Arbeit die Vorläufer der Idee der humanitären Intervention an einem prominenten Beispiel aus der Frühen Neuzeit, nämlich anhand des Krieges, den sich England und Spanien von 1585 bis 1604 lieferten. Dieser Konflikt eignet sich dafür besonders gut, weil beide Kriegsparteien die Notwendigkeit ins Feld führten, fremde Untertanen zu schützen. Durfte Königin Elisabeth I. von England (1558-1603) den Aufständischen in den Niederlanden zu Hilfe eilen, als diese gegen die spanische Oberhoheit aufbegehrten? War umgekehrt das Eingreifen von König Philipp II. von Spanien (1556-1598) auf Seiten der irischen und englischen Katholiken statthaft?
Der Marburger Historiker hält in seiner Dissertation erstmals die zeitgenössischen Quellen vergleichend gegeneinander und analysiert sie im Detail. Welche Form nahm die Behauptung einer „fürstlichen Schutzverantwortung gegenüber ungerecht regierten Untertanen“ an? Wie argumentierten die Gegner in der Praxis des zwischenstaatlichen Konflikts?
Wie der Autor zeigt, bildete der Schutz fremder Untertanen zu jener Zeit noch keine festgefügte Argumentationsfigur. Die verwendeten Begriffe waren uneinheitlich und schwankend; Ausdrücke wie Schutz, Hilfe, Unterstützung, Protektion scheinen weitgehend austauschbar verwendet worden zu sein. Zwar ähnelten die Rechtfertigungsstrategien der Kriegsgegner einander, sie unterscheiden sich in den Details aber auch – schließlich spielte sich die Auseinandersetzung vor dem Hintergrund frühneuzeitlicher Glaubenskonflikte ab. So verknüpfte eine spanische Quelle „die Rechtfertigung der spanischen Kriegsunternehmung mit einer erbitterten Anklage der elisabethanischen Tyrannei, unter welcher vor allem die englischen Katholiken leiden würden“, führt Katz aus.
Schließlich hebt der Historiker auch die Unterschiede zu modernen Auffassungen hervor, die eine Pflicht zum humanitären Eingreifen postulieren. Zu diesen Unterschieden zählt zunächst einmal der gesellschaftliche und weltanschauliche Kontext – sei doch „der Mensch als per se schützenswertes Individuum“ in der Frühen Neuzeit „noch keine etablierte politische Kategorie“ gewesen, wie Katz betont. „Die Begründung des Krieges mit dem Schutz fremder Untertanen kam während des Zeitraums zwischen 1585 und 1604 nie gänzlich isoliert vor“, legt der Autor dar, man habe sich vielmehr immer auch auf dynastisches Recht oder religiöse Gründe berufen.
Alles in allem macht die Untersuchung deutlich, dass schon die Frühe Neuzeit über eigene Konzepte einer Schutzverantwortung verfügte. „Die Arbeit ist ausgezeichnet lesbar, streckenweise geradezu spannend geschrieben“, lobt der Marburger Neuzeithistoriker Professor Dr. Christoph Kampmann das „in jeder Hinsicht beeindruckende und überzeugende Werk“.
Katz erhält den diesjährigen Dissertationspreis der Arbeitsgemeinschaft „Internationale Geschichte“ im Deutschen Historikerverband auf dem kommenden Historikertag am 8. Oktober 2021, zusammen mit der zweiten Preisträgerin Helena Barop aus Freiburg.