26.02.2021 SPEAK!-Studie thematisiert sexualisierte Gewalt an beruflichen Schulen
Mittelhessisches Forschungsteam stellt Ergebnisse im Beisein des Hessischen Kultusministers Alexander Lorz vor
„Das Hauptrisiko für sexualisierte Gewalt im Jugendalter sind andere Jugendliche, in etwa Gleichaltrige, in der Schule und in anderen Lebensbereichen; das Risiko, betroffen zu sein, steigt mit dem Alter. Im Kindesalter dagegen geht von Erwachsenen das Hauptrisiko aus“, sagten Prof. Dr. Sabine Maschke und Prof. Dr. Ludwig Stecher und benannten damit einen zentralen Befund ihrer Untersuchung. Die Erziehungswissenschaftlerin von der Philipps-Universität Marburg und der Bildungsforscher von der Justus-Liebig-Universität Gießen haben heute gemeinsam mit Kultusminister Prof. Dr. R. Alexander Lorz die Ergebnisse der dritten SPEAK!-Studie über „Sexualisierte Gewalt in der Erfahrung Jugendlicher“ vorgestellt und ein Gesamtfazit der Studienreihe gezogen.
Im Vergleich zu den vorhergehenden SPEAK!-Studien, die an Regelschulen und an Förderschulen 14- bis 16-Jährige befragt haben, stehen in der aktuellen Studie etwas ältere Jugendliche im Alter von 16 bis 19 Jahren, die berufliche Schulen besuchen, im Fokus. „Die Ergebnisse zeigen in eindrücklicher Weise, dass sexualisierte Gewalt – in all ihren Formen, von der sexualisierten Beschimpfung bis hin zu körperlichen Formen sexualisierter Gewalt – zur alltäglichen Erfahrungswelt der Mehrheit der Jugendlichen gehört“, so die Studienautoren. Es sei dabei nicht so entscheidend, welche Schulform besucht werde, sondern vielmehr das Alter und das Geschlecht. Je älter die Jugendlichen, desto ausgeprägter die Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt. Und: weibliche Jugendliche sind besonders häufig betroffen.
„Es zeigt sich angesichts der neuen Erkenntnisse umso mehr, dass alle weiterführenden Schulformen in vergleichbarer Weise von sexualisierter Gewalt betroffen sind und von daher als Orte des Schutzes und der Prävention unterstützt werden müssen“, erklärte Kultusminister Prof. Dr. R. Alexander Lorz. Ich danke den beiden Professoren sehr für ihre Arbeit, mit der sie Licht ins Dunkel gebracht und wertvolle Erkenntnisse für die pädagogische Arbeit an unseren Schulen geliefert haben.“ Insgesamt 1.118 Schülerinnen und Schüler der Eingangsjahrgänge an (fast) allen Formen beruflicher Schulen in Hessen wurden dafür mittels eines standardisierten Fragebogens in der ersten Jahreshälfte 2020 anonym befragt.
„Das Besondere an der SPEAK!-Studie ist, dass sie nicht nur die Perspektive der unmittelbar Betroffenen einbezieht, sondern auch die von Jugendlichen, die sexualisierte Gewalt beobachtet, davon gehört oder auch selbst ausgeübt haben“, erläuterte Prof. Maschke. Der Blick auf diese vier Perspektiven erlaube auch eine Darstellung der Zusammenhänge von sexualisierter Gewalt und der Lebenswelt der Jugendlichen, zu der beispielsweise Schulmotivation, Mobbingerfahrungen oder auch Pornografiekonsum gehörten. „Der öffentliche Raum, das Internet sowie die Schule sind für nicht-körperliche Formen sexualisierter Gewalt risikoreiche Orte. Gerade für die Schule gilt aber auch, dass sie ein bedeutender Ort für die Präventionsarbeit ist“, so Maschke weiter. „Im Vergleich zu den vorherigen SPEAK!-Studien kommt der Betrieb – bei körperlichen wie nicht körperlichen Formen sexualisierter Gewalt - als neuer Risikoort hinzu. Der umfangreiche Fragebogen wurde von den Schülerinnen und Schülern mit großer Ernsthaftigkeit ausgefüllt. Das ist nicht selbstverständlich und zeigt, dass die Fragen von großer lebensweltlicher Relevanz sind. Die Jugendlichen geben im Fragebogen zu vielen Fragen zusätzlich wichtige Hinweise und Ratschläge für den Umgang mit sexualisierter Gewalt. Dafür möchten wir allen sehr herzlich danken.“
Was hat die Studie mit welchen Ergebnissen untersucht? Zunächst wurden die Erfahrungen mit Formen nicht-körperlicher sexualisierter Gewalt abgefragt. Das beginnt mit der Aussage „Jemand hat über mich Gerüchte sexuellen Inhalts verbreitet“, geht über die Konfrontation mit sexuellen Handlungen, wie beispielsweise gezwungen zu werden, pornografische Bilder oder Filme anzusehen, bis dahin, exhibitionistischen Handlungen ausgesetzt zu sein, oder zu erleben, dass intime Fotos oder Filme im Internet verbreitet werden. „Zwei Drittel aller 16- bis 19-Jährigen erleben nicht-körperliche Formen sexualisierter Gewalt; bei den 14- bis 16-Jährigen in der Vorgängerstudie war es knapp die Hälfte – eine deutliche Steigerung also. Besonders häufig werden verletzende sexuelle Witze gemacht, erläuterte Prof. Stecher. „Verbreitet ist aus unserer Sicht eine sexualisierte und diskriminierende ‚Beschimpfungs-Kultur‘ unter den Jugendlichen. Weibliche Jugendliche sind darüber hinaus im Besonderen von Exhibitionismus und von sexuellen Belästigungen im Internet betroffen.“
„41 Prozent der älteren Jugendlichen in der aktuellen Studie berichten über erlebte körperliche sexualisierte Gewalt, in der Vorgängerstudie betraf dies knapp ein Viertel; auch hier also eine deutliche Steigerung. Über die Hälfte (56 Prozent) der weiblichen Jugendlichen berichtet davon, gegen den Willen angetatscht worden zu sein (bei den männlichen Jugendlichen sind dies 11 Prozent), eine Erfahrung, die also mehr als jede zweite weibliche Jugendliche in diesem Alter bereits mindestens einmal gemacht hat“, so Stecher über die Ergebnisse zu den Formen körperlicher sexualisierter Gewalt. Jede vierte weibliche Jugendliche (25 Prozent) berichtet zudem davon, dass jemand versucht hat, einen Geschlechtsverkehr zu erzwingen (im Vergleich: 4 Prozent der männlichen Jugendlichen) – und jede 12. weibliche Jugendliche musste einen erzwungenen vollzogenen Geschlechtsverkehr erleben (im Vergleich: 1 Prozent der männlichen Jugendlichen). Bei diesen Ergebnissen ist die Diskrepanz zwischen der Zahl der weiblichen Jugendlichen, die solche Erfahrungen gemacht haben, und der Zahl der männlichen noch einmal deutlich größer als bei den Erfahrungen nicht-körperlicher sexualisierter Gewalt. „Weibliche Jugendliche sind im Vergleich zu ihren männlichen Gleichaltrigen einem besonders hohen Risiko ausgesetzt, insbesondere schwere Formen körperlicher sexualisierter Gewalt zu erleben“, hebt Stecher hervor. Die Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt sind in der Regel keine einmaligen; die allermeisten Jugendlichen erleben sexualisierte Gewalt wiederholt und mehr als eine Form.
„Sexualisierte Gewalt zu erleben ist nicht folgenlos für die Betroffenen, sondern wirkt in viele Lebensbereiche der Jugendlichen hinein. Betroffene gehen weniger gerne zur Schule, fühlen sich in ihrer Familie weniger wohl, haben ein negativeres Bild von sich selbst und berichten häufiger auch von Mobbingerfahrungen in der Schule als andere Jugendliche“, erläutert Prof. Maschke die Folgen für betroffene Jugendliche. „Ein aus unserer Sicht darüber hinaus ernst zu nehmender Befund ist der hohe Pornografiekonsum männlicher Jugendlicher. Zwei Drittel (65 %) geben an, „öfter“ Pornos anzuschauen. SPEAK! zeigt, dass sich gerade bei den Dauer-Nutzern die Wahrnehmung ändert. Etwa jeder vierte Dauer-Nutzer beispielsweise findet nur noch die Körper schön, die er in Pornos sieht, oder sagt, dass er immer mehr Pornos braucht“.
Maschke und Stecher empfehlen, zusätzlich zum sexuellen Missbrauch durch erwachsene Täter, den Fokus auch verstärkt auf sexualisierte Gewalt zwischen in etwa Gleichaltrigen zu richten. Gerade das Phänomen der sexualisierten Gewalt zwischen gleichaltrigen Jugendlichen sei lange Zeit zu wenig erforscht und in Prävention überführt worden. Ziel müsse es deshalb sein, durch geeignete Präventionsinstrumente der in der Alltagswelt weit verbreiteten erlebten sexualisierten Gewalt im Jugendalter entgegen zu wirken, angefangen mit der sexualisierten und diskriminierenden „Beschimpfungs-Kultur“, Übergriffen körperlicher Art oder im Internet. Dazu beitragen könne etwa der erfolgreiche Umgang mit Medien, also die Stärkung der Medienkompetenz, um deren Angebote besser bewerten und reflektieren zu können. Und: „Schule steht vor der Herausforderung, Sozialisations- und Erfahrungsräume zu schaffen, die Sicherheit gewährleisten, aber gleichzeitig dem Wunsch der Heranwachsenden nach Freiraum und Eigengestaltung nachkommen“, sagte Prof. Maschke.
Die Hessische Landesregierung hat im Mai 2012 den „Aktionsplan des Landes Hessen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt in Institutionen“ beschlossen. „Schule kommt bei der Präventionsarbeit gegen sexuellen Kindesmissbrauch unverändert eine besondere Rolle zu“, betonte Kultusminister Lorz. „Sie muss mit institutionell verankerten Schutzkonzepten dazu in der Lage sein, Opfer zu schützen, ihnen fachkundige Unterstützung zu vermitteln und auch aktiv gegen die verbreitete Kultur der sexualisierten und diskriminierenden Sprache unter Jugendlichen vorgehen.“ Um Hilfe- und Unterstützungsangebote sowie Präventionsmaßnahmen weiterzuentwickeln, sei eine Arbeitsgrundlage notwendig gewesen, die den Bereich sexualisierter Gewalt aus der Sicht Jugendlicher detailliert erfasst. Denn: Präzise Statistiken und repräsentative Untersuchungen darüber, wie viele Fälle es in welchen Bereichen gibt, fehlten für Deutschland weitgehend. „Dank der Beauftragung der Philipps-Universität Marburg mit der Durchführung der nun vorliegenden dritten repräsentativen Studie in Kooperation mit der Justus-Liebig-Universität Gießen konnte diese Lücke geschlossen werden“, so Lorz.
Der Kultusminister verwies in diesem Zusammenhang auch auf den Katalog aktueller Maßnahmen, die für die hessischen Schulen bereits auf den Weg gebracht worden sind:
1. Die Handreichung zum Umgang mit sexuellen Übergriffen im schulischen Kontext liegt allen hessischen Schulen vor und wird regelmäßig überarbeitet. Sie steht auch als Download zur Verfügung.
2. Hessen beteiligt sich seit 2017 an der Kampagne des Unabhängigen Beauftragten für Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) „Schule gegen sexuelle Gewalt“. Angesichts der repräsentativen Befunde zu sexuellen Gewalterfahrungen Jugendlicher im Rahmen der SPEAK-Studie und der aktuellen Forderungen des UBSKM sollen die hessischen Schulen noch intensiver dabei unterstützt werden, Schutzkonzepte zu entwickeln und diese nachhaltig zu implementieren. Aus diesem Grund sollen Schutzkonzepte für die Prävention und Intervention bei sexueller Gewalt möglichst auch im Hessischen Schulgesetz verankert und mit der schulischen Gewaltprävention verknüpft werden.
3. Fortbildungsmaßnahmen für Schulleitungen, Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte zum Umgang mit sexueller Gewalt und Schutzkonzepten werden darüber hinaus weiterentwickelt und ausgebaut. Daneben stehen den Schulen die Schulentwicklungsberatung und die Schulpsychologie bei der Entwicklung und Implementierung von Schutzkonzepten weiterhin beratend zur Seite.
4. Das Land Hessen wird in diesem Zuge auch das vom UBSKM als bundesweites kostenfreies Angebot entwickelte Projekt „‘Was ist los mit Jaron?‘ - Digitaler Grundkurs zum Schutz von Schüler*innen vor sexuellem Missbrauch“ in Form eines Serious Games unterstützen und an den Schulen zwecks Teilnahme bewerben.
5. Im Besonderen fließen darüber hinaus die Ergebnisse von SPEAK! in das vom Kultusministerium und den Universitäten Marburg und Gießen entwickelte und derzeit in der Erprobung stehende Präventionsprogramm SePP (Sensibilisierende Prävention durch Partizipation) ein. Hier diskutieren und entwerfen die Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte gemeinsam an ihrer Schule Präventionsmaßnahmen. In Kürze können erprobte Module und Materialien den weiterführenden Schulen zur Verfügung gestellt werden.
Kultusminister Lorz versicherte zum Abschluss, dass das Land auch weiterhin alle sinnvollen Präventionsmaßnahmen unterstützen und die Schulen insbesondere zur Implementierung von Schutzkonzepten animieren werde. „Die repräsentativen Erkenntnisse der Studie zeigen uns, dass sexualisierte Gewalt zum Erfahrungshorizont der Jugendlichen in allen untersuchten Schulformen gehört. Wir müssen gesamtgesellschaftlich alles dafür tun, dass sexualisierte Gewalt genauso wie Hassreden in den sozialen Medien, Intoleranz und Mobbing nicht den Alltag von Jugendlichen prägen und stattdessen eine Kultur des wertschätzenden, gewalt- und diskriminierungsfreien Miteinanders stärken und fördern.“
(Pressetext: HKM)