19.10.2022 Hochbetagte profitieren von Schlaganfall-Spezialeinrichtungen
Team aus der mittelhessischen Hochschulmedizin legt Studie zur Behandlung von alten Menschen ab 90 Jahren vor
Behandelt man Patientinnen und Patienten mit Schlaganfall in Spezialabteilungen, so genannten „Stroke Units“, so verbessert dies die Überlebenschance selbst bei denen, die 90 Jahre oder älter sind. Dies hat ein Team aus der mittelhessischen Hochschulmedizin um den Marburger Versorgungsforscher Professor Dr. Max Geraedts durch die Analyse von Krankenkassendaten herausgefunden. Hochbetagte werden seltener in spezialisierten Schlaganfallstationen behandelt als Jüngere, obwohl sie davon ebenso profitieren würden, schreiben die Autorinnen und Autoren im Fachblatt „Age and Ageing“.
„Mit zunehmender Lebenserwartung ist mit immer mehr Schlaganfällen zu rechnen, besonders bei Hochbetagten, die danach vergleichsweise schlechte Prognosen haben“, sagt Arzt und Gesundheitswissenschaftler Max Geraedts von der Philipps-Universität Marburg, der die Studie leitete. Spezialisierte Schlaganfallabteilungen liefern ein besseres Ergebnis für die eingelieferten Patientinnen und Patienten: Sie haben eine größere Chance, länger zu überleben und unabhängig zu bleiben, als wenn die Behandlung in einer anderen Station erfolgt. Ob dies auch für Hochbetagte gilt, war bisher unklar. Jedenfalls werden sie, zumindest in der Bundesrepublik, seltener in spezialisierten Stationen behandelt. „Einige Ärzte scheinen nicht davon überzeugt, dass ältere Menschen ähnlich große Vorteile aus einer spezialisierten Behandlung ziehen wie Jüngere“, vermutet Geraedts.
Profitieren speziell Neunzigjährige und Ältere nach einem Schlaganfall von einer Behandlung in einer Schlaganfallstation? Verändert sich dadurch der Langzeitverlauf und das Sterblichkeitsrisiko, die Gefahr erneuter Schlaganfälle und der langfristige Pflegebedarf? „Die Datenlage hierzu war bislang dünn“, führt der Neurologe Professor Dr. Manfred Kaps von der Justus-Liebig-Universität Gießen aus, einer der Koautoren; „bisherige Studien liefern kein klares Bild.“
Um das zu ändern, analysierte das Team um Geraedts Daten von Patientinnen und Patienten, die in den Jahren 2007 bis 2017 erstmalig als Notfälle mit einem Schlaganfall in ein Krankenhaus eingeliefert wurden. Wie groß war bei ihnen die Sterblichkeit nach 10, nach 30 und nach 90 Tagen sowie nach einem Jahr, nach drei und nach fünf Jahren?
Die Studie umfasst Daten von mehr als 29.000 Seniorinnen und Senioren im Alter ab 90 Jahren. Das Ergebnis: In den Jahren von 2007 bis 2017 behandelten die Spezialstationen für Schlaganfall 57,1 Prozent der Unter-90-Jährigen, aber nur 49,6 Prozent der Patientinnen und Patienten im Alter von 90 Jahren und darüber. Im ersten Jahr nach dem Schlaganfall starben 61,9 Prozent der Hochbetagten ohne Behandlung in einer Stroke Unit, aber nur 56,9 Prozent, die in einer Spezialabteilung behandelt worden waren.
Das Sterberisiko wird durch Behandlung in einer Spezialabteilung also erheblich reduziert. Warum sinkt dann mit steigendem Alter kontinuierlich der Anteil von Patientinnen und Patienten, die in Spezialabteilungen behandelt werden? Die Autoren bieten verschiedene Erklärungen an: „Einerseits kann der Befund darauf zurückzuführen sein, dass bei Älteren zunehmend Patientenverfügungen vorliegen und die Menschen eine palliative Behandlung bevorzugen; andererseits könnten die Ergebnisse auf eine unbewusste Altersdiskriminierung hinweisen“, legt Geraedts dar.
Der Mediziner Professor Dr. Max Geraedts lehrt Sozialmedizin und Versorgungsforschung an der Philipps-Universität Marburg. Neben Geraedts Arbeitsgruppe und Manfred Kaps beteiligten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum, der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, der Landesarbeitsgemeinschaft Qualitätssicherung Hessen und des Wissenschaftlichen Instituts der Allgemeinen Ortskrankenkassen an der Studie. Der Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses, einer Einrichtung der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, unterstützte die zugrundeliegende Forschungsarbeit finanziell.
Die mittelhessische Hochschulmedizin an den Universitäten Marburg und Gießen bildet einen der großen Forschungsbereiche im Forschungscampus Mittelhessen (FCMH). Der FCMH ist eine hochschulübergreifende Einrichtung der Justus-Liebig-Universität Gießen, der Philipps-Universität Marburg und der Technischen Hochschule Mittelhessen, deren Aufgabe in der Stärkung der regionalen Verbundbildung in der Forschung, Nachwuchsförderung und Forschungsinfrastruktur liegt.
Originalveröffentlichung: Max Geraedts & al.: Long-term outcomes of stroke unit care in older stroke patients: a retrospective cohort study, Age and Ageing 2022, DOI: https://doi.org/10.1093/ageing/afac197