23.02.2023 "Es wurde eine dunkelrote Linie überschritten"

Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen veröffentlicht Analysen und Gespräche zur documenta fifteen und Antisemitismus in Kunst und Kultur

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (RIAS Hessen) – in Trägerschaft des Demokratiezentrums Hessen an der Universität Marburg – erfasst und dokumentiert seit Frühjahr 2022 antisemitische Vorfälle in Hessen. Betroffene werden bei Bedarf an kompetente Beratungsstellen weitergeleitet. Die Dokumentation der Vorfälle bildet, in Absprache mit den meldenden Personen sowie anonymisiert, auch bei der Erarbeitung von Bildungsmaterialien eine Grundlage. Forschung zu und Bildung über Antisemitismus sind weitere Aufgabenfelder von RIAS Hessen.

Die am 23. Februar 2023 in der Jüdischen Gemeinde Marburg präsentierte Veröffentlichung von RIAS Hessen bietet auf 130 Seiten insbesondere jüdischen Stimmen und antisemitismuskritischen Analysen zur documenta fifteen Raum. Die Veröffentlichung trägt den Titel "documenta fifteen: Es wurde eine dunkelrote Linie überschritten". Ein Monitoring-Bericht von RIAS Hessen zur documenta fifteen wird genauere Zahlen und Analysen vorlegen. Dieser wird in vier bis acht Wochen ebenfalls auf der Website von RIAS Hessen als Download zur Verfügung stehen.

Statements

Uwe Becker (Beauftragter der Hessischen Landesregierung für Jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus):

„Der documenta-Sommer war ein Sommer der Schande. Von den Aktivitäten der antisemitischen BDS-Bewegung bis hin zu israelfeindlichen Stichwortgebern in Teilen von Kunst, Kultur und Wissenschaft führt ein rotes Band, das wir endlich als rote Linie definieren müssen. Wir lassen uns zu häufig Alibi-Diskussionen und Scheindebatten aufzwingen, wo es angeblich um die Sorge vor Zensur gegenüber Kritik an Israels geht. In Wirklichkeit ist es jedoch meist andersherum. Mit einseitiger Kritik an Israel soll die rote Linie in Richtung des israelbezogenen
Antisemitismus verschoben werden. Antisemitismus wird auf diese Weise politisch salonfähig und dagegen müssen wir uns als Gesellschaft wehren. Es braucht endlich einen gesellschaftlichen Konsens in der Ächtung gerade auch des israelbezogenen Antisemitismus, sonst wird sich die documenta fifteen an anderer Stelle wiederholen.“

Daniel Neumann (Direktor Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen):

„Seit der documenta fifteen sind einige Monate vergangen, doch der Flurschaden ist immer noch enorm. Denn all jene, die eben noch beschwichtigt, abgewiegelt oder ignoriert haben, führten auf einmal die Bewegung an, die kompromisslose Aufklärung und lückenlose Aufarbeitung verlangt. Beeindruckend, wie geschmeidig die Fahnen mit dem Wind wehen. Dabei trugen viele Verantwortung dafür, dass es überhaupt dazu kam. Von den zuständigen Bundes- und Landesministerien über den Aufsichtsratsvorsitzenden und die Generaldirektorin bis hin zu den ‚Kuratoren‘, die vieles taten, außer zu kuratieren. Das Versagen der Verantwortlichen betrifft dabei nicht nur den offen zur Schau getragenen Antisemitismus, sondern hat auch der Kunst als solcher einen Bärendienst erwiesen.“

Tanja Kinzel (Bundesverband RIAS e.V.):

„Die antisemitischen Vorfälle im Kontext der documenta fifteen haben zu einem nachhaltigen Vertrauensverlust bei Jüdinnen und Juden geführt. Die von jüdischen Institutionen vor Ort geäußerte Kritik am Umgang mit Antisemitismus wurde als Befindlichkeit abgetan, ignoriert oder abgewehrt. Diese Nichtbeachtung jüdischer Kritik an antisemitischen Vorkommnissen ist charakteristisch für den Umgang mit Antisemitismus in der Öffentlichkeit. Während die mediale Aufmerksamkeit mit dem Ende der documenta fifteen nachgelassen hat, wirken die Folgen für die Betroffenen noch lange nach.“

Susanne Urban (Projektleitung RIAS Hessen):

„Die Analysen des Antisemitismus wurden auf und von der documenta zurückgewiesen, jüdische Stimmen beschwichtigt und überhört und es bleibt die Phrase der Antisemitismusvorwürfe. Dabei ging und geht es um konkreten Antisemitismus. Wir haben hier eine Divergenz in Perspektiven und Wahrnehmungen. Trotz aller Erinnerungsstrategien und Gedenktage findet hierzulande kein angemessener und aufrichtiger Umgang mit Antisemitismus statt. Es muss eine Debatte geführt werden, was die Verbreitung von Antisemitismus in Wort und Bild anrichtet. Unsere Veröffentlichung und der bald erscheinende Monitoringbericht wollen dazu einen Beitrag leisten.“

Stefan Raguse/Charlotte Brandes (RIAS Hessen):

„Auf der documenta fifteen gab es nicht nur antisemitische Inhalte in den Ausstellungen, die Kunstwerke haben darüber hinaus auch selbst Antisemitismus befördert. Die Werke der zeitgenössisch weltgrößten Kunstschau sowie der Diskurs darüber wirkten sich für Jüdinnen und Juden über Kassel hinaus aus, auch konkret im Privaten. Der Antisemitismus traf nicht nur Besuchende vor Ort, sondern jüdische Menschen in ganz Hessen auf der Arbeit, im Nahverkehr oder sogar im eigenen Hausflur. RIAS Hessen konnte 38 antisemitische Vorfälle im Zusammenhang mit der documenta fifteen dokumentieren. Damit hat die Kunstausstellung eine wesentliche Gelegenheitsstruktur für Antisemitismus in Hessen im Jahr 2022 geschaffen.“

Stella Leder (Institut für Neue Soziale Plastik, Potsdam):

„Antisemitismus in der Kunst kann mit einfachen Mitteln verhindert werden: Kulturverwaltungen, die an der Besetzung von Leitungspositionen, Jurys oder Findungskommissionen beteiligt sind, müssen für die Besetzung dieser Posten mit antisemitismuskritischen Künstler:innen sorgen. Die Besetzung entsprechender Gremien ist eine der Aufgaben von demokratischer Kulturpolitik und Verwaltung - das ist kein Eingriff des Staates in die Kunst. So lange aber die Verwaltung keine entsprechende politische Anweisung bekommt, trägt die Kulturpolitik weiterhin die Verantwortung für Antisemitismus in künstlerischen Kontexten. Es ist ein Skandal, dass einerseits beteuert wird, wie leid allen die Vorkommnisse auf der Documenta tun und gleichzeitig so getan wird, als gebe es keine Handlungsmöglichkeiten. Man bekommt den Eindruck, als würde das Problem Antisemitismus nicht ernstgenommen werden."

Richard Chaim Schneider (Filmemacher, Buchautor, Journalist, bis 2022 ARD-Korrespondent & Editor-at-Large, seit 2021 Autor für "Der Spiegel" in Israel/Palästinensischen Gebieten):

„Nein, ich will solche antisemitischen Stereotypen nicht im öffentlichen Raum sehen. Sie sind mitverantwortlich dafür, dass Hunderte Menschen meiner Familie ermordet, meine Eltern in die Konzentrationslager gesteckt wurden. Es ist keine Neuigkeit, dass vor jedem Massenmord, jeder Vernichtung, die Entmenschlichung des angeblichen Feindes steht. Wort- und Bildsprache gehen der Tat voraus, sie bereiten sie vor, sie stimmen die Menschen darauf ein, was noch kommen soll.“ (Pressetext: RIAS Hessen)

Download der Veröffentlichung

Weitere Informationen finden Sie auf der Website von RIAS Hessen.

Grundlage der Arbeit von RIAS Hessen ist die Arbeitsdefinition Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA).

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