10.01.2023 Unwort des Jahres 2022: Klimaterroristen
Sprecherin Prof. Dr. Constanze Spieß von der Philipps-Universität Marburg gab Unwort des Jahres 2022 bekannt
Pressemitteilung der sprachkritischen Aktion "Unwort des Jahres"
Mit dem Ausdruck Klimaterroristen wird im öffentlich-politischen Diskurs pauschal Bezug auf Akteur*innen genommen, die sich für die Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen und die Erreichung der Ziele des Pariser Klimaabkommens einsetzen. Der Ausdruck wurde im öffentlichen Diskurs gebraucht, um Aktivist*innen und deren Protest zu diskreditieren.
Die Jury kritisiert die Verwendung des Ausdrucks, weil Klimaaktivist*innen mit Terrorist*innen gleichgesetzt und dadurch kriminalisiert und diffamiert werden. Unter Terrorismus ist das systematische Ausüben und Verbreiten von Angst und Schrecken durch radikale physische Gewalt zu verstehen. Um ihre Ziele durchzusetzen, nehmen Terrorist*innen dabei Zerstörung, Tod und Mord in Kauf. Durch die Gleichsetzung des klima-aktivistischen Protests mit Terrorismus werden gewaltlose Protestformen zivilen Ungehorsams und demokratischen Widerstands in den Kontext von Gewalt und Staatsfeindlichkeit gestellt.
Mit der Verwendung des stigmatisierenden Ausdrucks Klimaterroristen verschiebt sich zudem der Fokus der Debatte von den berechtigten inhaltlichen Forderungen der Gruppe hin zum Umgang mit Protestierenden (z.B. Präventivhaft). Die Forderungen der Klimaaktivist*innen, die Klimakrise durch wirksame politische Maßnahmen zu bewältigen, treten im öffentlichen Diskurs dabei ebenso in den Hintergrund wie die globale Bedrohung durch den Klimawandel. Im Vordergrund steht stattdessen die Frage nach politischen und juristischen Handlungsmöglichkeiten gegen zivilgesellschaftliche Akteur*innen.
Der Ausdruck Klimaterroristen reiht sich in ein Netz weiterer Unwörter ein, die dazu dienen, die Aktivist*innen und deren Ziele zu diffamieren und in den Kontext von Gewalt und extremer Aggression zu stellen. Zu dem Netz der weiteren Unwörter zählen Klimaterrorismus, Ökoterrorismus oder Klima-RAF.
Außerdem kritisiert die Jury als Unwörter auf Platz 2 und 3 im Jahr 2022:
Sozialtourismus: Der Ausdruck Sozialtourismus war bereits 2013 Unwort des Jahres. Von einigen Politiker*innen und Medien wurde damals mit der Verwendung dieses Wortes gezielt Stimmung gegen unerwünschte Zuwanderung, insbesondere aus Osteuropa, gemacht. Aus aktuellem Anlass hat sich die Jury entschieden, diesen Ausdruck auf Platz 2 zu setzen. Im Jahr 2022 wurde Sozialtourismus von Friedrich Merz zur Bezeichnung von Menschen aus der Ukraine, die Zuflucht vor dem Krieg suchen, verwendet. Die Jury sieht in diesem Wortgebrauch eine Diskriminierung derjenigen Menschen, die vor dem Krieg auf der Flucht sind und in Deutschland Schutz suchen; zudem verschleiert der Ausdruck ihr prinzipielles Recht darauf. Die Perfidie des Wortgebrauchs besteht darin, dass das Grundwort Tourismus in Verdrehung der offenkundigen Tatsachen eine dem Vergnügen und der Erholung dienende freiwillige Reisetätigkeit impliziert. Das Bestimmungswort sozial reduziert die damit gemeinte Zuwanderung auf das Ziel, vom deutschen Sozialsystem profitieren zu wollen, und stellt die Flucht vor Krieg und die Suche nach Schutz in den Hintergrund.
defensive Architektur: Bei diesem Ausdruck handelt es sich um eine Übertragung aus dem Englischen (defensive/hostile urban architecture). Im Deutschen ist der Ausdruck auch unter der Alternativbezeichnung Anti-Obdachlosen-Architektur bekannt. Bei dem Wort defensive Architektur handelt es sich um eine militaristische Metapher, die verwendet wird, um eine Bauweise zu bezeichnen, die sich gegen bestimmte, wehrlose Personengruppen (zumeist Menschen ohne festen Wohnsitz) im öffentlichen Raum richtet und deren Verweilen an einem Ort als unerwünscht betrachtet. Die Jury kritisiert die irreführende euphemistische Be-zeichnung einer menschenverachtenden Bauweise, die gezielt marginalisierte Gruppen aus dem öffentlichen Raum verbannen möchte.
In diesem Jahr greift die Jury wieder auf die 2013 eingeführte Kategorie des persönlichen Unworts des Gastjurors zurück, um Ausdrücke, die den jährlich wechselnden Gastjuror*innen am Herzen liegen, zu würdigen.
Das persönliche Unwort des diesjährigen Gastes Peter Wittkamp (Autor, Gagschreiber und Werbetexter):
militärische Spezialoperation: Der Ausdruck ist eine zutiefst euphemistische Bezeichnung für einen aggressiven kriegerischen Akt, der als das enttarnt werden muss, was er ist: Propaganda, mit der der Kreml nicht nur die gesamte Welt und Deutschland belügt, sondern auch sein eigenes Land und seine Bürger*innen.
Unwortstatistik 2022:
Für das Jahr 2022 erhielt die Jury insgesamt 1476 Einsendungen. Es wurden 497 verschiedene Ausdrücke vorgeschlagen, von denen knapp 55 den Unwort-Kriterien der Jury entsprachen.
Unter den häufigsten Einsendungen (mehr als 15), die aber nicht zwingend den Kriterien der Jury entsprechen, waren: (Doppel-)Wumms (52), Gratismentalität (26), Klima-Kleber (18), Klima-RAF (34), Klima-Terrorist(en) (32), (militärische) Sonder-/Spezialoperation (64), mithitlern (15), nachhaltig (18), Sondervermögen (54), Sozialtourismus (71) und Zeitenwende (15).
Die Jury der institutionell unabhängigen und ehrenamtlichen Aktion „Unwort des Jahres“ besteht aus folgenden Mitgliedern: den vier Sprachwissenschaftler*innen Dr. Kristin Kuck (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg), Prof. Dr. Martin Reisigl (Universität Wien), Prof. Dr. David Römer (Universität Kassel), Prof. Dr. Constanze Spieß (Sprecherin der Jury; Philipps-Universität Marburg) und der Journalistin Katharina Kütemeyer. Als jährlich wechselndes Mitglied war in diesem Jahr Peter Wittkamp (Autor, Gagschreiber, Werbetexter) beteiligt.
Weitere Informationen: www.unwortdesjahres.net