08.07.2024 Marburger Kunstgeschichte an neuer Forschungsgruppe zu Antiziganismus beteiligt
DFG-Förderung für Forschung über Ausgrenzung, Faszination und Emanzipation
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert eine neue Forschungsgruppe mit dem Titel „Antiziganismus und Ambivalenz in Europa (1850-1950)“. Unter Federführung der Europa-Universität Flensburg (EUF) wird die Gruppe bestehend aus Wissenschaftler*innen der Universitäten Heidelberg, Gießen, Marburg, Regensburg und Flensburg die Hintergründe, Verflechtungen und Dynamiken von Antiziganismus in Europa untersuchen. Verfolgt werden dabei zwei Hauptziele: Zum einen werden Ausgrenzung, Vorurteile und Stereotype, die zwischen 1850 und 1950 vorherrschten, untersucht. Zum anderen wird erforscht, wie Sinti*zze und Rom*nja in dieser Zeit eigene Handlungsmöglichkeiten entwickelten und nutzten.
„Unser Teilprojekt verfolgt einerseits genuin kunsthistorische Fragen nach dem Wandel der Bilderzählungen über Sinti*zze und Rom*nja in der Moderne und es stellt andererseits die multimodale Forschungsumgebung für die gesamte Gruppe bereit“, erklärt Prof. Dr. Peter Bell vom kunstgeschichtlichen Institut der Philipps-Universität Marburg. Das Teilprojekt wird dabei durch die kunsthistorische Expertise von Prof. Dr. Melanie Ulz (Uni Regensburg) unterstützt und wird in Bezug auf die Digital Humanities eng mit dem Marburg Center for Digital Culture and Infrastructure (MCDCI) verbunden sein.
Antiziganismus: Eine langandauernde Ungerechtigkeit gegenüber Sinti*zze und Rom*nja
Der Begriff Antiziganismus bezeichnet eine seit langer Zeit bestehende Ungerechtigkeit gegenüber Sinti*zze und Rom*nja, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Darstellungen und Vorstellungen, die dieses Unrecht verstärkten oder normalisierten, führten zur Ausgrenzung und Diskriminierung dieser Minderheiten. Gleichzeitig gab es Bestrebungen der betroffenen Gruppen, ihre eigene Stimme zu erheben und für Gleichberechtigung und Integration zu kämpfen. Diese Bestrebungen gilt es von Seiten der Wissenschaft zu erforschen und anzuerkennen.
Forschung über Ausgrenzung, Faszination und Emanzipation
Die Forschungsgruppe verfolgt zwei Hauptziele: Zum einen wird sie Ausgrenzung, Vorurteile und Stereotype, die zwischen 1850 und 1950 vorherrschten, untersuchen und hinterfragen. Zum anderen wird erforscht, wie Sinti*zze und Rom*nja in dieser Zeit eigene Handlungsmöglichkeiten entwickelten und nutzten.
Iulia Patrut, Sprecherin der Forschungsgruppe und Professorin an der EUF, betont: „Unsere Forschung umfasst nicht nur historische Analysen, etwa wie es zu einer genozidalen Praxis in der Polizeiarbeit während des NS-Regimes kam. Gemeinsam untersuchen wir auch die Faszination, die mit der Kultur und dem Leben der Sinti und Roma verbunden war. Diese Faszination zeigt sich unter anderem in der visuellen Inszenierung antiziganistischer Motive in der Kunst. Ein zentraler Angelpunkt in unserer Forschung ist die oft übersehene Selbstbestimmung und Handlungsmacht von Sinti*zze und Rom*nja, wie sie im Kampf um die eigenen Rechte immer wieder in Erscheinung trat. Dies wird beispielsweise deutlich, wenn man einen Blick in rumänische Zeitschriften und Magazine wirft, die von Rom*nja in der Zwischenkriegszeit herausgegeben wurden und die erstmals untersucht werden.“
Darstellungen in Kunst, Populärkultur und Medien treffen auf wissenschaftliche, staatliche und publizistische Diskurse
Die Arbeit der Gruppe ist interdisziplinär und berücksichtigt verschiedene Perspektiven auf Antiziganismus. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit Kunst, Populärkultur und Medien (Teilprojekte 1, 2 und 3 an den Unis Marburg, Regensburg, Gießen, Flensburg und Heidelberg) ebenso wie mit wissenschaftlichen, publizistischen und staatlichen Diskursen (Teilprojekte 4,5 und 6 an den Universitäten Gießen, Flensburg und Heidelberg). So wird beispielsweise erforscht, wie stereotype Darstellungen wie die Handlesekunst, die Sinti*zze und Rom*nja angeblich beherrschen, von Medien eigens konstruiert, in Erzählungen verfestigt und durch Malerei, literarische Texte oder Filme weiterverbreitet werden. Solche Stereotype sind mit dem vorherrschenden "Rasse"-Paradigma der Zeit ebenso verbunden wie mit der Ästhetik des Spektakulären etwa im Kontext der bekannten Weltausstellung in Paris.
Beitrag zur Überwindung historischer Ungerechtigkeit und Förderung von Vielfalt
Die Forschungsgruppe zeichnet sich auch durch ihre breite Vernetzung mit renommierten wissenschaftlichen Einrichtungen und außeruniversitären Partnern aus. Zu den kooperierenden Einrichtungen zählen unter anderem die Central European University (CEU) und das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma. Auch Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, ist einer von vielen langjährigen Unterstützern der Forschungsgruppe. Dieses umfangreiche Netzwerk ist auch Grundlage für die Förderung der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Teilhabe von Sinti*zze und Rom*nja. Dazu gehören die Nutzung digitaler Technologien zur Vermittlung der Forschungsergebnisse, ebenso wie Workshops für junge Wissenschaftler*innen aus der Gruppe der Sinti*zze und Rom*nja. Ein Beirat, bestehend aus acht Vertreter*innen aus der Minderheit und einer Jüdin, begleitet die Forschung. Francesco Arman, Vertreter des Studierendenverbands der Sinti*zze und Rom*nja und Mitglied Beirats, betont: „Durch unsere aktive Beteiligung im Forschungsprozess leisten wir einen Beitrag zur Überwindung historischer Ungerechtigkeit und Förderung von Vielfalt und Gleichberechtigung in der akademischen Landschaft.“
Weitere Informationen zur Forschungsgruppe „Antiziganismus und Ambivalenz in Europa (1850-1950)“ auf der Website der Europa-Universität Flensburg: www.uni-flensburg.de/fogr-antiziganismus