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Konzept
Das Forschungsnetzwerk Re-Konfigurationen erforscht den gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandel in der Region „Middle East and North Africa“ (MENA). Der „Arabische Frühling“ dient als Ausgangspunkt, um politische, soziale, ökonomische und kulturelle Re-Konfigurationen zu analysieren. Die Ereignisse seit 2010/11 verdeutlichen einige konzeptionelle Schwächen der MENA-Regionalforschung wie die Verengung der Perspektive auf politische Eliten und Institutionen oder die ahistorische und essentialisierende Betrachtung religiöser und kultureller Faktoren. Deshalb war und ist es Ziel des Netzwerks, eine stärker akteurszentrierte Perspektive einzunehmen, die Historizität von gegenwärtigen Prozessen zu berücksichtigen und eine an der Forschung zu vergleichbaren Umbrüchen in anderen Weltregionen geschulte Systematik zu entwickeln. Aufbauend auf den in Marburg vorhandenen Expertisen wurden die im Netzwerk enthaltenen Forschungsprojekte entlang von vier aufeinander bezogenen und sich überlappenden Forschungsfeldern bearbeitet.
Inhalt ausklappen Inhalt einklappen Forschungsfeld 1: Geschichte von unten
Der ‚Arabische Frühling‘ war ein von weiten Teilen der scientific community der MENA-Regionalstudien unvorhergesehenes Ereignis. Bis dato hatte die Forschung über zeitgenössische mittelöstliche Gesellschaften eher nach Gründen für das Ausbleiben einer demokratischen Transition in der MENA-Region gesucht und die scheinbare Stabilität autoritärer Systeme betont. Der Fokus ruhte dabei v.a. auf politischen Eliten und formalen Strukturen. Demgegenüber fragt das Forschungsnetzwerk Re-Konfigurationen nach der Handlungsfähigkeit und Wirkungsmacht subalterner Akteure in der jüngeren Geschichte und Gegenwart der Region, konzentriert sich also auf die Auslöser und Träger der Aufstände von 2011 sowie auf bis dato in der Forschung nicht ausreichend beachteten Entwicklungen unterhalb der Ebene politischer Eliten und institutionalisierter Machtverhältnisse. Im Mittelpunkt stehen dabei zivilgesellschaftliche Akteure, Praxen von Alltagswiderstand sowie die Herausbildung (semi-)autonomer sozialer Räume.
Inhalt ausklappen Inhalt einklappen Forschungsfeld 2: Re-Konfigurationen des kulturellen Gedächtnisses
Das zweite Forschungsfeld befasst sich mit zeitgenössischen Re-Konfigurationen des kulturellen Gedächtnisses in verschiedenen Ländern der Region in Folge der Schwächung ehemals hegemonialer großer Erzählungen und der damit korrespondierenden autoritären Systeme. Zu beobachten ist, dass trotz aller Rückschläge wie der Resilienz autoritärer Strukturen oder dem Abgleiten in Bürgerkrieg und Staatszerfall in einer Reihe von Ländern in der MENA-Region die rezenten Entwicklungen zu einer Zunahme von zivilgesellschaftlichen Aktivitäten beitragen, welche offiziell sanktionierte Erinnerungskulturen zu transzendieren vermögen, vor allem in den Bereichen der bildenden und darstellenden Künste, Literatur, Film und Architektur, aber auch im Bereich Bildung und in den Medien. Die Analyse derartiger Entwicklungen und die Untersuchung der Kämpfe zwischen verschiedenen Akteuren um die Definitionsmacht über das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft ermöglichen zudem Rückschlüsse darauf, wie tiefgreifend der gesellschaftliche und politische Wandel in Ländern der Region tatsächlich ist.
Inhalt ausklappen Inhalt einklappen Forschungsfeld 3: Politische Transformationsprozesse und Transitional Justice
Das dritte Forschungsfeld adressiert die Transformationen in der MENA-Region seit 2011 in einem weiteren historischen Kontext unter einem Blickwinkel, der formale Strukturen, staatliche Institutionen, das Handeln politischer Eliten sowie zivilgesellschaftliche Akteure zueinander in Beziehung setzt. Insofern es auch hier um politischen Wandel geht, der unter dem Eindruck öffentlicher Proteste und manifester bzw. von den herrschenden Eliten antizipierter oppositioneller Bewegungen eingeleitet oder auch lediglich angekündigt wird, bestehen deutliche Querverbindungen zum ersten Forschungsfeld. Der Unterschied besteht in dem Fokus auf die sich verändernden Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, also um die Kontextualisierung staatlichen Handelns und Elitenpolitik als Ergebnisse von Aushandlungsprozessen an denen auch unter autoritären Bedingungen verschiedene gesellschaftliche Akteure beteiligt sind. Als politischer Wandel werden dabei nicht allein systemische Veränderungen (‚regime change‘), sondern in einem erweiterten Sinne Veränderungen in den Figurationen von Herrschaft über formale politische Strukturen hinaus auch in anderen Bereichen aufgefasst, in denen Formen von ‚contentious politics‘oder ‚patriarchal bargains‘ im Ringen um politische Hegemonie nachweisbar sind.
Aufgrund der weit verbreiteten politischen Repression in der MENA-Region in den Jahren vor dem ‚Arabischen Frühling‘, sowie des Verlaufs der Aufstände selbst und auch der seitdem zu beobachtenden Entwicklungen gilt ein besonderes Augenmerk im dritten Forschungsfeld den Dynamiken politischen Wandels nach Perioden gewaltsamer Konflikte, die in Form von Wahrheitskommissionen, Sondertribunalen, Historikerkommissionen und ähnlichen Instrumenten des Transitional Justice in verschiedenen Regionen eine institutionalisierten Rahmen gefunden haben. In der MENA-Region wurden derartige Prozesse nur in wenigen Ländern initiiert (Marokko, Irak, Tunesien), mit bislang recht unterschiedlichen und durchwachsenen Erfahrungen. Das signifikanteste Beispiel eines post-revolutionären TJ-Prozesses stellt die nach der Revolution von 2011 in Tunesien eingerichtete Wahrheitskommission, die als Ergebnis einer Interaktion internationaler Akteure und verschiedener Fraktionen der politischen Elite im nachrevolutionären Tunesien gelten kann
Inhalt ausklappen Inhalt einklappen Forschungsfeld 4: Transregionale Verflechtungen
Das vierte Forschungsfeld des Netzwerkes untersucht transregionale Einflüsse und Akteure im Kontext der Re-Konfigurationen (in) der MENA-Region. Dieses Forschungsfeld impliziert zugleich eine stärkere Relativierung des Regionenbegriffes MENA und verweist damit auf die Notwendigkeit, kritische Debatten innerhalb der area studies auch im Bereich der MENA-Regionalwissenschaften stärker zu berücksichtigen. Daraus ergibt sich zunächst eine Rezeption emischer Perspektiven auf regionale Selbstverortungen wie auch etischer (Re-)Konstruktionen räumlicher Zusammenhänge jenseits etablierter Meta-Geographien. In diesem Forschungsfeld werden transregionale und intra-regionale Verflechtungen auf unterschiedlichen Ebenen ebenso thematisiert wie konzeptionelle und methodische Herausforderungen einer transregionalen Perspektive in der akademischen Wissensproduktion. Transregionale Dimensionen und globale Kontexte sind von großer Bedeutung für das Verständnis vergleichbarer Protestdynamiken in unterschiedlichen Regionen, für die aktuellen Flucht- und Migrationsbewegungen und nicht zuletzt deutlich sichtbar anhand medialer Austauschprozesse sowie im Bildungsbereich.
Ziel der zweiten Phase ist es, die bisher in diesen Forschungsfeldern gewonnen empirischen Erkenntnisse gezielt weiter zu vertiefen und stärker in konzeptionelle und methodologische Überlegungen zur Re-Konfiguration politischer und gesellschaftlicher Ordnungen zu überführen. Damit soll ein substantieller Beitrag zur Weiterentwicklung und Neukonzeption der MENA-Regionalwissenschaften geleistet werden.
Dabei soll drei analytischen Kategorien, die sich im Forschungsprozess der ersten Förderphase immer wieder als besonders relevant erwiesen haben, eine Schlüsselrolle zukommen: „Raum“, „Generation“ und „Repräsentationen“.
Inhalt ausklappen Inhalt einklappen Analytische Achse 1: Raum
Die Entwicklungen in der MENA-Region seit 2011 stellen die konzeptionelle Tauglichkeit des „MENA“-Begriffes auf dem Prüfstand. Die die auch vom Forschungsnetzwerk Re-Konfigurationen formulierte Kritik an einer auf Raumcontainer (z.B. Territorialstaat, Weltgroßregionen) beruhenden Betrachtung (META 4/2015, „Area Studies“) produktiv weitergeführt werden. So geht es nun darum, in einer multiskalaren Perspektive transnational und transregional offene Verflechtungsräume, querliegende Großräume, Grenzräume, regionale Teilräume sowie (trans-) lokale Kontakte und Orte („Stadt“) in den Fokus zu rücken. Wir verstehen in diesem Zusammenhang Raum als ein historisch hergestelltes Produkt, das auch auf kollektiv geteilten Repräsentationen (Bezeichnungen, Symbolen, Karten etc.) beruht.
Aus unterschiedlichen Epochen stammende Raumideen bilden ein Reservoir von identitären Bezugspunkten, die immer wieder in neuen Konfigurationen reaktiviert werden können, zumal wenn eine hegemoniale Struktur ins Wanken gerät. Wir möchten überprüfen, ob sich die MENA-Region anstelle eines vermeintlich festgefügten geographischen Raums adäquater als ein in sich äußerst diverses, wenn auch dicht verwobenes Ensemble von einander überlappenden „Arenen“ konzeptualisieren lässt, die auf wandelbaren Geographien dichter sozialer Beziehungsgeflechte beruhen.
Neben Räumen des Konflikts wird auch der Blick geschärft für die Entstehung und Bewegung von Räumen des wirtschaftlichen Austauschs und des Neuverhandelns von Normen, Werten und Identitäten durch Formen von Kooperation. Eine de-territorialisierte Konzeption von Raum schließt ebenfalls den post-nationalen „Zwischenort“, „Übergangsraum“ oder „dritten Raum“ der kulturellen Produktion ein sowie Räume der Erinnerung und des kulturellen Gedächtnisses. Ferner gilt es zu klären, wie die im digitalen Zeitalter radikal veränderten räumlichen und zeitlichen Modalitäten der Interaktion die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse strukturieren.
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Nach dem „Arabischen Frühling“, der weithin als Ergebnis jugendlichen Protests gefeiert wurde, muss nicht zuletzt die Frage geklärt werden, welchen biographischen Mustern Prozesse des Engagements wie auch des De-Engagements folgen. Das Phänomen „Jugend“ wird dabei weniger als quantitativ klar definierte Lebensphase, sondern als psychosozialer Möglichkeitsraum gefasst. Dieser wird zwar aus der gesellschaftlichen und familialen Generationenabfolge hergeleitet, kann in seiner jeweiligen Qualität jedoch nur über die Deutungsmuster und Relevanzstruktur der Beforschten selbst und somit deren eigene Repräsentationen erschlossen werden.
Aufgabe wird es im Folgenden sein, bisher weitgehend unverbundene Diskussionsstränge um den Begriff Generation aus den systematischen Disziplinen und den Regionalwissenschaften produktiv zusammenzuführen und gleichzeitig den Generationenaspekt der Verzeitlichung systematisch zu Raum und Repräsentationen in Bezug zu setzen.Inhalt ausklappen Inhalt einklappen Analytische Achse 3: Repräsentation
In konfliktförmigen wie kooperativen Aushandlungsprozessen kommunizieren Akteure durch Worte, Symbole, Bilder, Narrative und Performanzen und stellen durch solche Repräsentationen Bedeutung her (Hall). Als Ressourcen des Handelns und organisierte Formen von Wissen strukturieren sie die Re-Konfiguration von sozialen Interaktionssystemen und verändern sich dabei selbst.
In der zweiten Förderphase fokussieren wir auf ästhetische Repräsentationen von Herrschaft, Widerstand, Gerechtigkeit und Märtyrertum, die als zentrale Motive politischer Diskurse die politischen Re-Konfigurationen widerspiegeln und zugleich strukturieren. Untersucht werden außerdem Formen und Funktionen regionaler und territorialer Repräsentationen politischer Akteure, insbesondere der neuen quasi-staatlichen. Außerdem nehmen wir Repräsentationen von Raum und Ordnung in den Blick, die wirtschaftliche Akteure in ihren aktuellen und langfristigen Kooperationen entwickeln oder sich aneignen. Indem wir dabei territoriale Grenzziehungen als Geschichtsnarrative erfassen, die intergenerationell weitergegeben und neu ausgehandelt werden, beziehen wir hier Raum, Generation und Repräsentationen systematisch aufeinander.