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„Außenpolitik Live“ - Deutscher Botschafter aus Tunesien zu Gast am Centrum für Nah-und Mitteloststudien der Philipps-Universität Marburg
Botschafter Dr. Andreas Reinicke präsentierte am Donnerstag, dem 27.11.2014, den interessierten Marburger Bürgern in einem einstündigen Vortrag das Thema „Die Transformationsprozesse in Tunesien im Kontext deutscher Außenpolitik“. Das Gespräch fand im Kontext der bundesweiten Veranstaltungsreihe „Außenpolitik Live“ des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) statt. In diesem Rahmen stellen sich Diplomaten für einen Bürgerdialog zu aktuellen Themen der bilateralen und internationalen Beziehungen zur Verfügung. Prof. Dr. Rachid Ouaissa, Leiter des Fachgebiets „Politik des Nahen und Mittleren Osten“ am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS) der Philipps-Universität Marburg und Sebastian Körber, stellvertretender Generalsekretär des ifa, begrüßten die anwesenden Gäste und führten mit kurzen Beiträgen inhaltlich und konzeptionell in die Veranstaltung ein.
„Das letzte Mail saß ich auf Ihrer Seite.“ Mit diesen Worten und einem Grinsen begrüßte Botschafter Dr. Reinicke das Marburger Plenum und verwies damit auf seine Studienzeit im nahegelegenen Gießen. Er scherzte weiter: „Aber Zeiten ändern sich halt - und wie es sich für einen Botschafter gehört, trage ich heute auch eine Krawatte! Ich freue mich hier bei Ihnen sein zu dürfen.“
Bevor Botschafter Dr. Reinicke mit seiner Analyse des tunesischen Übergangsprozesses und den daraus resultierenden Konsequenzen und Maßnahmen deutscher bilateraler Außenpolitik begann, betonte er die Relevanz solcher Veranstaltungsformate aus Sicht seiner Funktion als politischer Entscheidungsträger. Deutsche Außenpolitik schließe aus seiner Sicht alle Bürger mit ein und dürfe nicht nur hinter verschlossenen Kabinetttüren entschieden werden. Die Verknüpfung zwischen Bürgern und politischen Entscheidungsträgern, so Reinicke, sei demnach unverzichtbar.
Ausgehend von ausgewählten Kontextbedingungen, die das gesellschaftlichen Aufbegehren im ersten und den systemischen Umsturz im zweiten Schritt beeinflusst haben, stellte Botschafter Dr. Reinicke einen Querschnitt wichtiger Ereignisse des politischen Übergangsprozesses dar. Vor dem Hintergrund dieser Bestandsaufnahme des „tunesischen Wegs“ verwies der Botschafter immer wieder auf zwei zentrale Entwicklungsmerkmale des tunesischen Übergangsprozesses: die grundlegende Ausrichtung nach demokratischen Regeln und die Konsensorientierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure in dieser Zeit.
Nachdem durch die Verabschiedung der Verfassung vom Januar 2014 und mit der Durchführung der ersten freien demokratischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Oktober und November 2014 zentrale Bausteine einer partizipativeren Gesellschaftsordnung bereits erzielt werden konnten, stelle sich laut Dr. Reinicke aktuell die Frage nach der Weiterentwicklung Tunesiens. In diesem Kontext seien insbesondere drei Felder von zentraler Wichtigkeit: erstens die Fortführung des politischen Prozesses, zweitens die Eindämmung sicherheitspolitischer Risiken und drittens die Belebung wirtschaftlicher Entwicklung.
In Bezug auf das deutsche Engagement in Tunesien, verwies der Botschafter auf zwei Hauptgründe, die die gegenwärtige Entwicklung Tunesiens im doppelten Sinne wichtig für die deutsche Außenpolitik mache. Hierbei sei erstens der gegenwärtige regionale Kontext zu nennen. So führt Dr. Reinicke an, dass noch vor wenigen Jahren mit Blick auf die südlichen Mittelmeeranrainer davon auszugehen war, dass sich eine stabile Gruppe an Freunden entwickelt habe. Daraus sei jedoch statt einer „group of friends“, eine „group of fire“ geworden, die er als Risiko für Europäer und Deutsche begreift. Deswegen bestünde ein gesteigertes Interesse daran, dass sich, zumindest in einigen Staaten wie Tunesien, Stabilität entwickeln würde. Zweitens begünstige der Entwicklungscharakter Tunesiens ein deutsches Engagement. Es sei die Sichtweise aktueller deutscher Außenpolitik, dass das gegenwärtige Gesellschaftsmodell in Tunesien, als erster Versuch einer langfristigen „Stabilität von unten“ durch die Gesellschaft zu verstehen sei. Man habe Interesse daran nicht nur eine Stabilität von oben, wie sie beispielsweise in Ägypten durch das Militär herbeigeführt wird, zu haben. Tunesien ist somit als Modell zu verstehen, dass es zu unterstützen gilt.
Aufgrund dieser Beispielfunktion Tunesiens habe sich die politische Dimension deutlich intensiviert und finanzielle Unterstützung in Tunesien seit 2011 zwischen 6 und 7 Mal vervielfacht. Damit einhergehend sei sowohl der Instrumentenkasten der Politik als auch die physische Präsenz deutscher Institutionen hinsichtlich der Außenpolitik in Bezug auf Tunesien immer größer und breiter geworden. So sei die Deutsche Botschaft in Tunis nach Tel Aviv und Kairo mittlerweile zur drittgrößten deutschen Vertretung in der MENA-Region avanciert. Hinzu kommen seit 2011 Definitionen von Programmlinien für neue thematische Schwerpunktbereiche von deutscher Seite. Hierzu zählen vor allem Regionalisierung, Beschäftigungsförderung und Erneuerbare Energien.
Abschließend resümiert Botschafter Dr. Reinicke, dass die Zwischenbilanz des tunesischen Transformationsprozesses Erfolge vorweise, deutsche Außenpolitik ein Interesse an diesem habe und daher Tunesien weiterhin begleite. Allerdings seien die Unterstützungsleistungen eher als kleine Beiträge zur Selbsthilfe zu verstehen. „Aber wir können mit diesem Beispiel eine Ermutigung geben und den Akteure, wo immer Sie sich im gesellschaftlichen Umfeld befinden, dabei helfen, diese Richtung weiterzuführen.“
Die Veranstaltung endete mit einer offenen Fragerunde, die zunächst im Veranstaltungsraum und dann bei einem Sektempfang im Foyer des CNMS fortgesetzt wurde. Die anwesenden Gäste in Marburg nahmen den deutschen Botschafter aus Tunis beim Wort und löcherten ihn mit Detailfragen. Inhaltliche Rückfragen, insbesondere zum Modellcharakter Tunesiens und zu deutscher Außenpolitik, sowie zu praktischen VISA-Angelegenheiten, machten die Veranstaltung zu einem lebendigen Austausch zwischen Publikum und praktischer Politik.
Verfasst von Julius Dihstelhoff - Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Politik des Nahen und Mittleren Ostens
Erschienen in der Deutsch-Tunesischen Rundschau 01/15 - S. 30-32.