15.01.2024 Keine Hinweise auf ein „Gender Noten Gap“ am Fachbereich Rechtswissenschaften
Eine von Prof. Dr. Stefanie Bock, Leslie Heimann und Lisa Gollnick durchgeführte Untersuchung der Prüfungsergebnisse in den Anfänger*innen- und Fortgeschrittenenübungen ergab keine Hinweise auf geschlechtsspezifische Diskriminierungen bei der Benotung von Studienleistungen am Fachbereich Rechtswissenschaften.
Diskriminierungsrisiken im Staatsexamen
Im Jahr 2014 zeigten sich in einer Untersuchung von Towfigh, Traxler und Glöckner zu den Erfolgsfaktoren des staatlichen Teils der Ersten Juristischen Staatsprüfung – dem ersten Staatexamen – erste Anhaltspunkte für systematische Diskriminierungseffekte bei der Notenvergabe (Towfigh et al., Zur Benotung in der Examensvorbereitung und im ersten Examen – Eine empirische Analyse, ZDRW 2014, 8). In einer Nachfolgeuntersuchung befassten sich die Forschenden dann vertieft mit der Frage, ob sich die festgestellten Notendifferenzen auf geschlechts- und/oder herkunftsspezifische Diskriminierungen zurückführen lassen (Towfigh et al., Geschlechts- und Herkunftseffekte bei der Benotung juristischer Staatsprüfungen, ZRDW 2018, 115). Nach Auswertung einer umfassenden Datengrundlage zeigte sich, dass die Abschlussnoten von Frauen in der staatlichen Pflichtfachprüfung durchschnittlich rund 0,3 Notenpunkte schlechter waren als die von Männern. Gravierende Notenunterschiede zeigte die Analyse mit Blick auf Examinierte mit sog. Migrationshintergrund: 1,42 Notenpunkte Differenz zuungunsten der migrantischen Prüflinge.
Hierbei handelt es sich allerdings nur um Korrelationen; ein eindeutiger Kausalzusammenhang zwischen Geschlechts- bzw. Herkunftszuschreibung und Notenvergabe konnte nicht nachgewiesen werden. Dafür, dass hierbei auch Diskriminierungseffekte eine Rolle spielen, spricht aber, dass das Ausmaß der Notenverbesserung in der mündlichen Prüfung von der Besetzung der Prüfungskommission abhängig ist. So erreichen Frauen bei einem rein männlich besetzten Prüfungsgremium bei gleichen Vornoten mit einer 6 % geringeren Wahrscheinlichkeit als Männer die Notenschwelle zum „vollbefriedigend“ oder „gut“. Ist zumindest eine Frau in der Kommission vertreten, verschwinden diese Notendifferenzen.
Erste Überprüfung der Notenvergabe am Fachbereich Rechtswissenschaften
Vor diesem Hintergrund wollten Prof. Dr. Stefanie Bock, Vorsitzende der Gleichstellungskommission des Fachbereichs Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg, und ihre Mitarbeiterinnen Leslie Heimann und Lisa Gollnick herauszufinden, ob sich bereits während des Studiums geschlechtsspezifische Notendivergenzen zeigen. Zu diesem Zweck wurden die Prüfungsergebnisse der Übungskohorten der Anfänger*innen- und Fortgeschrittenenübungen aller Semester vom Sommersemester 2019 bis 2022 evaluiert. Einschränkungen ergaben sich allerdings daraus, dass das integrierte Campus-Management-System der Philipps-Universität Marburg (MARVIN) die Studierenden im Untersuchungszeitraum grundsätzlich in einem binären Geschlechtersystem („w“ und „m“) erfasst hat. Seit 2019 besteht zwar die Möglichkeit, sich als „divers“ eintragen zu lassen. Fraglich ist allerdings, unter welchen Rahmenbedingungen und in welchem Ausmaß von dieser Option Gebrauch gemacht wird. Jedenfalls musste aufgrund der Beschränkungen des Datensatzes auch die Auswertung der (notwendig verkürzenden) binären Einteilung in „männlich“ und „weiblich“ folgen.
Ziel der Untersuchung war es, die einzelnen Übungen getrennt nach Fachsäule (Zivilrecht, Öffentliches Recht und Strafrecht) zu analysieren, Durchschnittsnoten zu ermitteln und geschlechtsbezogen zu vergleichen. In diesem ersten Zugriff war es allerdings aufgrund der schieren Datenmenge nicht möglich, die Auswertung auf Prüflinge zu beschränken, die alle Examensvoraussetzungen erfüllen bzw. die im Betrachtungszeitraum sowohl die korrespondierende Anfänger*innen- und Fortgeschrittenenübung einer Fachsäule absolviert haben. Zudem war zu berücksichtigen, dass die Bewertung einer Prüfung mit 0 Punkten ambivalent ist. Sie kann sowohl bedeuten, dass die erbrachte Leistung „ungenügend“ ist, als auch, dass die Prüfung nicht angetreten wurde. Letzteres ist vor allem deswegen relevant, weil sich Studierende der Rechtswissenschaften beliebig häufig zur Fortgeschrittenenübung anmelden können, ohne dass dies prüfungsrechtliche Konsequenzen hätte. Um hieraus resultierenden Verzerrungen vorzubeugen, wurde nur Bewertungen ab einem Punkt aufwärts berücksichtigt.
Keine Notendifferenzen bezüglich der jeweils besten Klausurergebnisse
Die kumulierte Auswertung der Prüfungsleistungen nach Durchschnittsnoten in den Anfänger*innen- und Fortgeschrittenenübungen ergibt folgendes Bild:
Im Strafrecht beträgt die Durchfallquote insgesamt 29,7 %; geschlechtsspezifische Unterschiede lassen sich kaum feststellen: Sie liegt bei 29,74 % bei den weiblichen und bei 29,63 % bei den männlichen Prüflingen. Leichte Differenzen ergeben sich hingegen bei der Spitzengruppe: 5,83 % der männlichen Studenten erreichten ein „vollbefriedigend“. Bei den Frauen lag die Quote bei 4,84 %. Ähnlich sieht die Situation im Öffentlichen Recht aus. Die Note „mangelhaft“ haben 27,14 % (w) bzw. 24,21 % (m) der Prüflinge erhalten. Im Bereich des „vollbefriedigend“ fällt die Diskrepanz wieder etwas deutlicher aus. Die Quote liegt bei 8,00 % (w) bzw. 9,32 % (m). Im Zivilrecht scheinen die Unterschiede am deutlichsten ausgeprägt zu sein. 32,53 % der von weiblichen Prüflingen geschriebenen Arbeiten mit „mangelhaft“ bewertet; bei den männlichen Kandidaten lag der Anteil hingen bei 26,34 %. 7,02 % der Frauen und 8,43 % der Männer erhielten ein „vollbefriedigend“. Die Durchschnittsnoten von männlichen und weiblichen Kandidaten waren im Strafrecht identisch; im Öffentlichen Recht schnitten Männer im Schnitt um 0,2 Punkte, im Zivilrecht um 0,4 Punkte besser ab.
Diese Auswertungsweise lässt aber unberücksichtigt, dass die Kandidatinnen in jeder Übung bis zu drei Klausur schreiben können (aber nur eine bestehen müssen). Die Durchschnittsnote hängt daher davon ab, mit welchem Vorbereitungsaufwand wie viele Klausuren geschrieben werden. Bezieht man in die Auswertung pro Prüfling nur das jeweils beste erzielte Klausurergebnis ein, sind keine statisch relevanten Unterschiede mehr feststellbar. Im Zivilrecht liegt die Notendifferenz dann bei 0,01, im Öffentlichen Recht bei 0,06 und im Strafrecht bei 0,07 Notenpunkten.
Unterschiede in den Durchschnittsnoten w / m bei dem bestem Klausurergebnis | ||||||
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Diese Zahlen indizieren, dass die Notenvergabe im Studium in Marburg nicht geschlechtsspezifisch geprägt ist. Dies aus Sicht des Fachbereichs erfreuliche Ergebnis macht es aber umso dringlicher, potentielle Geschlechtereffekte in der Examensvorbereitung und der Examensbenotung näher zu untersuchen.