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Geschicht des Marburger Instituts für Empirische Kulturwissenschaft
Die Gründung des Instituts und Aufbruch des Faches
Die Gründung des Instituts 1960 markiert auch einen Aufbruch des Faches zu neuen methodischen und theoretischen Ausrichtungen, zur kritischen Distanzierung und schließlich gründlichen Aufarbeitung der belasteten Vergangenheit.
1959 wurde Gerhard Heilfurth (1909-2006) auf einen Lehrstuhl für Germanistik und Volkskunde nach Marburg berufen. Als er im Jahr darauf das Institut gründete, wählte er den Namen „Institut für mitteleuropäische Volksforschung“, um mit der Forschung den wissenschaftlichen Anspruch des Faches auszudrücken und mit dem Mitteleuropa-Begriff die „Deutsche Volkskunde“ germanistischer Prägung zu überwinden. Ina-Maria Greverus (1929-2017), die als Schülerin Gottfried Henßens bereits in Marburg war und das Erzählarchiv betreute, konnte er als Mitarbeiterin für den Aufbau des Instituts und die Arbeit am Bergbau-Sagenkatalog gewinnen, mit dem er seine Montankulturforschung etablierte. Heilfurths Orientierung an der amerikanischen Kulturanthropologie griff Greverus nach ihrer Habilitation 1970 und dem Ruf nach Frankfurt im Aufbau des Instituts für Kulturanthropologie an der Goethe-Universität produktiv auf. Ingeborg Weber-Kellermann (1918-1993) kam 1960 aus Berlin ans Marburger Institut, wo sie sich 1965 mit einer kritischen Revision der ersten volkskundlichen Enquête von 1863 habilitierte. Als letzte Dekanin der Philosophischen Fakultät gestaltete sie die Universitätsreform ab 1970 mit, die mit dem Fachbereich Gesellschaftswissenschaften die sozialwissenschaftliche Profilierung des Faches ermöglichte: Sozialkultur der Familie und Kindheit, Brauchforschung als Analyse sozialen Interagierens und normativen Verhaltens, Interethnik als Prozess des kulturellen Austauschs waren thematische Felder in Lehre und Forschungsprojekten, u.a. in Ungarn und Rumänien. Hans-Friedrich Foltin (1937-2013) entwickelte die Medienforschung als zentralen Schwerpunkt des Studienaufbaus. 1974 zielte die Umbenennung in „Institut für Europäische Ethnologie“ auf eine weitere Öffnung des Faches, nicht im Sinne einer „Ethnologie Europas“, sehr wohl aber auf eine Überwindung von Grenzen, auch Grenzen der Wahrnehmung.
Die Umbenennung des Instituts von "Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft" in "Empirische Kulturwissenschaft" erfolgte im Jahr 2024 und folgte damit dem Beschluss der Umbenennung des Dachverbandes Deutsche Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft DGEKW (ehemalig: Deutsche Gesellschaft für Volkskunde dgv) im Jahr 2022.
Inhaltliche Ausrichtung des Instituts: Prozesse, Kontinuitäten und Brüche
Seit seiner Gründung und über die Öffnung der Fachperspektiven hinaus erfüllt das Institut auch Aufgaben der Regionalforschung: Forschungen zur jüdischen Kulturgeschichte in Hessen, zur regionalen Minderheiten- und Migrationsgeschichte, zu Bau- und Wohnkultur, Ernährung, Notzeiten und Festtagen. Peter Assion (1941-1994) brachte mit seiner Berufung 1981 den Namenszusatz „Kulturforschung“, den Aufbau eines Forschungsprojekts zur hessischen Amerikaauswanderung im 19. Jahrhundert sowie die Arbeiterkulturforschung ein. Martin Scharfe formte ab 1985 die kulturwissenschaftliche Profilierung des Instituts, die mit der Umbenennung in „Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft“ 1995 auch im Namen verankert wurde, und schärfte den Blick auf die Brüche, Missverständnisse, Irrtümer in kulturellen Prozessen. Christel Köhle-Hezinger brachte 1995-1998 Perspektiven auf biographische Übergänge, Harm-Peer Zimmermann 1999-2012 kulturtheoretische Ansätze sowie moderne Ansätze zur Grimm-Forschung, Ina Merkel 2000-2021 Aspekte der Produktion und gesellschaftlichen Wirkung medialer Bilder sowie zu Kultur und Gesellschaft in der DDR, Karl Braun 2002-2020 Blicke auf Zeitgeschichte, Gedenkstättenarbeit, auf Kultur und Geschichte in Tschechien sowie zu mediterranen Kulturen in die Forschungsschwerpunkte des Instituts ein. Die Geschichte des Instituts zeigt damit die breiten, vielfältigen Möglichkeiten auf, die unser Fach bietet: sich auch mit kleinen, alltäglichen Dingen zu befassen, um darin exemplarisch die großen Dimensionen kultureller Prozesse verstehen zu können.