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Projekte
Die Professur ist aktiver Teil der Forschungsgruppe ›Staatsprojekt Europa‹.
Staatsprojekt Europa I (2009 – 2014)
Die Forschungsgruppe ›Staatsprojekt Europa‹ konstituierte sich 2009 mit einem Forschungsprojekt zur Europäisierung der Migrationspolitik. Die theoretischen Prämissen dieses Projektes gehen auf die materialistische Staatstheorie zurück. Aus diesem Projekt ging auch der Name der Forschungsgruppe hervor: Wir stellten die These auf, dass die Suche nach einem ›Staatsprojekt Europa‹ begonnen hat, und dass sich dies gerade im Feld der Migrationspolitik untersuchen lasse. Ein Staatsprojekt ist ein hegemoniales politisches Projekt, welches in den Staatsapparaten erarbeitet wird und darauf zielt, die Einheit der konkurrierenden und inkohärenten Staatsapparate zu einen (z.B. Nation und Wohlfahrtstaat im fordistischen Nationalstaat).
Dass es aus unserer Perspektive auf ein solches Staatsprojekt ankommt, um die in der Europaforschung breit diskutierte Frage nach dem staatlichen Charakter der Europäischen Union zu bestimmen, hängt mit einer weiteren Grundannahme des Projekts zusammen: Dass nämlich die Dichotomie: Mitgliedsstaaten/EU inzwischen die Realität nicht mehr angemessen erklären kann, dass sich vielmehr ein multiskalares Staatsapparate-Ensemble herausgebildet hat, welches sowohl aus nationalen wie supranationalen (und auch subnationalen) Apparaten besteht, die in vielfältiger Weise mit einander konkurrieren. Um aber gesellschaftliche Kohäsion gewährleisten zu können, sind Staaten im Kapitalismus auf ein diese Apparate einendes Staatsprojekt angewiesen.
Wir wollten zeigen, dass mit der Herausbildung einer genuin europäischen Migrationspolitik – also der gemeinsamen Zuständigkeit für die Binnen- wie Außengrenzen, einer eigenen Grenzagentur, Regelungen zur Visa- und Asylpolitik und der Arbeitsmigration – erste Momente eines europäischen Territoriums sowie eines damit verbundenen Staatsprojekts entstanden sind.
Schließlich – und das ist die dritte zentrale Prämisse unseres Projekts – gehen wir davon aus, dass dieser Prozess ein umkämpfter ist – umkämpft nicht lediglich auf dem politischen Terrain, sondern in einem in erster Linie gesellschaftlichen Auseinandersetzungsprozess, in dem gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse die Grundlage der Auseinandersetzungen bilden. Um diese Annahme für empirische Forschung zu öffnen, haben wir das Konzept der ›Hegemonieprojekte‹ weiterentwickelt. Hegemonieprojekte sind Bündel von Strategien gesellschaftlicher Akteur*innen, die aufgrund ihrer sozialstrukturell differenten Verortung über unterschiedliche Ressourcen in diesen Auseinandersetzungen verfügen. Mit diesen Prämissen wollten wir jeweils in den konkreten Fallstudien nachzeichnen, wie staatlichen Politiken und Apparate als materielle Verdichtungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse (Nicos Poulantzas) zu analysieren sind, anstatt sich politizistisch ausschließlich auf die Veränderung des politischen Feldes zu fokussieren und damit gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse auszublenden. Die Ergebnisse unserer gemeinsamen Untersuchungen sind erschienen im Forschungsband »Kämpfe um Migrationspolitik. Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung«, im transcript Verlag 2014 [Link einfügen].
Staatsprojekt Europa II (2017 ff.)
Nachdem unser Forschungsprojekt 2014 beendet war, spitzte sich die bereits 2007 begonnene Krise der EU dramatisch zu. Vor allen Dingen zwei Ereignisse erschütterten das prekäre, erst in den Anfängen steckende Staatsprojekt:
Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, auf welche die europäischen Staatsapparate mit Ad-Hoc Maßnahmen reagierten, die sich in vielen Fällen jenseits rechtlicher Regelungen und demokratischer Prozesse abspielten und im Frühsommer 2015 in der sogenannten »Griechenlandkrise« gipfelten, die in Wirklichkeit eine grundlegende Krise der Demokratie und der Austeritätspolitik der EU war.
Das zweite politische Ereignis ist ebenfalls im Jahr 2015 zu verorten, der »Sommer der Migration« (Kasparek/Speer). Das europäische Grenzregime, dessen Entwicklung wir seit seinen Anfängen in den 1990er Jahren untersucht hatten, kollabierte in diesem Sommer. Unsere bisher gewonnenen Ergebnisse bestätigten sich in der Weise, dass sich nun deutlich zeigte, dass das prekäre Staatsprojekt, basierend auf dem lediglich kleinsten gemeinsamen Nenner und einem neoliberalen Migrationsmanagement nicht krisenfest war.
An dieser zweifachen Krise setzt unser neues Forschungsprojekt an, indem es untersuchen will, wie diese Krise des Staatsprojekts Europa einher geht mit einer Krise der liberalen demokratischen Institutionen Europas. Sowohl die Krisenmaßnahmen der »economic governance« als Reaktionen auf die Wirtschaftskrise als auch die Versuche, das Grenzregime wieder zu errichten, gehen einher mit Entdemokratisierungsprozessen. Diese wiederum haben demokratische Protesten und neue Demokratiebewegungen zur Folge. Die weltweiten Platzbesetzungsbewegungen und das Entstehen neuartiger Bewegungsparteien leisten den Entdemokratisierungsprozessen nicht nur Widerstand, sondern erschaffen dabei zugleich neue demokratische Formen des Politischen. Diese sozialen Kämpfe führen wie auch in vergangenen Auseinandersetzungen um Demokratie durch Phasen des Aufschwungs und Phasen der großen und kleinen Krise der Demokratie. Dabei markieren die großen Krisen den Umschlagspunkt hin zu einer autoritären Entwicklung bis hin zum Ausnahmestaat. Progressive Wellen hingegen kamen auf, da immer wieder Gegentendenzen und rebellischer Willen zur Demokratie entstanden.
Das Ziel des Forschungsprojekts ist es daher, mit dem von uns entwickelten und weiter zu entwickelnden methodisch-theoretischen Ansatz, der Frage nach dem aktuellen Zustand der europäischen Demokratie nachzuspüren, indem wir eine empirische Analyse der Phasen von Demokratie im Kontext einer Konjunkturanalyse der Formen staatlicher Herrschaft und sozialer Proteste unternehmen. Dies beinhaltet sowohl theoretische Analysen wie auch empirische Untersuchungen.
Die neue Forschungsgruppe: Unsere Forschungsgruppe hat sich um einige Personen erweitert – das Arbeitsprogramm ist das gleiche geblieben. Es ist auf eine kollektive Anstrengung, auf Engagement, Erkenntnisinteresse und die Motivation angewiesen, die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur beschreiben, sondern auch emanzipativ verändern zu wollen. Es lässt sich mit Bourdieus Untersuchungen zum Staat folgendermaßen zusammenfassen:
»Das Arbeitsprogramm, das ich entwickeln will, ist praktisch nicht zu bewältigen, jedenfalls nicht von einem einzelnen. Die positivistische Vorstellung von Wissenschaft, die von den Wissenschaftlern geradezu verlangt, niemals einen Schritt vorwärts zu tun, den sie nicht augenblicklich beweisen können, hat den einschüchternden Effekt, den Geist zu beschneiden und zu verkürzen. Die Funktion der Wissenschaft besteht ja nicht zuletzt darin, bewusst Forschungsprogramme zu entwerfen, die als fast unrealisierbar gelten; solche Programme zeigen, dass die Forschungsprogramme, die als wissenschaftlich gelten, weil sie realisierbar sind, nicht unbedingt wissenschaftlich sind. Statt die Wahrheit dort zu suchen, wo ist, führt die positivistische Kapitulation dazu, dass man sie unter der Laterne sucht, dort, wo man sie sehen kann…« (Pierre Bourdieu [2014/1990], Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989-1992, Frankfurt am Main, S. 133).