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Dipl.-Soz. Carina Liebler

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Promotionsprojekt

Moralisierungen vor Gericht. Erkundungen der gesellschaftlichen Einbettung der Strafgerichtsinteraktion

Das Verhältnis von (Straf-)Recht und Moral wird in der Forschung ganz unterschiedlich theoretisiert: Der Moral wird eine Begründungsfunktion für das Recht zugeschrieben (Durkheim), aus rechtspositivistischer Perspektive wird die strikte Trennung von Recht und Moral postuliert. Moralische Vorstellungen und Recht geraten in Konflikt (z.B. bzgl. des Abtreibungsrechts oder zivilen Ungehorsams), das Recht wird als Instrument der Unterdrückung angesehen (kritisch-marxistische Perspektive) oder als ungeeignetes Mittel, das soziale Leben zu ordnen (Loick) – und damit selbst moralisiert. Der modernisierte Rechtspositivismus H.L.A. Harts und die Rechtstheorie Luhmanns betonen die Trennung von Recht und Moral, erkennen aber an, dass Moral bei der Entstehung und Anwendung von Recht eine Rolle spielen kann.

Das Promotionsvorhaben liefert einen empirisch begründeten Beitrag zur Diskussion um das komplexe Verhältnis von Strafrecht und Moral, indem es eine Systematisierung der moralischen Bewertungen vornimmt, die in der strafrechtlichen Hauptverhandlung und ihrer öffentlichen Thematisierung artikuliert werden.  Dabei interessiert es sich sowohl inhaltlich für die Rechtfertigungsordnungen, die moralische Bewertungen begründen sollen als auch formal für die interaktiven Formen und Stile, in denen Moralisierungen vorgetragen werden.

Die Erkundung der gesellschaftlichen Einbettung der Strafgerichtsinteraktion erfolgt auf Basis ethnografischer Protokolle strafrechtlicher Hauptverhandlungen, die aus einer Kombination interaktions-, wissens- und moralsoziologischer Perspektiven analysiert werden. Die Studie geht der Frage nach, wie Menschen, die vor Gericht stehen, beurteilt werden. Inwiefern werden (nicht-strafrechtliche) Moralisierungen in die Interaktion hineingetragen bzw. ausgespart? Wie wird in der Gerichtsinteraktion moralisiert? Was wird wiederum in die Öffentlichkeit hinausgetragen, in Situationen am Rande des Verfahrens und die Medien? Wie kann der strafgerichtliche Beitrag zu den Debatten in den dominierenden Konfliktarenen (Migration und Klima) eingeschätzt werden?

Die Hauptverhandlung wird als Situation gefasst und sowohl hinsichtlich ihrer situativen Eigenlogik als auch mit Blick auf die Situierung außersituativer Elemente untersucht. Das umfasst (1.) die Interaktionssituation als raum-zeitliche Einheit (Erving Goffman) und (2.) die diskursiven und sozialweltlichen Bedingungen des Wissens, das in die Situation eingebracht wird (Adele Clarke). Die Untersuchung widmet sich dem „hochinfektiösen Gegenstand“ (Luhmann) Moral mit Hilfe der Reflexiven Moralsoziologie (Nieswand). Statt die Differenzierungen zwischen Moral, Ethik, Normativität, Politik und Wissenschaft analytisch vorauszusetzen, können so „gerade die Verbindungen, wechselseitigen Durchdringungen und Grauzonen, die von diesen Distinktionsgesten verdeckt werden“ (Nieswand) beleuchtet werden.

Die Untersuchung zeigt, dass verschiedene Grade der, von moralischen Bewertungen durchzogenen, Selbst- und Fremddarstellungen von Angeklagten (und Geschädigten) existieren. Das Ausmaß an Fremddarstellungen der Angeklagten steigt mit der Schwere der Vorwürfe und vorangegangenen Kontakten zu Hilfs- und Kontrollinstitutionen, was die Freiheitsgrade ihrer Selbstdarstellung einschränkt. In den Darstellungen können verschiedene Arten und Stile von Moralisierungen ausgemacht werden, die nach Adressaten(kreis), Funktion und dahinterliegenden Rechtfertigungsordnungen unterschieden werden können. Es offenbaren sich hierbei Spannungen der strafrechtlichen mit anderen Rechtfertigungsordnungen (z.B. der ökologischen), für die die Interaktions- und Rechtfertigungsordnung des Strafgerichts Lösungen bereithält. In der Interaktion aufscheinende Dilemmata werden identifiziert und im Lichte der Bedingungen aus öffentlich-medialen und Fachdiskursen betrachtet.

 

  • Publikationen

    Liebler, Carina/ Zifonun, Dariuš (2020): Die Interaktionsordnung strafrechtlicher Hauptverhandlungen: Strukturelemente ihres Vollzugs und die Bewältigung von Identitätsproblemen. In: Heck, Justus/ Itschert, Adrian/ Tratschin, Luca (Hg.): Legitimation durch Verfahren. Rezeption, Kritik und Anschlüsse. Berlin/ Boston: De Gruyter, S. 21-60

    Liebler, Carina (2020): Menschen vor Gericht. Die strafrechtliche Hauptverhandlung und das Konzept der Situation. In: Poferl, Angelika/ Schröer, Norbert et. Al (Hg.): Ethnographie der Situation. Erkundungen sinnhaft eingrenzbarer Feldgegebenheiten. Essen: Oldib, S. 335-347

  • Vorträge

    Über das Entfalten und Kleinarbeiten affektuell-moralisierender Klassifikationen im Gerichtssaal. Osnabrück, 24.09.2014 auf der DGS-Konferenz Klassen, Klassifikationen, Klassifizierungen

    Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf Migration. Weingarten bzw. Klingenmünster, 2018, 2021, 2022 und 2023. Vortrag mit Diskussion innerhalb der Weingartener Herbstwoche zum Migrationsrecht „Einwanderung – Flüchtlingsschutz – soziale Teilhabe“ der Universitäten Frankfurt und Gießen in Zusammenarbeit mit der Akademie der Diözese Rottenburg

    Menschen vor Gericht. Die strafrechtliche Hauptverhandlung und das Konzept der Situation. Fulda, 06.07.2019 anlässlich der 7. Fuldaer Feldarbeitstage zur „Ethnografie der Situation. Erkundungen sinnhaft eingrenzbarer Feldgegebenheiten“

    Mit Dariuš Zifonun: Die Interaktionsordnung des Gerichtsverfahrens: Strukturelemente des Vollzugs strafrechtlicher Hauptverhandlungen. Luzern, 16.02.2018 anlässlich der Tagung „Legitimation durch Verfahren. Rezeption, Kritik und Anschlüsse“

    Mit Dariuš Zifonun: Die alltagsweltliche Legitimierung juristischen Handelns. Bayreuth, 05.05.2017 anlässlich der Frühjahrstagung der Sektion Wissenssoziologie zu „Legitimierung und Konstruktion von Weltansichten in der Gegenwartsgesellschaft“

  • Lehre

    B.A. Seminare und Übungen

    SE Retraditionalisierung? Wandel der Familie? – Soziologische Perspektiven auf Elternschaft

    SE Soziologische Perspektiven auf Schwangerschaft und Familie

    SE Einführung in die Formen der Konfliktregelung

    SE Migration und Ethnizität

    SE Nach dem Konflikt: das Recht?

    SE Normalität(en)

    SE Normalität und Stigma

    UE Einführung in die Sozialstrukturanalyse

    UE Einführung in die Friedens- und Konfliktforschung