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Geschichte des Seminars
Karl Christ: Zum 100-jährigen Bestehen des Seminars für Alte Geschichte der Philipps-Universität (In: alma mater philippina, Sommersemester 1972, 11-14.)
Schon bei den Beratungen, die im Jahre 1864 noch zu kurstaatlicher Zeit auf Initiative des Historikers Ernst Herrmann zur Gründung des Historischen Seminars an der Philipps-Universität führten, war die Berücksichtigung der Alten Geschichte erörtert worden. Am 6. 4. 1872 wurde dann durch Verfügung des preußischen Ministers der geistlichen und Unterrichtsange-legenheiten eine eigene, die zweite „Abtheilung des historischen Seminars für alte Geschichte“ eingerichtet, später als Abteilung A des Historischen Seminars geführt. Wie die Statuten besagen, war der Zweck dieser Abteilung „die Ausbildung ihrer Theilnehmer zu einer wissenschaftlichen Behandlung der alten Geschichte. Der unabhängigen Stellung entsprechend, welche diese Disciplin zwischen Philologie und moderner Geschichte einnimmt, ist das Institut zwar eine Abtheilung des historischen Seminars, jedoch-in seiner Leitung getrennt“. Im Vordergrund stand anfangs“, nicht der Aufbau einer Spezialbibliothek, sondern die Absicht, eine kontinuierliche Selbst-Organisation des Studiums zu ermöglichen, wie sie nur ein Staatliches Institut gewährleisten konnte. In den Statuten ist daher zwar fixiert, daß die Übungen des Seminars mindestens zwei volle Wochenstunden umfassen sollten und daß die Teilnehmerzahl auf zwölf zu begrenzen war, wobei in erster Linie an die Studierenden der Geschichte und der Philologie gedacht wurde. Aber weitaus größeren Raum, nehmen in den Statuten die Bestimmungen über die Vergabe von Prämien für wissenschaftliche Leistungen ein (§§ 5-10). Die relativ geringen Mittel eines Prämienfonds (jährlich 100-Taler) wurden sehr überlegt zur Stimulierung der wissenschaftlichen Forschung der Studierenden eingesetzt. Die Teilnehmerzahlen der Übungen des Seminars stiegen indessen rasch an und sprengten bald den alten, engen Rahmen: Waren es 1877/78 noch 9 Teilnehmer, so 1883/84 bereits 38, 1912/13 43. Dann sanken die Zahlen jedoch zunächst wieder ab. Ende der 20er Jahre beliefen sie sich im Sommer (bei Übungen an griechischen Texten) auf durchschnittlich ca. 20-35, im Winter (bei den Übungen an lateinischen Quellen) auf ca. 50 bis 65 Studenten. Nach dem II. Weltkrieg war erneut ein starker Anstieg zu verzeichnen: In den Jahren zwischen 1954 und 1959 nahmen Semester für Semester etwa 80 Studierende an. den Proseminaren und ebenso viele an den- Seminaren teil, eine Frequenz, welche seither in manchen Jahren noch übertroffen wurde. Zu den traditionellen Einrichtungen der Pro- und Hauptseminare und der Übungen für Fortgeschrittene traten jetzt auch neue Gattungen von Lehrveranstaltungen hinzu, so die Sprach- und Einführungskurse, denen längere Zeit Dr. W. Arend und Oberstudienrat im Hochschuldienst E. Cahn ihr Profil verliehen.
Untergebracht war das Seminar zwischen 1872 und 1886 im Alten Aulaflügel, darnach im Justi’schen Haus (Barfüßertor 32), seit 1890/91 im neuen Aulaflügel, ab 1900 im Seminargebäude Am Plan 2. 1952 bezog es im zweiten Stock der Alten Jägerkaserne (Gutenbergstraße 18) neue Räume, im Frühjahr 1964 interimistisch den zweiten und dritten Stock der ehemaligen Berufsschule (Frankfurter Straße 21), zweieinhalb. Jahre später endlich im zehnten Stockwerk, des „Historikerturms“ (Krummbogen 28 C) seinen derzeitigen Sitz. Der verhältnismäßig rasche Wechsel der Unterbringung zeigt deutlicher als viele Worte den stürmischen Ausbau und die Zersplitterung der Marburger Universität an, bis diese schließlich die weit verstreuten geisteswissenschaftlichen Institute in dem neuen Komplex zusammenfassen konnte. Notwendig wurden die zahlreichen Umzüge nicht zuletzt durch das Anwachsen der Seminarbibliothek und das allerdings sehr viel langsamere des wissenschaftlichen Personals. Die Bibliothek war zunächst nur in dem recht bescheidenen Rahmen einer „Hand- und Arbeitsbücherei“ für die Seminarteilnehmer angelegt worden. Im Jahre 1927 umfaßte sie immerhin bereits 1739 Bände und 204 Dissertationen und Separata. Durch Auslagerung, Kriegsverluste und Diebstahl gingen 1945 wichtige Teile verloren, bescheidenste Etats (1948 bis 1955 monatlich DM 67,-; 1957-1960 monatlich DM 200,-) gestatteten nur wenige Ergänzungen. Aber seit dem Jahre 1957 begann sich diese hoffnungslose: Lage zu bessern: Mehrere größere Sonderzuweisungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Bundesinnenministeriums erlaubten es, die wichtigsten Lücken zu -schließen und zum Beispiel die Inschriften-cörpora wie die grundlegende numismatische Literatur anzuschaffen. Heute umfaßt die Bibliothek über 12 000 Bände. Dabei wurde Wert darauf gelegt, wenigstens die Standardwerke zu allen Teilbereichen der Alten Geschichte bereitzustellen. Seit 1958 ist daneben mit dem Aufbau einer Diathek begonnen worden, die später vor allem von Professor Kienast wesentlich erweitert wurde. Auch eine kleine Münz- und Gipssammlung für Lehrzwecke, der Ausbau einer Kartenabteilung, nicht zuletzt der von G. Wirth in die Wege geleitete Aufbau-einer Lehrmittelsammlung dienten der Berücksichtigung moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse und Anforderungen. Der personelle Ausbau des Seminars hielt mit den steigenden Studentenzahlen und den wachsenden Aufgaben indessen nicht Schritt. Neben den Lehrstuhlinhabern .und Institutsdirektoren, deren Reihe unten vorgestellt wird, wirkten seit dem ersten Weltkrieg nur als Ausnahmefälle und für kürzere Zeit Wilhelm Enßlin, Hans Volkmann, Friedrich Vittinghoff und Karl Christ als Dozenten. Ein zweiter .Lehrstuhl würde erst 1965 eingerichtet; erst das neue Universitätsgesetz soll - vorläufig freilich noch immer nur als Bedarfsanerkennung markiert - eine weitere Zahl von Hochschullehrerstellen und damit eine den anderen historischen Seminaren vergleichbare Ausstattung bringen. Ähnlich unbefriedigend war die Zuweisung von Stellen wissenschaftlicher Mitarbeiter. Im Jahre 1954 wurde die. erste Stelle einer wissenschaftlichen Hilfskraft an das Seminar gegeben, als eines der letzten größeren Institute der Universität erhielt es 1957 die erste Assistentenstelle, erst in den sechziger Jahren wurde die Personalausstattung weiter ergänzt. Dies hatte zur Folge, daß alle Bediensteten des Seminars, von den studentischen Hilfskräften bis zu den Direktoren, ununterbrochen zu intensiven und zeitraubenden organisatorischen Arbeiten gezwungen waren, die oft weit .über das übliche Maß hinausgingen, nicht zuletzt zur Zeit der Umzüge und der schubartigen Bibliotheksergänzungen. Hier ist der Ort, um allen Mitarbeitern des Seminars, den früheren wie den derzeitigen, dafür vor einer größeren Öffentlichkeit zu danken. Die wissenschaftliche Tradition des Seminars wurde in. erster Linie durch die in Marburg wirkenden Althistoriker und Seminardirektoren geprägt, durch Heinrich Nissen (Direktor 1872-1877), den nüchternen Erforscher der „Italischen Landeskunde“, Benedictus Niese (1877-81 und 1885-1906), den Verfasser des alten Handbuchs zur römischen Geschichte und der dreibändigen Geschichte der griechischen und makedonischen Staaten seit der Schlacht von Chaeronea, die Epigraphiker Eugen Bormann (1881-85) und Elimar Klebs (1906-14), den vielseitigen Ulrich Kahrstedt (Vertreter 1913/14) und durch Walter Otto (1914-16), den großen Organisator der Altertumswissenschaft, Anton von Premerstein (1916-35), der hier seine auch heute noch grundlegenden Arbeiten zum Tatenbericht und zum Prinzipat des Augustus verfaßte, durch Fritz Taeger (1935-1960), der in Marburg seine Hauptwerke publizierte, das „Altertum“ und „Charism“, die Studien zur Geschichte des antiken Herrscherkultes, durch Christian Habicht, mit dem zwischen 1961 und 1965 wieder ein führender Epigraphiker Marburger Ordinarius geworden war.
Akribie und Sachlichkeit der Epigraphiker wie die Konzeptionen universalhistorisch orientierter Gelehrter haben somit den Kurs des Seminars in. gleicher Weise bestimmt. Doch daneben ist hier, insbesondere in den Jahren nach dem ersten und dem zweiten Weltkrieg, die Solidarität zwischen Lehrenden und Lernenden im Alltag wie insbesondere auf den größeren Exkursionen (nach Italien, in die Provence und ins römische Rheinland),, Exkursionen, die zumeist nur dank der Unterstützung des Marburger Universitätsbundes möglich waren, in einer ganz unprätentiösen Weise vorgelebt worden. Kaum einer der deutschen Hochschullehrer hat für seine Studenten in der Stille größere materielle Opfer gebracht als Fritz Taeger. In der Thematik der Lehrveranstaltungen, in den Fragestellungen der Dissertationen und Forschungen schlugen sich die Entwicklung und der Wandel des Selbstverständnisses der Disziplin Alte Geschichte ebenso nieder wie in den wechselnden Schwerpunkten des Ausbaus der Bibliothek oder der Lernmittel. Dominierte einst die historische Interpretation der literarischen Quellen und, wie die Statuten festlegten, „die kritische Erforschung eines für jedes Semester abgemessenen Zeitraums aus der alten Geschichte“, so traten bald die Arbeiten an neuen Quellengattungen, nicht zuletzt an Inschriften, Papyri und Münzen hinzu. Ansätze zu soziologischen Betrachtungsweisen wurden im Marburger Seminar ebenso früh berücksichtigt wie die religionswissenschaftlichen oder verfassungsrechtlichen Aspekte und zuletzt jene der Wissenschaftsgeschichte. Über den Versuchen, zu neuen Organisationsformen der wissenschaftlichen Institutionen zu gelangen, die vor allem seit 1968 auch in diesem Seminar zu lebhaften Auseinandersetzungen führten, sollte freilich die Tragweite eines rein organisatorischen Umbaus nicht überschätzt werden. Es kommt heute darauf an, die Reform der Lehrinhalte zu forcieren, einen neuen Stil der Lehrveranstaltungen zu erproben und das Niveau der wissenschaftlichen Arbeit in dieser Fachrichtung zu verbessern. In einem Augenblick der Selbstbesinnung, zu dem das Jubiläum allen Anlaß gibt, muß freilich auch daran erinnert werden, daß in Marburg schon Jahrhunderte vor der Gründung eines speziellen. Seminars Alte Geschichte gelehrt wurde. Wie die neuen „Untersuchungen zur Entwicklung der Alten Geschichte an der Philipps-Universität“ von G. Wirth ins Bewußtsein rufen, war schon im Freiheitsbrief des Landgrafen Philipp vom 31. August 1529 für die Universität ein „Historicus“ vorgesehen, der „zu bequemen Zeitten, nacheinander Titum Livium, Caium Caesa-rem, Valerium Maximum, Crispum Sallustium, Justinum, Lucium Florum, Paulum Orosium, Q. Curtium, Suetonium Tranquillum, Cornelium Tacitum und Andere bewerte glaubwirdige Historiographes lerenn unnd lesen solle“. Die damit gestellten Aufgaben griffen die ersten Historiker der Universität, Hermann Buschius und Johannes Glandorp, auf und begründeten eine von den verschiedensten Positionen und innerhalb der verschiedensten Perspektiven betriebene Bemühung um die Geschichte des Altertums. Hier kann nur kurz an die starken Impulse erinnert werden, die im 19. Jahrhundert Friedrich Creuzer, Eduard Platner, Karl Friedrich Hermann, Joseph Rubino und Karl Friedrich Vollgraff, damit Philologen ebenso wie Juristen und Staatswissenschaftler, für ein neues Verständnis antiker Erscheinungen gaben. Damit zeigt sich, daß jede Disziplin, vor allem aber die so komplexe der Alten Geschichte, in ihrer Entwicklung von der Originalität und dem geistigen Rang ihrer Lehrer und Forscher nicht weniger stark bestimmt wird als von dem Rahmen ihrer Institutionen.
Eine ausführlichere Geschichte des Seminars unter Würdigung ihrer einzelnen Vertreter ist unter dem Titel "In solo Barbarico ..." erschienen.