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Geschlecht • Macht • Staat
Die aktuellen Debatten etwa zum gender pay gap, gender care gap oder gender representation gap verweisen auf die anhaltende Wirkmächtigkeit von institutionalisierten, Ungleichheit (re)produzierenden Geschlechterverhältnissen. Ihre Erforschung erfordert einen disziplinenübergreifenden und historisierenden Zugang, was auch der Wissenschaftsrat jüngst festgestellt hat.
Wir untersuchen die Ursachen und Wirkungen von institutionalisierter Geschlechterungleichheit in europäischen und transatlantischen Gesellschaften. Wir gehen von einer konstitutiven Verschränkung hierarchischer Geschlechterordnungen mit der Formierung des „Staates“ als Herrschaftsordnung aus und behaupten, dass vergeschlechtlichte Machtverhältnisse in einem komplexen Wechselspiel zwischen sozialen Praktiken und Normierungen institutionalisiert wurden. Wir fassen dieses Phänomen als eine Ko-Konstruktion, die sich seit etwa 1500 beobachten lässt und deren Transformationen wir in einer langen historischen Perspektivierung von der Renaissance bis heute erforschen. Ein besonderes Augenmerk gilt den sich wandelnden sprachlichen, bildlichen und audiovisuellen Medialisierungen, in denen vergeschlechtlichte Herrschaft (re)präsentiert wird. Zwei argumentative Grundmomente lassen sich im Zusammenschluss von Geschlecht, Macht und Staat epochenübergreifend feststellen: Familienverantwortung und Regierungskompetenz. Dies ist kein Zufall, sondern liegt in den spezifischen Kontexten der Diskurse um Geschlecht, Herrschaft und Staat um 1500 begründet: Galt in der europäischen Vormoderne Familienverantwortung als Mutter bzw. Vater noch als Grundlage für ein Herrschaftsamt und politische Stabilität, wandelte sich dies in der Aufklärung, die Mutterschaft und Regierungskompetenz als Widerspruch verstand. Gegenwärtig wiederum will eine liberale Gleichstellungspolitik Strukturen für eine gerecht verteilte Familienverantwortung schaffen, damit geschlechterunabhängig gleiche Voraussetzungen für die Übernahme von (politischen) Führungspositionen bestehen. War Geschlechterdifferenz in der Vormoderne noch in die auf Ungleichheit basierende Ständegesellschaft eingebunden, sind ihre anhaltende Persistenz und die relative Konstanz der Legitimationsstrategien trotz fundamentaler Veränderungen in Staat, Gesellschaft, Ökonomie und Kultur – die nun normativ auf Gleichheit aufbauen – erklärungsbedürftig.
Inwiefern Herrschaftsordnungen ein konstitutives Moment geschlechterbezogener Ungleichheit inhärent war und inwieweit sich diese veränderten, untersuchen wir in sechs Schwerpunktbereichen. Sie fokussieren Phasen verdichteter Transformation: das 16. Jh. als Übergang zum dynastischen Fürstenstaat, die Zeitalter der Revolutionen vom 18. bis zum Beginn des 20. Jh.s mit republikanischen und totalitären Regimen sowie die zweite Hälfte des 20. Jh.s bzw. die Gegenwart mit liberalen Demokratien. Wir fragen nach:
- dem Zusammenspiel normativer und sozialer Praktiken in diesen Deutungskämpfen sowie ihren sich verstärkenden, widerläufigen und konflikthaften Dynamiken
- den Codierungen, Zuschreibungen und (De)Legitimierungsprozessen von weiblicher Macht und Herrschaftsausübung vor dem Hintergrund der Durchsetzung einer männlich codierten Herrschaftsordnung und Politikvorstellung seit dem 16. Jh.
- dem strategischen Einsatz von familiärer Verantwortung als Voraussetzung bzw. Ausschlusskriterium für die Übernahme politischer Führungsverantwortung und ihrem Bezug zu vergeschlechtlichten Körperdiskursen
- der Funktionalisierung von Bezügen auf als „natürlich“ und ahistorisch verstandene Konstellationen im Sinne einer Retraditionalisierung in politischen Deutungskämpfen um Herrschafts- und Geschlechterordnung
Wir verbinden in unserer Forschungsgruppe die zur Beantwortung dieser Fragestellungen zentrale Fachkompetenz: die Geschichtswissenschaften für Prozesse historischen Wandels, die Politikwissenschaft für Prozesse und Strukturen institutionalisierter Macht, die Literatur- und Kunstwissenschaften für Formen und Konventionen der sprachlichen, bildlichen und performativen Medialisierung und Herstellung von Deutungsangeboten. Weitere disziplinäre Kompetenz aus benachbarten Bereichen wie der Ökonomie, dem Recht und der Theologie wird durch wissenschaftliche Gäste eingebunden. Mit dem Forschungsprogramm schaffen wir die Grundlagen für eine „Kulturgeschichte vergeschlechtlichter Macht“, die in einer zweiten Förderphase im Hinblick auf Intersektionalität und den Transfer von Wissensordnungen ausgebaut werden soll. Zu erwarten sind entscheidende Impulse für die Analyse transnationaler und postkolonialer Verflechtungen sowie ähnlich gelagerte Forschungen in anderen Disziplinen, sozialen Feldern und kulturellen Kontexten.