26.06.2017 Auszeichnung für den wissenschaftlichen Nachwuchs

Vizepräsident Professor Dr. Michael Bölker überreichte Promotionspreise

Gruppenfoto der Preisträger
Foto: Katja John
Für ihre ausgezeichneten Dissertationen erhielten den Promotionspreis 2016 von Vizepräsident Prof. Dr. Michael Bölker (links): Rosario Figari Layús (von links.), Anna Heuer, Stefan Fräßle, Hanna Fischer und Ulrich Huttner.

Vom Präteritumschwund bis zu Halbleiterexperimenten, von Menschenrechtsprozessen über das visuelle Arbeitsgedächtnis bis zur mathematischen Modellierung von Hirnfunktionen: Das breite Themenspektrum der Dissertationen des Jahres 2016 spiegelt die Fächervielfalt und die interdisziplinäre Stärke der Philipps-Universität Marburg wider. Drei junge Forscherinnen und zwei Forscher wurden jetzt mit den Promotionspreisen der Philipps-Universität geehrt. „Die gewürdigten Qualifikationsschriften zeigen einmal mehr, dass sich unsere Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler auf höchstem Niveau mit aktuellen Fragestellungen beschäftigen, die auch eine große gesellschaftliche Relevanz besitzen“, erklärte anlässlich der Verleihung Professor Dr. Michael Bölker, Vizepräsident der Philipps-Universität für Forschung, Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und Internationales. Die feierliche Überreichung der Auszeichnungen erfolgte am Freitag, dem 23. Juni 2017, im Rahmen der Jahresversammlung des Marburger Universitätsbundes im Neubau des Fachbereichs Chemie auf den Lahnbergen.

„Die Förderung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in allen Qualifikationsphasen liegt der Philipps-Universität besonders am Herzen“, sagte Bölker. „Die diesjährigen Preisträgerinnen und Preisträger sind der lebende Beweis dafür, dass unsere Bemühungen Früchte tragen. Der Promotionspreis dient dabei als ein weiterer Ansporn, auf dem erfolgreich beschrittenen Weg weiterzugehen.“

Die Promotionspreise der Philipps-Universität Marburg werden in vier Sektionen verliehen: Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Philosophie und Kulturwissenschaften, Mathematik und Naturwissenschaften sowie Biowissenschaften und Medizin. „Was die ausgezeichneten Arbeiten bei aller Vielfalt verbindet, ist ihre Qualität, die höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügt“, führte der Vizepräsident aus: „Unser wissenschaftlicher Nachwuchs ist schon jetzt exzellent!“

Die Auszeichnung ist mit je 1.000 Euro Preisgeld dotiert. Teil des Preises ist außerdem ein individuelles Training in Wissenschaftskommunikation. In der Sektion Biowissenschaften und Medizin wurde der Preis für 2016 geteilt.

Wie das Präteritum verschwand

Wann verwendeten Sie zuletzt das Präteritum, also die einfache Vergangenheit? Vermutlich haben Sie in den meisten Fällen das Perfekt, also die vollendete Gegenwart, bevorzugt. Der Präteritumschwund in der deutschen Sprache ist als Faktum bekannt, konnte aber bis heute nicht umfassend erklärt werden. In ihrer Promotionsarbeit mit dem Titel Präteritumschwund im Deutschen. Dokumentation und Erklärung eines Verdrängungsprozesses setzte Hanna Fischer sich das ehrgeizige Ziel, diese Lücke zu schließen.

Die in Berlin aufgewachsene Nachwuchswissenschaftlerin studierte Germanistik und Medienwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Bei Doktorvater Prof. Dr. Jürgen Erich Schmidt verfasste sie bereits ihre Magisterarbeit.

Für ihre Promotion wertete die Autorin u. a. 250 Dialektgrammatiken und zahlreiche historische Studien aus und konnte damit die Verdrängung des Präteritums in Raum und Zeit umfassend nachzeichnen. Sie führt das von Süddeutschland ausgehende Verschwinden der einfachen Vergangenheit auf einen Siegeszug des Perfekts zurück und interpretiert ihre Analysen mithilfe aktueller Theorien. Die Gutachter sind sich einig darin, dass Frau Fischer das neue Referenzwerk zum Thema „Präteritumschwund“ vorgelegt hat. Zugleich ist ihre Arbeit ein beeindruckendes Beispiel für die Forschungsarbeit des Marburger Sprachatlasses.

Effizienz durch Flexibilität

Warum gelingt es uns scheinbar mühelos, zur Kaffeetasse zu greifen, ohne den Blick von der Zeitung abzuwenden? Wie können wir einen wartenden Freund am Bahnhof schnell in einer Menschenmenge identifizieren? Die Grundlagen derlei alltagsrelevanter Leistungen untersucht Anna Heuer in ihrer Arbeit Flexible Updating of Visual Working Memory – The Joint Roles of Attention and Action. Sie geht der Frage nach, wie Informationen im visuellen Arbeitsgedächtnis ausgewählt und aufrechterhalten werden.

Nach kurzer Station in Freiburg studierte die gebürtige Bielefelderin Psychologie in Marburg. Das visuelle Arbeitsgedächtnis beschäftigt sie schon länger: Bereits im Zuge ihrer Diplomarbeit arbeitete sie hierzu mit Betreuerin Prof. Dr. Anna Schubö zusammen. Die Frage, wie wir uns die relevanten Informationen für eine gelingende Interaktion mit unserer Umgebung merken, stellt sich umso dringender, als die hierfür zur Verfügung stehenden Kapazitäten des Gedächtnisses äußerst begrenzt sind.

Durch fünf Versuchsreihen, im Rahmen derer Verhaltensdaten und Gehirnaktivitäten untersucht wurden, kommt Frau Heuer zu folgendem Ergebnis: Wichtige Inhalte des visuellen Arbeitsgedächtnisses erlangen ihre Bedeutung nicht nur durch äußere Hinweise, sondern auch durch unsere Handlungsabsichten. Eine flexible Gewichtung erfolgt zudem durch die selektive Auswahl zielführender Attribute wie Ort und Farbe – etwa dann, wenn wir wissen, dass unser Freund am Bahnhof eine grüne Jacke trägt.

Lichtblitze geben Aufschlüsse über Halbleiter

Wie verhalten sich Festkörper wenn sie mit intensiven und ultrakurzen Lichtpulsen angeregt werden? Atomare Gase werden auf diese Weise schon länger mit Hilfe von Lasern untersucht. Hinsichtlich des Verhaltens von Halbleitersystemen dagegen betritt Ulrich Huttner mit seiner Arbeit Theoretical analysis of ultrafast strong terahertz-field effects in semiconductors wissenschaftliches Neuland.

Der gebürtige Augsburger studierte Physik in Marburg und arbeitete im Rahmen seiner Promotion bei Prof. Dr. Stephan W. Koch und Prof. Dr. Mackillo Kira drei Jahre lang in der Arbeitsgruppe „Halbleitertheorie“. Halbleiter sind Festkörper, deren elektrische Leitfähigkeit zwischen der von Leitern und Nichtleitern liegt. Sie sind unter anderem für die Elektrotechnik höchst relevant.

Dem Nachwuchswissenschaftler gelang es, Modellrechnungen der vergangenen Jahre auf reale Halbleitersysteme anzuwenden und  im Vergleich mit Experimenten der Uni Regensburg  zu bestätigen. Daneben stellte er eigenständige theoretische Überlegungen zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden der verwendeten Methoden in Bezug auf atomare Systeme und Festkörper an. Die Gutachter hoben hervor, dass Herr Huttner seine Ergebnisse bereits in außergewöhnlich hochrangigen Fachzeitschriften publizieren konnte.

Neuronale und methodische Arbeitsteilung

Welche neuronalen Mechanismen sind bei der hemisphärischen Lateralisierung des menschlichen Gehirns, also der funktionellen Spezialisierung der linken und rechten Hirnhälfte, am Werk? Wie interagieren unsere beiden Hirnhälften bei einer fundamentalen lateralisierten Hirnfunktion, der Verarbeitung von Gesichtern? Inwieweit unterscheiden sich diese neuronalen Mechanismen hemisphärischer Lateralisierung zwischen Rechts- und Linkshändern? Und welche Hirnareale sind für unser Bewusstseins relevant? Fragen wie diese beschäftigen Stefan Fräßle in seiner Promotion Neural Mechanisms of the Hemispheric Lateralization in the Human Brain.

Der gebürtige Baden-Württemberger studierte Physik in Konstanz und Marburg. Schon in seiner Masterarbeit beschäftigte er sich schwerpunktmäßig mit Themen der Neurophysik. Anschließend begann er seine Promotion bei Prof. Dr. Andreas Jansen am Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg, mit Forschungsaufenthalten an zwei weltweit renommierten Universitäten (Harvard University, ETH Zürich). Inzwischen ist er an der ETH Zürich tätig, gefördert durch ein kompetitives Stipendium, welches die ETH Zürich und die Europäische Union gemeinsam vergeben. 2014 war er Preisträger des Doktorandenwettbewerbs der neurobiologischen Fächer der Philipps-Universität Marburg.

Bemerkenswert ist insbesondere auch das Methodenbewusstsein des Nachwuchswissenschaftlers. In seinen Studien bringt er mathematische Modellierungsverfahren nicht nur zur Anwendung, sondern setzt sich auch explizit mit ihrem Potenzial zur Erforschung des Gehirns auseinander. „Der Nutzen eines jeden Verfahrens hängt maßgeblich von der Güte der verwendeten Methodik ab“, schreibt Fräßle. Deswegen möchte er sich auch in Zukunft mit der Kombination von mathematischer Modellierung und Bildgebungsverfahren beschäftigen.

Strafverfolgung als Vergangenheitsarbeit

Kann die strafrechtliche Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen einen wiedergutmachenden Effekt für die Opfer haben? Die Annahme, dass solche Prozesse wichtig sind, ist weitgehend unumstritten. Welche konkreten Auswirkungen sie aber tatsächlich haben, untersuchte Dr. Rosario Figari Layús exemplarisch anhand von Gerichtsverfahren, die sich mit der Zeit der argentinischen Militärdiktatur auseinandersetzen. Mit ihrer Arbeit „Small Victories“: The Reparative Effects of Human Rights Trials on Victims: Countering State Terror and Impunity in Argentina bewegt sie sich an der Schnittstelle von Politik- und Rechtswissenschaft.

Die gebürtige Argentinierin studierte Soziologie in Buenos Aires und Berlin. Anschließend begann sie ihre Promotion unter der Betreuung von Prof. Dr. Susanne Buckley-Zistel, geschäftsführende Direktorin des Zentrums für Konfliktforschung in Marburg. Zweitgutachterin war Prof Dr. Kirsten Mahlke, Projektleiterin des vom Europäischen Forschungsrat finanzierten Forschungsprojekts „Narrative des Terrors und des Verschwindenlassens in Argentinien” (Laufzeit: 2010-2015), in dem Figari Layús während ihrer Promotion als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war.

Die Grundlage ihrer Forschungsarbeit bilden insgesamt 75 Interviews mit Opfern, Anwälten und Richtern. Ihr Promotionsprojekt stellt nicht nur eine umfangreiche und einfühlsame Fallstudie dar, sondern zugleich einen wichtigen theoretischen Beitrag zur Rolle von Strafgerichtsprozessen und zum Begriff der Wiedergutmachung. Figari Layús kommt zu dem Ergebnis, dass die Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen keineswegs nur zur Bestrafung der Täter dient, sondern zugleich zur sozialen Wiedereingliederung der Opfer. Ihr Buch The Reparative Effects of Human Rights Trials. Lessons From Argentina, das auf ihrer Dissertation basiert, erscheint im September im Verlag Routledge.

Die ausgezeichneten Promotionen:

  • Hanna Fischer: „Präteritumschwund im Deutschen. Dokumentation und Erklärung eines Verdrängungsprozesses“
  • Stefan Fräßle: „Neural Mechanisms of the Hemispheric Lateralization in the Human Brain“
  • Anna Heuer: „Flexible Updating of Visual Working Memory – The Joint Roles of Attention and Action “
  • Ulrich Huttner: „Theoretical analysis of ultrafast strong terahertz-field effects in semiconductors“
  • Rosario Figari Layús: „Small Victories: The Reparative Effecs of Human Rights Trials on Victims: Countering State Terror and Impunity in Argentina“

(Text: Michael Siegel) 

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