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Projekt A2 - Dynamik und Stabilität in regionalsprachlichen Variationsspektren des Deutschen

PI und Ko-PI: Prof. Dr. Herrgen, Prof. Dr. Lameli und Prof. Dr. Scharinger
Promovierender: Dominik Thiele

Forschungskontext

Wissenschaftlicher Gegenstand sind hier die Differenz- oder Identitätsstrukturen, die die regionalsprachlichen Variationsspektren im Deutschen bestimmen. Ausgehend von der Tatsache, dass der Variationsraum im Deutschen durch areal sehr unterschiedlich ausgeprägte Spektren von Varietäten und Sprechlagen gekennzeichnet ist (Kehrein, 2012a), soll überprüft werden, wie diese Spektren im Einzelnen strukturiert sind. Insbesondere soll untersucht werden, inwiefern diesen unterschiedlichen Variationsspektren sprecher-hörerseitig unterschiedliche Sprachlautrepräsentationen entsprechen und welche kommunikativen Besonderheiten sich daraus ergeben. Die Fragestellung ist darüber hinaus, ob die in bisherigen Studien attestierte Dynamik der Variationsstrukturen durch stattfindende Synchronisierungsprozesse auf der Mikroebene, d. h. zwischen einzelnen SprecherInnen, gesteuert ist. Dazu sollen die differierenden hirnphysiologischen Verarbeitungssignaturen innerhalb von unterschiedlichen Variationsspektren systematisch erfasst und miteinander verglichen werden. So sollen in der Laborsituation verschiedene Typen von Sprecher-Hörer-Interaktionen, die für verschiedene Typen von Variationskonstellationen stehen, nachgestellt und dabei messmethodisch erfasst werden.

Stand der Forschung

Die Forschung an der Realisierung (d. h. Aussprache) von Sprachlautrepräsentationen hat gezeigt, dass die regionalsprachlichen Variationsspektren im Deutschen zum einen areal stark differieren und zum anderen eine hohe Dynamik aufweisen. Dies zeigen z. B. die Arbeiten von Lenz (2004), Kehrein (2012a) und Rocholl (2015) zu allen großen Dialekträumen des Deutschen, die für das vorliegende Projekt nutzbar gemacht werden können. Zudem liegt mit der Arbeit von Lameli (2004) eine Untersuchung vor, die die Grenze zwischen Regionalsprachen und Standardsprache kognitiv-perzeptiv bestimmt hat. Es zeigt sich in den genannten Studien, dass die Sprecher einzelner Regionalsprachen über unterschiedliche System- und Registerkompetenzen verfügen und dass diese Kompetenzen je nach gestellter Aufgabe (Situation, Gesprächspartner usw.) unterschiedlich eingesetzt werden. Grundsätzlich zu unterscheiden sind demnach Regionalsprachräume, in denen die Sprecher lediglich über eine monovarietäre Kompetenz verfügen, also ihre Sprache innerhalb einer einzigen Vollvarietät variieren, von solchen, in denen die Sprecher über eine bivarietäre Kompetenz verfügen und damit in der Lage sind, zur Erfüllung der kommunikativen Anforderungen verschiedene Vollvarietäten anzusteuern. Neben performanzbasierten Verfahren (Dialektalitätsmessung, Variablenanalyse) konnte der Nachweis von Varietätengrenzen dabei auch mittels Perzeptionsdaten anhand von Hörerurteilen erbracht werden (Lenz, 2004; Purschke, 2011), so dass davon auszugehen ist, dass Varietätengrenzen auch eine kognitive Basis haben (Schmidt & Herrgen, 2011). Lanwermeyer et al. (2016) zeigen empirisch mittels EEG-Untersuchungen, dass auf dialektalen Strukturdifferenzen basierende basisdialektale Phonemkollisionen tatsächlich zu Missverstehen und Nichtverstehen in der interdialektalen Kommunikation führen.

Aktuelles Promotionsprojekt

Arbeitstitel: Zur Neurolinguistik der Koronalisierung. Dynamik und Stabilität in regionalsprachlichen Variationsspektren des Deutschen.

In diesem Projekt soll untersucht werden, wie verschiedene Sprechertypen mit unterschiedlichen regionalsprachlichen Kompetenzen die stimmlosen koronalen und dorsalen Frikative im Deutschen mental verarbeiten. Zu unterscheiden sind dabei (1) nativ deutsche SprecherInnen, die aufgrund ihres mitteldeutsch regionalsprachlichen Primärspracherwerbs keine phonologische Distinktion zwischen [ç] und [ʃ] realisieren. (2) SprecherInnen, die ebensowenig eine phonologische Distinktion zwischen [ç] und [ʃ] realisieren, jedoch vor dem Hintergrund ihres Primärspracherwerbs in Migrantengesellschaften [siehe ‘Kiezdeutsch’ (Wiese et al., 2009) oder auch ‘Migrantendeutsch’]. Dem gegenüber stehen (3) SprecherInnen, die regionalsprachlich ‚koronalisieren‘, die sich jedoch grundsätzlich bewusst sind, dass diese Distinktion im Std. Deutschen existiert. (4) Als Kontrollgruppe SprecherInnen, die eine reine Standardkompetenz des Deutschen erworben haben und somit eine phonologische Distinktion zwischen [ç] und [ʃ] realisieren. Um dies zu erörtern, sollen elektrophysiologische Daten, aber auch umfassende Fragebögen zur Sprachbiographie sowie Produktionsdaten, für die verschiedenen Sprechertypen erhoben und analysiert werden.

Ziele

Insgesamt soll überprüft werden, welche unterschiedlichen Perzeptions- und Produktionskompetenzen bei den verschiedenen Sprechertypen vorliegen. Diese unterschiedlichen Kompetenzen sind insbesondere geprägt durch unterschiedliche Repräsentationen der einschlägigen Phoneme bzw. Allophone.

Methoden

In diesem Projekt sind zwei EEG-Studien geplant, welche Aufschlüsse über die Verarbeitungsprozesse der verschiedenen Sprechertypen hinsichtlich der oben genannten Frikative geben sollen. Weiterhin sollen Kompetenz und Performanz der Sprechertypen durch umfassende Fragebögen (Dialektalitätsmessung, Sprachbiographie) und Produktionsdaten festgestellt werden. Diese sollen dann mit den elektrophysiologischen Daten in einen Kontext gebracht werden.

Vorarbeiten

Arbeiten, die sich mit der vertikalen Struktur deutscher Regionalsprachen beschäftigen, sind in der Forschung häufig zu finden (s. auch Schmidt & Herrgen, 2011). Eigene Studien von J. Herrgen (PI) haben gezeigt, dass insbesondere Hyperformen als geeignete Indikatoren zum Nachweis von Varietätengrenzen anzusehen sind, indem sie als gescheiterte Versuche gelten können, diese zu überwinden (Herrgen, 1986). Vorige Studien zur Verarbeitung von Phonemdifferenzen an Varietätengrenzen im Rahmen des LOEWE-Schwerpunkts »Fundierung linguistischer Basiskategorien« konnten hierzu erstmals zeigen, dass SprachteilnehmerInnen phonetisch/phonologische Abweichungen zum eigenen Sprachsystem sehr verschieden verarbeiten (Lanwermeyer et al., 2016; Werth et al., 2018). So lassen sich für dauerhafte vertikale Phonemkollisionen mit der Standardsprache asymmetrische Hirnreaktionen in Abhängigkeit vom Phonemstatus in der dominanten Varietät nachweisen. Phonemkollisionen zwischen arealen Kontaktvarietäten führen dagegen insbesondere in denjenigen Fällen zu starken hirnphysiologischen Effekten, wo die Phoneme der Kontaktvarietät mit den Phonemen der eigenen Varietät kollidieren. Die Hirnreaktionen sind dagegen deutlich reduziert, wenn das Phonem der Kontaktvarietät allophonisch zum eigenen Phonem verarbeitet werden kann.

Bezüge zu anderen Projekten

Das Projekt wird innerhalb des GRKs von den grundlegenden theoretischen und methodologischen Klärungen profitieren, die innerhalb des Teilprojektes A1 angestrebt sind. Eine inhaltliche Nähe bei Komplementarität des Objektbereichs ist auch hinsichtlich der Teilprojekte A3 und C1 gegeben.