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Projekt A3 - Sprachliche Repräsentationen und standardorientiertes Sprechen

PI und Ko-PI: Prof. Dr. Lameli, Prof. Dr. Herrgen, Dr. Hahn
Promovierende: Nadja Spina

Forschungskontext

Promotionsprojekt A3 widmet sich dem Forschungsdesiderat der regionalsprachlichen Prosodie des Deutschen. Diesem bereits sehr lange bestehenden Desiderat hat sich die deutsche Regionalsprachenforschung bisher nur ansatzweise zugewandt, etwa mit Studien zu Sprechtempo und Reduktion im Deutschen (z.B. Hahn & Siebenhaar 2019, Hahn i. Dr.), regionalsprachlicher Intonation (Peters 2006), den mittelfränkischen Tonakzenten (Werth 2011, Schmidt 1986) sowie Sprechrhytmus und Timing im Schweizerdeutschen (z.B. Leeman & Siebenhaar 2007). Am wenigsten Beachtung fand dabei die Phrasierung. So beobachten beispielsweise letztere Autoren eine unterschiedlich starke Ausprägung phrasenfinaler Dehnung, oder pre-boundary lengthening (PBL) in Schweizerdeutschen Varietäten, während Streck (2004) dieselbe Beobachtung für die Stadtsprachen Mannheims und Hamburgs anstellt.

Pre-boundary lengthening bildet den Untersuchungsgegenstand des aktuellen Promotionsprojektes. Für eine Vielzahl unterschiedlicher Sprachen gefunden, stellt PBL ein universelles akustisches Korrelat prosodischer Phrasierung dar und besitzt das Potential, unabhängig von weiteren Korrelaten, wie Grenztönen (Variation von F0) und Pausen, Intonationsphrasengrenzen (IP-Grenzen), und die Informationsstruktur einer Äußerung zu signalisieren (z.B. im Falle prosodischer Disambiguierung, vgl. Schubö & Zerbian 2020 für
Standarddeutsch). Je nach Sprache unterscheiden sich der Grad der Ausprägung, das Implementierungsmuster und die perzeptive Relevanz von PBL aufgrund des Einflusses spezifischer Phänomene in den verschiedenen wortprosodischen und phonologischen Systemen. So wurde beispielsweise für Quantitätssprachen, die lexikalisch-distinktive Paare langer und kurzer Phoneme aufweisen, eine geringere Ausprägung und perzeptive Relevanz von PBL angenommen (z.B. Vaissière 1983). Neuere Studien zeigen, dass PBL in Quantitätssprachen vergleichbar stark ausgeprägt ist, jedoch sprachspezifisch implementiert wird, indem kurze Phoneme in eingeschränktem Maße gelängt werden, um die Quantitätskontraste im phonologischen System der Sprachen zu erhalten (z.B. Spina &
Schubö 2021 für Tschechisch). Studien zur perzeptiven Relevanz von PBL in Quantitätssprachen liegen derzeit nicht vor, jedoch fanden Yang et al. (2014) für die Tonsprache Chinesisch Mandarin, größere Variation in der Produktion und gleichzeitig geringere perzeptive Relevanz von F0, da Sprecher aufgrund der lexikalisch-distinktiven Töne in ihrem Sprachsystem sensibler für F0-Variation sind. Übertragen auf PBL lässt dies die Annahme von größerer Variation (und somit einer stärkeren Ausprägung), jedoch einer geringeren perzeptiven Relevanz von PBL in Sprachsystemen mit Längenvariation zu.

Aufgrund dieser Forschungslage untersucht das aktuelle Promotionsprojekt Unterschiede im Grad der Ausprägung und der perzeptiven Relevanz von PBL in deutschen Dialekten mit spezifischen Phänomen, die im Zusammenhang mit Längenvariation stehen. Diese Unterschiede werden nicht nur horizontal über die Dialekte hinweg, sondern auch vertikal entlang der jeweiligen Dialekt-Standard-Achsen (vgl. Kehrein 2012). Damit baut das aktuelle Promotionsprojekt auf der Forschung zur unterschiedlichen Ausprägung von PBL in den Sprachen der Welt auf, deren Ergebnisse so gestützt werden können. Gleichzeitig trägt es dazu bei, das Desiderat der Prosodie in der deutschen Regionalsprachenforschung zu beheben, und legt den Grundstein für die Erforschung von PBL in den Dialekten anderer Sprachen. Übergeordnet steht die Frage nach der Existenz, Stabilität und Dynamik mentaler Repräsentationen im Zentrum der Arbeit. Bei PBL handelt es sich um ein von Sprechern erlerntes Phänomen. Während Kleinkinder PBL bereits im Alter von 6 Monaten perzipieren (Holzgrefe-Lang et al. 2018 für Standarddeutsch), produzieren sie PBL gar nicht oder nur minimal (Oller & Smith 1977 für Englisch). So erlernen Sprecher schließlich die spezifische Ausprägung und perzeptive Gewichtung von PBL ihrer Sprache. Bilden sie dabei auch mentale Repräsentationen für PBL aus? Liegt die Sensibilität für PBL in solchen Repräsentationen begründet? Wie dynamisch und wie stabil sind diese Repräsentationen? Liefern Perzeptionstests in verschiedenen Dialekten und entlang der Dialekt-Standard-Achse die Antwort darauf? Dies wird das aktuelle Promotionsprojekt zeigen.

Aktuelles Promotionsprojekt

Arbeitstitel: Pre-boundary Lengthening in regionalen Varietäten des Deutschen: Produktion, Perzeption, Repräsentation.

Ziele

Die einzelnen Ziele des aktuellen Promotionsprojektes liegen in der Beantwortung folgender Forschungsfragen:

1. Wie stark ist PBL in den untersuchten deutschen Dialekten ausgeprägt und welche Implementierungsmuster lassen sich erkennen? Welche dialektspezifischen Phänomene sind dafür verantwortlich?

2. Verändert sich der Grad der Ausprägung oder das Implementierungsmuster von PBL entlang der jeweiligen Dialekt-Standard-Achse? Welche Rückschlüsse auf die Existenz, Stabilität und Dynamik mentaler Repräsentationen von PBL lässt dies zu?

3. Ist die perzeptive Relevanz von PBL als Signal für Intonationsphrasengrenzen für Hörer, die in den untersuchten Dialekten sozialisiert wurden, höher oder niedriger als für Hörer, die in anderen Dialekten sozialisiert wurden?

4. Verändert sich die Sensibilität für PBL von Hörern, die in den untersuchten Dialekten sozialisiert wurden, entlang der Dialekt-Standard-Achse des eigenen bzw. entlang des Kontinuums zwischen dem eigenen und einem anderen Dialekt? Welche Rückschlüsse
auf die Existenz, Stabilität und Dynamik mentaler Repräsentationen von PBL lässt dies zu?

Methoden

Forschungsfragen 1 und 2 sollen mithilfe einer Analyse des REDE-Korpus beantwortet werden (vgl. Kehrein 2012). Vergleiche der Übersetzungen der Wenkersätze in den individuell „tiefsten Dialekt“ der Sprecher ermöglichen den Vergleich von PBL in unterschiedlichen Dialekten. Aufnahmen des vorgelesenen Textes „Nordwind und Sonne“ sowie spontansprachliche Freundesgespräche und Exploratoreninterviews bieten die Möglichkeit, identischer Wörter in IP-finaler und IP-medialer Position zu Vergleichen und so die Ausprägung von PBL entlang der Dialekt-Standard-Achse zu untersuchen. Dazu sollen die Grenzen der Segmente innerhalb des Wortes vor einer IP-Grenze annotiert und so deren Dauerwerte gemessen werden.

Forschungsfragen 3 und 4 sollen in einer anschließenden Perzeptionsstudie unter Anwendung von EEG-Methoden (CPS oder P600) beantwortet werden. Hierzu kann eine Gewährsperson (unbeachtet ihres Dialekts oder Dialektgrades) Sätze mit unterschiedlichen syntaktisch-ambiegen Strukturen, wie etwa „[Er sah den Mann] [mit dem Fernglas]“ versus „[Er sah] [den Mann mit dem Fernglas]“ einsprechen. Dabei wird die Reaktion der Hörer auf die An- bzw. Abwesenheit der disambiguierenden prosodischen Grenze getestet. Die Hörer können gebeten werden zwischen den zwei verschiedenen Bedeutungen der Sätze zu unterscheiden. Das eingesprochene Material wird dahingehend manipuliert, dass die Grenzsignale F0 und Pausen neutralisiert werden, sodass PBL als einziges Grenzsignal bleibt. Die PBL Werte der Aufnahmen werden den in der Korpusanalyse für die Dialekte gemessenen Werte synthetisch angepasst. Nehmen Sprecher von einem der untersuchten Dialekte IP-Grenzen trotz Manipulation von F0 besser war als Sprecher eines Vergleichsdialekts, so ist die perzeptive Relevanz von PBL für sie höher. Nehmen sie IPGrenzen hingegen schlechter war, so hat PBL für sie niedrigere (und F0 dafür potentiell höhere) perzeptive Relevanz. Die letzere Möglichkeit könnte mit einer Wiederholung des Experiments, diesmal unter Manipulation von PBL und Pausen gestestet werden. Um Forschungsfrage 4 zu testen, würden die PBL Werte so manipuliert, dass sie ein Kontinuum zwischen den Werten der in den Dialekten und in der Standardsprache (vgl. z.B. Schubö & Zerbian 2020) gemessenen Werte oder zwischen den Werten der untersuchten Dialekte und eines Vergleichsdialekts bilden. Fällt es Hörern in Annäherung an die Standardsprache oder an einen Vergleichsdialekt schwerer, IP-Grenzen wahrzunehmen, so verändert sich ihre Sensibilität für PBL entlang der Dialekt-Standard-Achse oder gegenüber anderen Dialekten.

Vorarbeiten

Eine vorbereitende Analyse der im Projekt Sprechtempo und Reduktion im Deutschen (SpuRD) ausgewerteten Daten des IDS-Korpus „Deutsch heute“ (Hahn i. Dr.) ergab im Vergleich zu anderen deutschen Varietäten (z.B. Niederdeutsch) eine stärkere Ausprägung von PBL vor allem in alemannischen, bairischen, mittel- und rheinfränkischen Dialekten. Bei „Deutsch heute“ handelt es sich um ein Korpus aus standardintendierter, gelesener Aussprache des Textes „Nordwind und Sonne“. Darin kommt das Wort „Sonne“ zweimal in phrasenfinaler und zweimal in phrasenmedialer Position vor und eignete sich so für einen ersten Vergleich der Dauer der einzelnen Segmente des Wortes in beiden Positionen, und damit für den Grad von PBL, im gesamten deutschen Sprachraum.

Alle Dialektgebiete, in denen PBL nach dieser ersten Analyse stärker ausgeprägt ist, weisen Längenvariation im Zusammenhang mit dialektspezifischen Phänomenen auf. Innerhalb des Alemannischen sind zum einen das Hochalemannische, in dem Einsilblerdehnung (Seiler 2010) und lexikalische Quantitätskontraste (Krähenmann 2003) auftreten, und das Nordostschwäbische, in dem neben Leichtschluss auch Schwerschlussdehnung auftritt (Auer 1989, Seiler 2010), betroffen. Das Mittelbairische, in dem die „Bairischen Quantitätsverhältnisse“ (die Silbenstrukturregel „Langvokal + Leniskonsonant, Kurzvokal + Fortiskonsonant“), herrschen, weißt stärkeres PBL vor allem an der bairisch-österreichischen Staatsgrenze und im Nordosten Österreichs auf (Hinderling 1980, vgl. Moosmüller & Brandstätter 2014 für Wiener Dialekt). Beide Dialektgebiete zusammenfassend beobachtet Lameli (2021) ebenfalls systematische Dehnungsverhältnisse von Vokalen in Abhängigkeit des konsonantischen Kontextes.

Ebenfalls zeichnet sich in der Voranalyse ein rheinhessisch-zentralhessisches Kontinuum ab, das besonders starkes PBL im Rheinfränkischen um Mannheim aufweist. Dies deckt sich mit den Beobachtungen Strecks (2004) von stärkerem PBL in der Stadtsprache Mannheims als in der Stadtsprache Hamburgs. Peters (2006) erwähnt Dehnung von Akzentsilben bei der für die Mannheimer Stadtsprache typischen Intonation von Akzentsilben. Es wäre denkbar, dass es sich dabei um sekundäre Dehnung handelt, wie sie auch bei der Produktion der Tonhöhenkontur des mittelfränkischen Tonakzents 2 auftritt. Länge ist daher im Falle der mittelfränkischen Tonakzente nicht lexikalisch-distinktiv, dennoch besteht die Möglichkeit einer kontrastverstärkende Funktion (Werth 2011). Streck (2004) sieht die Möglichkeit, dass der Kontrast zwischen akzentuierten und unakzentuierten Silben in der Mannheimer Stadtsprache durch Länge ausgedrückt wird. Passend dazu spricht Peters (2006) an anderer Stelle von einer überlangen Dehnung IP-finaler Akzentsilben.

Bezüge zu anderen Projekten

Da PBL ein Phänomen ist, das von Sprechern erlernt wird, bestehen unmittelbare Bezüge zum Projektbereich B. So untersucht Projekt B1 wortprosodische Prozesse, wie die Auslassung unbetonter Silben, beim Spracherwerb und deren Implikationen auf die Revision zugrundeliegender Repräsentationen. Wie gehen Kinder mit Silben um, die aufgrund von PBL gedehntenwerden? Müssen sie hier ihre zugrundeliegende Repräsentation eines Segments revidieren, wenn sie es in phrasenmedialer und phrasenfinaler Position hören? Zudem könnten die Ergebnisse des aktuellen Promotionsprojektes für die Längung mittelfränkischer Tonakzente vor IP-Grenzen die Befunde in Werth (2011) bezüglich der Relevanz von Länge für die lexikalische Distinktion der Tonakzente stützen oder erweitern und hätten so auch Implikationen für den Erwerb der mittelfränkischen Tonakzente (B2). Außerdem birgt das aktuelle Promotionsprojekt Implikationen für Sprachkontakt im Erstspracherwerb (B3). Dabei könnten Kinder, die zwei unterschiedliche Ausprägungen von PBL hören, eine „Mischform“ oder ihre ganz eigene Ausprägung von PBL ausbilden (vgl. Atterer & Ladd 2004, Queen 2006 für Intonation). Daneben bestehen auch Bezüge zu zum Projekt C1, denn spezifisch ausgeprägtes PBL, das bis in standardintendierte Sprechlagen hervordringt, könnte zur Perzeption von Regiolektgrenzen beitragen. Übertragen auf Projekt A2, könnten unterschiedliche Repräsentationen von PBL auf Seiten der Sprecher und Hörer ebenfalls zu kommunikativen Besonderheiten und zu Synchronisierungsprozessen führen. Somit stellt das aktuelle Promotionsprojekt ein Bindeglied des GRK 2700 dar.

Literaturangaben

Hahn, Matthias und Beat Siebenhaar (2019): "Schwa unbreakable – Reduktion von Schwa im Gebrauchsstandard und die Sonderposition des ostoberdeutschen Sprachraums". In: Kürschner, Sebastian/Mechthild Habermann/Peter O. Müller (Hg.), Methodik moderner Dialektforschung: Erhebung, Aufbereitung und Auswertung von Daten am Beispiel des Oberdeutschen. Georg Olms: 215–236.

Hahn, Matthias (i. Dr.): Sprechgeschwindigkeit und Reduktion im deutschen Sprachraum. Eine Untersuchung zur diatopischen Variation standard- intendierter Vorleseaussprache. Dissertation Universität Leipzig.

Werth, Alexander (2011): Perzeptionsphonologische Grundlagen der Prosodie. Eine Analyse der mittelfränkischen Tonakzentdistinktion. Steiner. (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte. 143).

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