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Projekt C1 - Dynamik und Stabilität von Regiolektgrenzen

PI und Ko-PI: Prof. Dr. Schmidt, Dr. Ganswindt
Promovierende: Milena Gropp

Forschungskontext

Unter „Regiolekt“ (bzw. „Umgangssprachen“) versteht man „standardabweichende Vollvarietäten mit großregionaler Verbreitung“ (Schmidt & Herrgen, 2011). Die deutschen Regiolekte gehen auf das „landschaftliche Hochdeutsch“ des 18. und 19. Jahrhunderts zurück (Ganswindt, 2017, 2019a, 2019b). Sie sind als phonologisch-prosodische Anpassungen der großregionalen Dialektverbände an die Schriftsprache entstanden und waren vor 1900 die einzigen Formen des Hochdeutschsprechens. Obwohl die sich als moderne Regiolekte fortsetzenden ehemaligen Prestigevarietäten heute die wichtigsten und am häufigsten verwendeten Varietäten der modernen deutschen Regionalsprachen darstellen, sind ihre Grenzen nur in wenigen Fällen bekannt (Purschke, 2011), die Erforschung ihrer Dynamik hat gerade erst eingesetzt (Elmentaler & Rosenberg, 2015b; Rocholl, 2015), zu den kognitiven Repräsentationen von Regiolektgrenzen gibt es noch keine Studien. Ein zentraler Forschungsbereich hierbei ist: Für die Dynamik von Regiolektgrenzen und ihre Handlungsrelevanz (Lameli, 2019) ist ihre Perzipierbarkeit ausschlaggebend. Daraus ergeben sich die folgenden Fragestellungen: Welche Rolle spielen welche linguistischen Basiskategorien für die Perzeption von Regiolektgrenzen? Ist der linguistische Status der beteiligten Einheiten entscheidend (segmentelles Phonem oder Prosodem)? Ist es die schiere Quantität von differierenden phonetischen Merkmalen oder der Grad der distributionellen Abweichungen? Ist die Salienz (und Pertinenz) von Einzelmerkmalen ausschlaggebend oder ihre Frequenz?

„Linguistische Struktur, variatives Spektrum und Dynamik“ der Sprachräume des Deutschen sind aktuell als Zentralteil des Internationalen Handbuchs der Sprachvariation (Bd. 4 Deutsch) aufgearbeitet (Herrgen & Schmidt, 2019), was einen idealen Einstieg in das Forschungsthema ermöglicht. Bekannt ist weiterhin das Ausmaß der phonetisch-phonologischen Differenzen zwischen den Dialektverbänden, die den modernen Regiolekten zugrunde liegen (Lameli, 2013), sowie charakteristische phonetisch-phonologische Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch, dem Vorgänger des Regiolekts (Ganswindt, 2017, 2019a, 2019b). Durch Variablenanalysen und Kartierungen sind die wichtigsten Merkmale der Regiolekte zugänglich (Kehrein, 2015; Kleiner, 2015). Die Salienz der 40 auffälligsten Regiolektmerkmale für den ober-, mittel- und niederdeutschen Sprachraum wurde in Kiesewalter (2019) bestimmt. Abgeschlossene perzeptionslinguistische Studien zu Regiolektgrenzen liegen bisher nur für die moselfränkisch-rheinfränkische und die obersächsisch-thüringische Regionalsprachgrenzen vor (Purschke, 2011). Unklar ist, weshalb entgegen der Einschätzung der Sprecher*nnen und der Ähnlichkeit der phonetischen Merkmale diesseits und jenseits der angenommenen Regiolektgrenzen diese zum Teil sprachdynamisch höchst relevant sind, während andere mit objektiv-linguistischen Verfahren nicht nachweisbar sind.

Aktuelles Promotionsprojekt

Arbeitstitel: Perzeptive Grenzen im Deutschen

Ziele

Die Dissertation möchte dazu beitragen, die perzeptive Relevanz von Regiolektgrenzen zu untersuchen (vgl. Purschke, 2011; Kleene 2020). Daher sollen zwei Binnengrenzen des Deutschen empirisch untersucht werden, um so die Makrodynamik der Regionalsprachen besser verstehen zu können. Die Auswahl der zu untersuchenden Grenzen erfolgt auf Grundlage der Dialekteinteilung nach Lameli (2013). Es sollen die Grenzen der drei großen Dialekträume – Niederdeutsch, Mitteldeutsch und Oberdeutsch – auf ihre perzeptive Relevanz untersucht werden. D.h. die erste Studie wird sich mit der Regiolektgrenze zwischen dem Niederdeutschen und dem Mitteldeutschen beschäftigen, die zweite Studie wird die Regiolektgrenze zwischen dem Mitteldeutschen und dem Oberdeutschen in den Blick nehmen.

Methoden

Um vergleichbares spontansprachliches Sprachmaterial für die empirische Untersuchung der regionalsprachlichen Grenzen zu gewinnen, werden im Untersuchungsraum sogenannte „Wetterinterviews“ durchgeführt (vgl. Purschke, 2011: 162). Bei dieser Art der Erhebung werden den Gewährspersonen – unter dem Deckmantel eines Radio-Interviews – Fragen zum Thema Klima und Wetter gestellt. Die Interviewerin fungiert beim Wetterinterview als fremde Gesprächspartnerin mit bewusst eingesetztem Standardsprachgebrauch und auffälligem Aufnahmeequipment, wodurch eine formale Interviewsituation geschaffen werden soll, die die Gewährspersonen zwingt, sich stark an der Standardsprechweise zu orientieren. „[A]llerdings erreichen die Sprecher die Zielnorm in der Regel aufgrund ihrer regional geprägten Registerkompetenz nicht.“ (Purschke, 2011: 162). So können möglichst standardnahe regional gefärbte Sprachaufnahmen unterhalb der Standard-Substandard-Grenze erhoben werden, die sich im Hörtest für die Überprüfung sowohl vertikaler als auch horizontaler Grenzen eignen.

In der Fragebogenstudie werden verschiedene Methoden kombiniert, u. a. die „Draw-a-map“-Task sowie Perzeptionstests. Bei der „Draw-a-map“-Task wird den Gewährspersonen ein Ausschnitt einer Region (etwa Teile eines Bundeslands) als Städtekarte vorgelegt, in welche sie ihnen bekannte Sprachräume einzeichnen sollen. Dadurch sollen Einblicke in die subjektive Konzeptualisierung des Untersuchungsgebiets ermöglicht werden. Die durch die Wetterinterviews gewonnenen Sprachaufnahmen sollen im Fragebogen von den Gewährspersonen auf ihre Dialektalität und Regionalität hin beurteilt werden. Die Hörerurteile werden in zwei Schritten erhoben: Zunächst sollen die Teilnehmer*innen auf einer siebenstufigen Ratingskala mit den Extrempolen „reines Hochdeutsch“ und „tiefster Dialekt“ die Dialektalität der Äußerungen bewerten (subjektiver Abstand zur Standardsprache = vertikale Dimension). Im zweiten Teil soll die Hörprobe regional verortet werden (horizontale Dimension). Dazu wird den Gewährspersonen eine Reihe an Auswahlmöglichkeiten angeboten.

Vorarbeiten

In Schmidt & Herrgen (2011) wurde versucht, das Forschungsprogramm für das Forschungsfeld „moderne Regionalsprachen“ zu entwerfen und mit der Synchronisierungstheorie einen der Zentralbausteine für die Sprachdynamiktheorie zu konzipieren. Im Rahmen dieses Forschungsprogramms sind zwei grundlegende Studien zur Perzeptionslinguistik von Varietätengrenzen und zur Salienz von regionalsprachlichen Merkmalen entstanden (Kiesewalter, 2019; Purschke, 2011). Historische Grenzen des Regiolekts und die phonetisch-phonologischen Merkmale der Vorgängervarietät sind in den Studien von Ganswindt (2017, 2019a, 2019b) zum landschaftlichen Hochdeutsch herausgearbeitet. In einer Pilotstudie wurde die nordbairisch-ostfränkische Dialektgrenze im Oberdeutschen untersucht und dabei die in der Dissertation C1 angewendete Methodik getestet (vgl. Gropp, 2020, i. E.).

Bezüge zu anderen Projekten

A1, A2, A3, C2

Literaturangaben

Elmentaler, Michael & Peter Rosenberg (2015b): Regionalsprachlichkeit und Sprachvariation. In: Elmentaler, Michael/Markus Hundt/Jürgen Erich Schmidt (Hg.), Deutsche Dialekte. Konzepte, Probleme, Handlungsfelder. Akten des 4. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD) in Kiel, 435–451. Steiner.

Ganswindt, Brigitte (2017): Landschaftliches Hochdeutsch. Rekonstruktion der oralen Prestigevarietät im ausgehenden 19. Jahrhundert. Steiner (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte. 168).

Ganswindt, Brigitte (2019a): Historische Mündlichkeit. Statistische Methoden in der historischen Regionalsprachenforschung. Linguistik online, 99(6), 35–49.

Ganswindt, Brigitte (2019b): Landschaftliches Hochdeutsch vom 17. bis 19. Jahrhundert. In: Herrgen, Joachim/Jürgen Erich Schmidt (Hg.), Sprache und Raum. Ein internationales Handbuch der Sprachvariation. Band 4: Deutsch. Unter Mitarbeit von Hanna Fischer und Brigitte Ganswindt. De Gruyter Mouton (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 30.4), 101–120.

Herrgen, Joachim/Jürgen Erich Schmidt (2019): Sprache und Raum. Ein internationales Handbuch der Sprachvariation Band 4: Deutsch. Unter Mitarbeit von Hanna Fischer und Brigitte Ganswindt. De Gruyter Mouton (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 30.4).

Gropp, Milena (2020): Regionalsprachliche Grenzen im Hörerurteil. Eine Perzeptionsstudie zum ostfränkisch-nordbairischen Übergangsgebiet. Unveröffentlichte Masterarbeit, Philipps-Universität Marburg.

Gropp, Milena (i. E.): Regionalsprachliche Grenzen im Hörerurteil. Eine Perzeptionsstudie zum ostfränkisch-nordbairischen Übergangsgebiet. Linguistik Online.

Kehrein, Roland (2015): Deutsche Regionalakzente – ihre Entstehung, Form und mögliche Weiterentwicklung. In: Elmentaler, Michael/Markus Hundt/Jürgen Erich Schmidt (Hg.), Deutsche Dialekte. Konzepte, Probleme, Handlungsfelder. Akten des 4. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD), 453–477. Steiner.

Kiesewalter, Carolin (2019): Zur subjektiven Dialektalität regionaler Aussprachemerkmale des Deutschen. Steiner.

Kleene, Andrea (2020): Attitudinal-perzeptive Variationslinguistik im bairischen Sprachraum. Horizontale und vertikale Grenzen aus der Hörerperspektive. Leibniz-Institut für Deutsche Sprache.

Kleiner, Stefan (2015): „Deutsch heute“ und der Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards. In Kehrein, Roland/Alfred Lameli/Stefan Rabanus (Hg.), Regionale Variation des Deutschen, 489–518. De Gruyter.

Lameli, Alfred (2013): Strukturen im Sprachraum. Analysen zur arealtypologischen Komplexität der Dialekte in Deutschland. De Gruyter.

Lameli, Alfred (2019): Sprachraum, Gemeinschaft, Handeln. In Herrgen, Joachim/Jürgen Erich Schmidt (Hg.), Sprache und Raum. Ein internationales Handbuch der Sprachvariation Band 4: Deutsch. Unter Mitarbeit von Hanna Fischer und Brigitte Ganswindt. De Gruyter Mouton (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 30.4), 897– 914.

Rocholl, Josephine (2015): Ostmitteldeutsch – eine moderne Regionalsprache? Eine Untersuchung zu Konstanz und Wandel im thüringisch-obersächsischen Sprachraum. Georg Olms.

Schmidt, Jürgen Erich/Joachim Herrgen (2011): Sprachdynamik. Eine Einführung in die moderne Regionalsprachenforschung. Erich Schmidt Verlag (Grundlagen der Germanistik. 49).