Hauptinhalt
Hindemiths Vortragstätigkeit
In der Aula der Universität Frankfurt am Main lauschte eine große Zuhörerschaft den Ausführungen Hindemiths zum Thema »Musikalisches Ethos«. Obwohl dieser Vortrag keiner im strengen wissenschaftlichen Sinne war, offenbarte er doch Hindemiths enormes Wissen sowie sein spezielles Verständnis der gesamten Musikgeschichte, sodass Helm ihn als »einzigartig unter den zeitgenössischen Komponisten« beschrieb. Dem Vortrag war eine kleine Zeremonie im Arbeitszimmer des Rektors vorausgegangen, in deren Rahmen Hindemith offiziell der Ehrentitel "Doctor honoris causa" verliehen worden war.
Am folgenden Tag hatte Hindemith eine Diskussion mit 125 ausgewählten geladenen Gästen im Amerikahaus in Frankfurt. Über eine Stunde lang beantwortete er Fragen unterschiedlichster Art, wobei sich der interessanteste Diskussionspunkt um die so genannten »geistigen und menschlichen Qualitäten« von Musik im Unterschied zu deren »technischen Qualitäten« drehte. Auch unter denjenigen, die sich professionell mit Musik befassten, war der Gedanke, dass »göttliche Eingebung« technische Mängel kompensieren könne, noch weit verbreitet. Hindemith lehnte diese Auffassung vehement ab. Er bestand auf der Bedeutung des technischen Aspektes, sowohl den Komponisten als auch den Interpreten betreffend. Hindemiths ablehnende Haltung gegenüber seinem Publikum, mit ihm über musikästhetische Aspekte zu reden, kam für dieses überraschend. Die Menschen konnten kaum glauben, dass ein gebürtiger Deutscher die Begriffe »absolute Schönheit«, »Wirklichkeit«, »Ausdruckhaftigkeit«, »Eingebung« und »Wahrheit und Schönheit« als Zeitverschwendung und als zu nichts führend klassifizierte.
Interessant gestaltete sich vor allem ein Vortrag, den Hindemith in Darmstadt über »Musik in Amerika« hielt, was nach Helms Urteil nicht zuletzt an der besonderen Atmosphäre der Stadt und ihrer Menschen lag. Diese beinahe völlig zerstörte, einst so beeindruckende Stadt hätte ein erstaunliches Durchhaltevermögen in Angelegenheiten des Verstandes und Geistes gezeigt und sei nun eine der eifrigsten, wenn es darum gehe, neue Anreize zu erhalten und neue Ideen zu haben. Der passive Widerstand gegenüber Vorschlägen und Ideen der US-amerikanischen Besatzungsmacht, der in vielen deutschen Städten bemerkt werde, sei in Darmstadt minimal, meinte Helm. So hätte sich das Publikum, das die Darmstädter Stadthalle füllte, verständnisvoll gezeigt, als sich Hindemith wohlwollend über das US-amerikanische Musikleben äußerte. Sein Vortrag eröffnete den Darmstädtern einen Einblick in verschiedene Bereiche der US-Musikkultur: Musikerziehung und Musikerausbildung waren ebenso Teil seiner Rede wie das Konzertleben und die Aufführungspraxis sowie Zuschauererwartung und Musikrezeption.
Hindemiths Lob galt vor allem der Musikerausbildung und den Orchestern. Besonders interessant war sein Vergleich der unterschiedlichen Einstellungen, mit denen Deutsche und US-Amerikaner an ein Konzert herangingen: In Deutschland ginge das Publikum in etwa in der selben Stimmung ins Konzert, in der es in die Kirche gehe, denn es halte Ausschau nach spiritueller und mentaler Erbauung und nach einer emotionalen »Nachricht«; das US-amerikanische Publikum dagegen gehe ins Konzert auf der Suche nach gehobener Unterhaltung. Die hätte zur Folge, dass amerikanische Orchester deutschen Orchestern insgesamt technisch überlegen seien, während deutsche Orchester mit mehr »Seele« spielten. Im Anschluss an seinen Vortrag führte Hindemith auch in Darmstadt eine Diskussion, in deren Verlauf die Anwesenden echtes Interesse an den musikalischen Angewohnheiten der US-Amerikaner zeigten. Das Publikum war sichtlich überrascht von einer solch glaubwürdigen Quelle zu hören, wie weit die Entwicklung des Musiklebens in den USA vorangeschritten war.
(Quelle: „Hindemith in Germany“: Signatur 8/44-1/4 [OMGH E&CR/Theater and Music Branch] im Bestand der OMGUS-Akten, National Archives of the United States, Washington RG 260/OMGUS [auf Microfiche im Bestand des Hessischen Hauptstaatsarchivs, Wiesbaden/HHStAW; 649], S. 3-5)