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Paul Hindemith und seine Bedeutung für den Wiederaufbau des deutschen Musiklebens nach 1945

Ende 1948 erhielt Everett Helm aus Washington den Auftrag, Paul Hindemith und dessen Ehefrau während ihres zweiwöchigen Aufenthaltes in Hessen zu betreuen. Es sollte Helms erste Begegnung mit dem Komponisten werden. Hindemith folgte einer Einladung der US-amerikanischen Militärregierung, die den Emigranten, der im Januar 1946 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, für ihr Konzept der kulturellen Umerziehung der Deutschen einspannte. So kam Hindemith im Januar/Februar 1949 im Verlauf seiner zweiten Europareise nach dem Krieg erneut nach Deutschland, diesmal gewissermaßen in offizieller Mission, um in München, Nürnberg, Darmstadt, Wiesbaden, Frankfurt am Main und in Berlin Vorträge über das deutsche und das US-amerikanische Musikleben zu halten beziehungsweise um sowohl eigene als auch Werke anderer Komponisten zu dirigieren.

Foto: edocs.ub.uni-frankfurt.de
Paul Hindemith

Hindemiths Wirken in Deutschland beziehungsweise in Hessen verlief konform mit der US-amerikanischen Militärregierung und ihrer kulturpolitischen Intention. Als Deutscher um die Situation des deutschen Musiklebens sowie um die Einstellung der Deutschen zur Musik wissend, wurde Hindemith von den Deutschen akzeptiert. Er sprach als einer von ihnen, der weniger Zuflucht als vielmehr Inspiration in den USA gefunden hatte. Seine Ausführungen über das US-amerikanische Musikleben wurden nicht als Propaganda empfunden, übte er doch auch Kritik an bestimmten Aspekten dieser Musik. Abgesehen davon, wurde Hindemith als Mann geachtet, der sich nicht mit den Nationalsozialisten arrangierte und das Land verlassen hatte, um zu seinen Idealen zu stehen. Im Umgang mit Ansichten, die das Naziregime betrafen, bescheinigte Helm dem Komponisten Souveränität; Hindemith habe diese Angelegenheiten als Fakten präsentiert, über die es keine unterschiedlichen Meinungen gebe.

Wenn Hindemith von den zwölf verlorenen Jahren der deutsche Kultur im Allgemeinen und der deutschen Musik im Besonderen sowie von der Notwendigkeit gesprochen hatte, diese verlorene Zeit aufzuarbeiten, hätten ihm die Menschen zugehört und wären nachdenklich geworden. Hindemith selbst war sich darüber im Klaren, dass er im Auftrag einer der vier Besatzungsmächte nach Deutschland zurückgekommen war, er somit innerhalb des kulturpolitischen Konzeptes der US-Militärregierung eine bestimmte Funktion im Bereich der Musik erfüllte, und ihm daher durchaus Misstrauen und Ablehnung hätten entgegenschlagen können, zumal die Deutschen sich ihrer einflussreichen musikalischen Tradition bewusst waren, an dieser festhielten und sich nur schwer von importierten musikalischen Strömungen überzeugen ließen. Allerdings sah sich Hindemith als einen »Boten guten Willens«, da er als ehemaliger deutscher Staatsbürger in sein Heimatland zurückkehrte, welches er noch aus besseren Zeiten in Erinnerung hatte, und mit welchem er sich nach wie vor verbunden fühlte. Indem er für all die Dinge des Musiklebens der US-amerikanischen Besatzungsmacht warb, die er an seiner neuen Heimat schätzen gelernt hatte, hoffte der Komponist, an ein von früher bestehendes Vertrauensverhältnis zwischen ihm und seinen einstigen Landsleuten anknüpfen zu können.

Der Eindruck, den Hindemith während seiner Reise durch Hessen hinterließ, war durchweg positiv. Er bestand darauf, mit deutschen Musikstudenten, die sich nach Kontakt mit der Außenwelt sehnten, zusammenzutreffen, referierte aber nicht über seine eigenen Werke. Die deutsche Öffentlichkeit hatte jedoch Gelegenheit, Werke Hindemiths zu hören, und sie nutzte diese Chance. Hindemith dirigierte jeweils zwei Konzerte in München, Frankfurt am Main und in Berlin. Alle sechs Konzerte waren ausverkauft. Zur Aufführung gelangten nur Kompositionen, die in den USA entstanden waren, darunter die Orchestersuite Nobilissima visione (1938), die Symphonie in Es (1940), das Cellokonzert (1940) und die Symphonia serena (1946).

Foto: de.wikipedia.org
Amar Quartett (1922) v. l. n. r.: Maurits Frank, Licco Amar, Walter Caspar und Paul Hindemith

Auch wenn sich der eher konservative Teil der deutschen Öffentlichkeit zunächst Hindemiths Musik verweigerte, so fanden sich die Menschen zahlreich ein, um seinen Ausführungen über das deutsche, vor allem aber über das US-amerikanische Musikleben zu lauschen. Allein durch sein Auftreten und seine Einstellung schien Hindemith die Entwicklung der deutschen Musik in den Nachkriegsjahren zu beeinflussen. 1949 galt er als der größte lebende deutsche Komponist, dessen Musik regelmäßig gespielt wurde. Vielen jungen Komponisten war er ein Vorbild. Dennoch musste sich Hindemith den Vorwurf gefallen lassen, er habe sich in den USA angepasst und dabei seinen ursprünglichen Avantgardismus geopfert. Eine neue Generation von Komponisten stand seinen Überlegungen zur Entwicklung der Musik und zum Musikleben zunehmend distanziert gegenüber. Dem Ansehen, welches Hindemith im allgemeinen Musikleben genoss, konnte diese Entwicklung jedoch nichts anhaben.