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Johann Gottlieb Graun
Johann Gottlieb Graun war einer der bedeutendsten Violinvirtuosen seiner Zeit. Die Berufung eines so renommierten und auch kostspieligen Musikers in eine Residenz wie das Fürstentum Waldeck-Pyrmont – wie konnte das sein?
Nach dem Tod Fürst Anton Ulrichs (Jan. 1728), des Begründers Arolsens als Residenz, und seines erstgeborenen Sohns und Nachfolgers, Fürst Christian Philipp (Mai 1728), kam die Regentschaft auf den Zweitgeborenen, Fürst Karl August Friedrich (reg. Mai 1728 – Aug. 1763), überraschend zu. Dieser hatte eine militärische Laufbahn eingeschlagen, stand bis 1728 in preußischem Dienst und trat sodann Reisen an. Persönlich oder über einen Mittelsmann kam er mit dem venezianischen Librettisten Domenico Lalli (1679–1741; eigtl. Sebastiano Biancardi) in Kontakt, denn seine Rückkehr nach Arolsen wurde im Nov. 1730 mit der Cantata à tres voci Il genio festiggiante [!] di Arolsen gefeiert [1], dessen Textautor Lalli war (einen ähnlichen Text, L’Isara festeggiante, hatte Lalli ebenfalls 1730 für den Münchner Hof verfasst, der ihm den Ehrentitel „Poeta di S.A.S die Baviera“ verlieh). Lalli versorgte den Arolser Hof von Venedig aus nachweislich noch 1735 mit Kantaten, Arien und anderen Musikalien. [2] Aus all dem geht hervor, wie engagiert Fürst Karl August Friedrich darum bemüht war, der Arolser Hofmusik neuen Glanz zu verleihen, unbeschadet der Tatsache, dass sein Hauptaugenmerk auf der Konsolidierung der unter Fürst Anton Ulrich ruinierten Finanzen lag.
Die bis zu diesem Zeitpunkt bereits respektable Karriere Johann Gottlieb Grauns muss um 1730 an einen Wendepunkt geraten sein. 1702 oder 1703[3] in Wahrenbrück (seinerzeit Sachsen) geboren, wurde ihm wie seinem Bruder Carl Heinrich, dem späteren Hofkapellmeister König Friedrichs II. von Preußen, eine engagierte familiäre Förderung zuteil. Sein Vater zahlte für ihn das Schulgeld an die Dresdner Kreuzschule (von 1713–1721; seinem Bruder Carl Heinrich von 1714–1721), wo er eine gründliche Ausbildung erhielt, die musikalischen Unterricht einschloss.[4]
Die Grundlagen des virtuosen Violinspiels erlernte er allerdings von Johann Georg Pisendel, seit 1712 erster Geiger am Dresdner Hof (offizielle Ernennung zum Konzertmeister 1731). Durch Pisendel, der sich mit Unterstützung des Dresdeners Hofs seit 1716 in Venedig durch Antonio Vivaldi auf den aktuellen Stand des virtuosen Violinspiels sowie der Komposition von Solosonaten und Solokonzerten bringen konnte, wurde auch Graun mit dieser sein gesamtes Schaffen und Wirken prägenden Musik vertraut. Die Zeit zwischen 1721, dem Austritt aus der Dresdner Kreuzschule, und 1726, dem Jahr seiner Anstellung am Merseburger Hof als „Capell-Director“, liegt im Dunkeln. Da ein frühes Violinkonzert Grauns den Vermerk „allora studiente sotto Tartini“ trägt [5] und Grauns Lehrer, Johann Georg Pisendel, in einem Brief aus dem Jahre 1750 festhält, „der ConcertM.r [Graun] hat etliche Monath /: länger aber nicht :/ von M.r Tartini profitirt“,[6] ist davon auszugehen, dass Graun zwischen 1721 und 1723 für einige Monate in Italien, in „Welschland“ (Pisendel), war, um sich von dem als Violinlehrer berühmten Giuseppe Tartini als Geiger unterrichten zu lassen.[7]
Graun wurde mit 23/24 Jahren „Capell-Director“ am Merseburger Hof. Bereits 1726/27 publizierte er sechs Violinsonaten (Sei sonate per violino e cembalo, o. O, o. J.), die er Herzogin Henriette Charlotte von Sachsen-Merseburg widmete. Da er ein vergleichsweise hohes Gehalt bezog, [8] hatte er sich offenbar Ansehen verschafft. Wann und warum er aus dem Merseburger Dienst schied, ist nicht bekannt. [9]
Am 1. Sept. 1731 (Datum der Bestallungsurkunde) wurde Graun „Capell-Director“ am Hofe des Fürsten Karl August Friedrich in Arolsen. Er hielt ein bemerkenswertes Gehalt von 400 Talern (in Merseburg 306 Taler 6 Groschen), darüber hinaus Naturalien wie freies Quartier, Wein, Roggen und Brennholz. [10] Mann kann zwar nicht beweisen, doch nach Lage der Dinge annehmen, dass Graun in Arolsen Instrumentalkompositionen schuf und für die Belange der Hofmusik die Verantwortung trug. Graun hielt sich bis mindestens Ende Juli 1732 in Arolsen auf. Am 25. Juli 1732 wurde dort seine älteste Tochter geboren (aus der 1731 in Berlin geschlossenen Ehe mit Dorothea Sophie Schmiel). Im Zeitraum 5. Mai 1732 bis 3. Mai 1733 hat er nachweislich die ihm jährlich zustehenden „8 Mütte“ Roggen bezogen.[11] Ob das bedeutet, dass er erst im Mai 1733 Arolsen verließ, ist eher unwahrscheinlich, denn spätestens seit Herbst 1732 stand er mit Kronprinz Friedrich in Ruppin in Kontakt, der sich darum bemühte, von ihm Konzerte zu bekommen. Großzügig bietet der Kronprinz am 8. Dez. 1732 seiner in Berlin weilenden Schwester, Markgräfin Wilhelmine von Brandenburg-Bayreuth, an, sich „Grauens“ zu bedienen („Grauen est à Vostre Servisse Vous n’aveu quèn ordonnér ci Vous le vouléz avoir“ (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [GStAPK] BPH Rep. 47, Nr. 305 – 1, fol. 187). Eine gute Woche später, am 15. Dez. 1732, berichtet er fröhlich aus Ruppin, dass er täglich mit Graun und dem Berliner Domkantor Gottlieb Hayne musiziere. Graun war das erste Mitglied, gleichsam Begründer der legendären Ruppin/Rheinsberger Hofmusik des Kronprinzen Friedrich als wiederum Keimzelle der 1740 gegründeten „königlich preußische(n) Capelle“, deren Konzertmeister er wurde. Diese Stellung hatte er bis zu seinem Tod inne.
Aufgrund der vielfach unsicheren Überlieferung der Kompositionen Grauns und der ebenfalls in der Regel auf Mutmaßungen basierenden Chronologie derselben ist es kaum möglich festzustellen, welche Werke Grauns tatsächlich in Arolsen entstanden sind. Christoph Henzel, Verfasser des Graun-Werkverzeichnisses und Herausgeber einiger Kompositionen,[12] datiert die Sonaten D-Dur (GraunWV A: XVII: 2), Es-Dur (C:XVII:64), G-Dur (C:XVII:70, C:XVII: 69) und g-Moll (C:XVII:71) auf die Zeit um 1730. Diese Werke könnten in Arolsen komponiert worden sein.
Durch Graun – so viel steht immerhin fest – geriet Arolsen auf denkbar hohem Niveau mit der virtuosen Instrumentalmusik und einer Interpretationskultur in Berührung, die in dieser frühen Zeit nur an den bedeutendsten Höfen des Heiligen Römischen Reichs zur Vorstellung kam. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, aus welchen Gründen Graun Arolsen so rasch wieder verließ. Blieben – wie schon im Falle Maria Domenica Polons – aufgrund der nach wie vor schwierigen wirtschaftlichen Lage die Zahlungen aus? Passte das Umfeld nicht? Zog es die junge Frau Johann Gottlieb Grauns in das heimatliche Berlin?
Fürst Karl August Friedrich trat ab 1734 als hervorragender Militär wieder in die Dienste des Heiligen Römischen Reiches. Damit verbunden war die Generierung von Einkommen und Wirtschaftskraft, nicht zuletzt der überfällige Abbau der Schulden, die für das Fürstentum Waldeck-Pyrmont eine Überlebensfrage waren. Die Hofmusik trat in dieser Zeit der Abwesenheit des Fürsten in den Hintergrund. Im Juni 1739 wurde der Fürst schwer verwundet. Genau aus dieser Zeit ist ein Schriftwechsel überliefert, der darauf hindeutet, dass Grauns Wirken in Arolsen nicht folgenlos war. Fürst Karl August Friedrich stattete 1739/40 einen aus Arolsen stammenden Violinisten, Bernhard Schelff [nicht Scheff oder. Schelf!], mit einem Stipendium aus, damit er – wie seinerzeit Johann Gottlieb Graun – bei Giuseppe Tartini studieren konnte. Dank eines Streits, der mit Schelffs Ausbildung nichts zu tun hatte (in Arolsen bezichtigte man Tartini fälschlich, Schelff zur Konversion zum Katholizismus verleitet zu haben), ist immerhin bekannt, dass er ein von Tartini sehr geschätzter Schüler war. [13] Er ist der Verfasser einer Violinsonate und eines Violinkonzerts, die zumindest im Blick auf die Ornamentierungen Tartinis Schulung erkennen lassen sollen.[14]
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[1] Libretto im Hessischen Staatsarchiv Marburg (HStAM) 118 a, Nr. 1641.
[2] Brief Lallis an Fürst Karl August Friedrich vom 10. Juni 1735 im HStAM 118 a, Nr. 1676.
[3] Johann Gottlieb Grauns Geburtsdatum lässt sich nicht feststellen, da das für ihn einschlägige Kirchenbuch in seiner Heimatstadt Wahrenbrück verbrannt ist. Da er am 27. Okt. 1771 68-jährig verstarb (Eintrag ins Sterberegister), wird sein Geburtsdatum zwischen dem 27. Okt. 1702 und 27. Okt, 1703 angesetzt (vgl. Christina Siegfried, Die Gebrüder Graun. Musiker in preußischen Diensten. Erste Skizze – Annäherung, in: Die Rheinsberger Hofkapelle von Friedrich II. Musiker auf dem Weg zum Berliner „Capell-Bedienten“, hrsg. v. Ulrike Liedtke, Rheinsberg 2005, S. 147–180: 152 bzw. 158. Siegfried bezieht sich auf Norbert Reglin, Carl Heinrich Graun – erster preußischer Hofkapellmeister und bedeutender Opernkomponist in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts, Potsdam 1987, S. 20).
[4] Vgl. Siegfried (wie Fußnote 3), S. 151. Die Verf. korrigiert die in der älteren Literatur vertretene These, der zufolge Graun aus ärmlichen Verhältnissen stammte.
[5] Vgl. Siegfried (wie Fußnote 3), S. 155 (in Fußnote 37 Nachweis der Quellen).
[6] Johann Georg Pisendel an Georg Philipp Telemann im Jahre 1750, in: Georg Philipp Telemann. Briefwechsel, hrsg. v. Hans Grosse und Hans Rudolf Jung, Leipzig 1972, S. 354.
[7] In der sehr gründlich recherchierten Monographie Pierluigis Petrobellis über Giuseppe Tartini wird Graun als Schüler Tartinis nicht erwähnt. Allerdings wird Tartini mit den Worten zitiert, dass er zahlreiche Schüler aus Sachsen unterrichtet habe. Tartini lebte – mit Ausnahme der Jahre 1723 bis 1726 – in Padua. Da Graun bereits 1726 in Merseburg war und seinen Unterricht bei Tartini in Italien genommen haben soll, kommt lediglich der Zeitraum 1721 bis 1723 in Betracht. Zur Qualität und Eigenart des Unterrichts Tartinis vgl. Pierluigi Petrobelli, Tartini, le sue idee e il suo tempo, Lucca 1992, S. 87 u. 94ff.
[8] Eine genaue Aufstellung im „Besoldungsreglement de Anno 1727“, wiedergegeben in: Wolfram Steude, Bausteine zu einer Geschichte der Sachsen-Merseburgischen Hofmusik (1653–1738), in: Musik der Macht – Macht der Musik. Die Musik an den sächsisch-albertinischen Herzogshöfen Weißenfels, Zeitz und Merseburg. Bericht über das wissenschaftliche Symposium anlässlich der 4. Heinrich – Schütz – Tage, Weißenfels 2001, hrsg. v. Juliane Riepe (=Schriften zur Mitteldeutschen Musikgeschichte, Bd. 8), Schneverdingen 2003, S. 73–101: 90.
[9] Steude (wie Anmerkung 8), S. 91f.
[10] Die Bestallungsurkunde befindet sich im HStAM 118 a, Nr. 2535. Die auch noch in neuerer Literatur vertretene Behauptung, Graun habe bereits 1728 in Arolsen gewirkt, ist unzutreffend.
[11] Hermann Langkabel, Die waldeckischen Rechnungen als musikgeschichtliche Quelle. In: Geschichtsblätter für Waldeck 85 (1997), S. 78–84: 82.
[12] Diese Sonaten sind in einer Neuausgabe erhältlich (Acht Sonaten für Violine und Basso continuo, hrsg. v. Bernhard Schrammek [=Berliner Klassik. Serie A, Kammermusik 1], Beeskow 2004).
[13] Konkret handelt es sich um ein Konvolut von sechs Briefen Tartinis aus dem Zeitraum 6. Juni 1740 bis 5. Januar 1741, die teils an Johann Friedrich Werner, den Sekretär des in Venedig lebenden Kunstkenners, Feldmarschall Johann Matthias Graf von der Schulenburg, teils an Schuchardt, den Rat und Geheimen Sekretär des Fürsten von Waldeck-Pyrmont, gerichtet sind (HStAM 118 a, Nr. 1672; Auszüge aus den Originalen in Petrobelli [wie Fußnote 7], S. 86f.).
[14] Vgl. Petrobelli (wie Fußnote 7), S. 86f. (dort Quellenverweis).