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Menschenwissen. Biopolitik und Geschlecht in der Literatur und Kultur des frühen 20. Jahrhunderts
Forschungsprojekt, gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst
Laufzeit 4/2015-3/2016
Leitung: Prof. Dr. Burkhard Dohm, PD Dr. Urte Helduser
Mitarbeit: Marita Wiedecke
Das Projekt widmet sich der Reflexion biopolitischen Wissens in der Literatur und Kultur des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Exemplarisch untersucht werden Texte Ödön von Horváths und Veza Canettis und ihre Situierung in einem kulturellen Wissensdiskurs. Wie gezeigt werden soll, thematisieren diese Autoren in einer bislang kaum erforschten Dimension zeitgenössische Debatten um die Regulierung und Normalisierung des Körpers und der Nachkommenschaft, darüber hinaus rekurrieren sie aber auch in ihren ästhetischen Verfahren auf populäre kulturelle Repräsentationen solcher Diskurse.
Ausgangspunkt ist die These, dass biopolitisches Wissen, wie es in verschiedenen weltanschaulichen Lagern seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mit eugenischen Konzepten einer „Verbesserung des Volkskörpers“ und der Gestaltung des „Neuen Menschen“ verknüpft ist, nicht nur auf wissenschaftliche und politische Spezialdiskurse beschränkt ist, sondern sich auf vielfältige Weise auch in Alltagsmedien und der populären Kultur artikuliert. Prägnant zeigt sich dies in der großstädtischen Vergnügungskultur mit ihren im Zwischenfeld von Unterhaltung und Wissenspopularisierung angesiedelten Panoptiken und Freakshows, einem Phänomen, dessen ästhetische Faszinationskraft literarische Texte der Zeit immer wieder aufgreifen. Im Rahmen des Projekts sollen deshalb die vielfältigen Bilder des grotesken Körpers in der Literatur der 1920er und -30er Jahre, von den Jahrmarkts-Abnormitäten über die ‚Kriegskrüppel’ bis hin zu den diversen Kunstkörpern, im Spannungsfeld biopolitischer Verwerfungen und ästhetisch-subversiver Inszenierung in den Blick genommen werden.
Der Fokus richtet sich auf die österreichische Metropole Wien, die als kultureller Brennpunkt biopolitischer Diskurse gelten kann. Die Stadt ist nicht nur Zentrum der literarischen Moderne der Zwischenkriegszeit sondern zugleich Austragungsort wissenschaftlicher Diskussionen um „Rassenhygiene“ und Labor für die gesundheits- und bevölkerungspolitischen Reformprojekte des „roten Wiens“. Dieses Spannungsfeld lotet das Projekt an einer der für die kulturellen Debatten wichtigsten Tageszeitungen, der Wiener Arbeiter-Zeitung aus. Mit ihr wird ein führendes Medium der Zeit untersucht, das als diskursiver Kontext der Texte Canettis und Horváths gelten kann. Die AZ, die eines der wichtigsten Feuilletons der Zwischenkriegszeit enthält, ist zum einen Publikationsort von Texten Canettis, zum anderen ist sie Medium der Diskursivierung biopolitischen Wissens, in der Themen wie Eugenik, Behinderung, Geburtenkontrolle und Sexualpolitik zentral verhandelt werden und in der immer wieder VertreterInnen der austromarxistischen Rassenhygiene-Bewegung zu Wort kommen.