04.04.2019 Mittelalterliche Glossen – Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Alderik Blom

Bericht über die Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Alderik Blom am 02.11.2018 im Historischen Saal der Stadt Marburg über Mittelalterliche Glossen

Prof. Dr. Alderik Blom bei seiner Antrittsvorlesung, im Hintergrund eine Präsentation über Glossen
Foto: Ulrich Geupel

Mittelalterliche Glossen – Paläographie, Paratext und Pragmatik

Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Alderik Blom (Professor für Keltoloie)

Dekanin Prof. Dr. Birkle eröffnet die Veranstaltung.
Foto: Ulrich Geupel

Die Überlieferungen mittelalterlicher Texte sind dynamische Prozesse, in denen sich die Texte sowohl hinsichtlich ihrer Form wie auch ihres Inhalts verändern. Teil dieses Entwicklungsprozesses können den Texten zugehörige Glossierungen darstellen. In seiner Antrittsvorlesung am 02.11.2018 im Alten Rathaus diskutierte Prof. Dr. Blom Form und Funktion der bisher nur wenig systemisch erforschten mittelalterlichen Glossen, definierte Modelle für deren Kategorisierung und beurteilte das Verhältnis von Ausgangstext, Glossator und Publikum. Eingeführt wurde Prof. Blom von der Dekanin des Fachbereichs, Prof. Dr. Carmen Birkle.

Prof. Birkle begrüßte die große Zahl an in- und ausländischen Gästen, die das historische und stilvolle Ambiente des Alten Rathaussaals bis zum beinahe letzten Platz füllten. In Ihrer Eröffnungsrede brachte die Dekanin Ihre Freude über die Neubesetzung der Professur zum Ausdruck und betonte die Bedeutung der Keltologie für die Universität Marburg.

In seinem Vortrag schlug Prof. Blom eine bewusst breit angelegte Definition von Glossen vor und umschrieb sie als „alles was auf dem Blatt ist, was nicht der Text selbst ist, sondern ihn erschließt“.  Glossen dienten dabei dazu, den Haupttext zu unterstützen und den Zugang zu ihm zu erleichtern, indem sie etwa Wortformen, Satzbau oder Inhalte erläuterten. Sie seien in Form von lateinischen oder volkssprachlichen Zusätzen aber auch Buchstaben, Satzzeichen und abstrakten, nonverbalen Zeichen verwendet worden.

 Mittelalterliche Glossen beruhten auf der spätantiken lateinischen Textualität und seien das erste Mal in Irland unter der Verwendung einer Volkssprache angewendet worden. Bereits um 700 habe es hier eine Vermischung aus irischen und lateinischen Glossen gegeben. Diese irischen Glossierungen stellten heute auch die Hauptquelle für die frühe mittelalterliche irische Sprache dar.

 Anhand des lateinischen „Mailänder Psalmenkommentars“, der auf der Schwelle zum 9. Jahrhundert in einer irischen Schule verwendet worden sei, demonstrierte Prof. Blom, wie Glossen dazu genutzt werden konnten, um Satzteilgrenzen und Satzteilverbindungen zu markieren oder Wortbedeutungen herauszustellen und Textteile in die eigene, irische Sprache zu übersetzen. Also ähnliche Markierungen und Ergänzungen, wie wir sie ebenso von Lateinschülern der Gegenwart kennen.

 Prof. Blom verdeutlichte, dass mittelalterliche Glossen kein statisches Phänomen, sondern einen fortlaufenden Prozess darstellten. So erläuterte er, dass man verschiedene Schichten von Glossierung paläographisch voneinander unterscheiden könne. Glossen hätten dadurch nicht nur neue Texte geschaffen, sondern durch eine dynamische Auseinandersetzung mit dem Haupttext ganze Wissensräume eröffnet. Sie dienten dabei als Mittler zwischen Haupttext, Kommentartradition und Textpublikum.

Prof. Dr. Alderik Blom bei seiner Antrittsvorlesung vor vollen Stuhlreihen
Foto: Ulrich Geupel

  Im zweiten Teil seines Vortrags stellte Prof. Blom eine Skala vor, anhand derer sich Glossierungen als paratextuelle Schichten graduell hinsichtlich ihrer Nähe zum Haupttext kategorisieren lassen. Anhand des Psalters von Caimín – eine Handschrift aus dem späten 11. / frühen 12 Jahrhundert – verdeutlichte Prof. Blom exemplarisch die Anwendbarkeit dieser Skala und stellte die kontinuierliche und rekursive Entwicklung der Glossen heraus.

 Ursprüngliche Einzelworterklärungen seien später in Glossaren zu bestimmten Themengebieten und letztendlich zu Wörterbüchern in einem ganz neuen Kontext zusammengefasst worden. Dort wo diese Wörterbücher wiederum Einfluss auf das Verständnis eines Textes nähmen, könnte sogar ein Kreislauf entstehen, sodass sich die relative Textnähe einer Glosse kontinuierlich verändern könne.

 Im dritten Teil der Antrittsvorlesung stellte Prof. Blom das linguistische Konzept der Pragmatik zur    Beschreibung von Glossierungen vor. Hierbei werde der Verständnishorizont derer, die die Texte herstellen und rezipieren, einbezogen. Glossen seien demnach kommunikative Handlungen, mit denen ein Glossator sich zwischen den Autor und den Leser eines Textes mischen könne. Dies geschehe sowohl in der Rolle eines Souffleurs ebenso wie in der Rolle eines Vermittlers. 

 Glossen könnten sich dabei an das gleiche Publikum richten wie der Ausgangstext; häufig jedoch wendeten sie sich an eine veränderte Zielgruppe. Dabei sei es ihnen möglich gewesen, Textgenres zu überschreiten und zwischen verschiedenen Kontexten aber auch Sprachstufen und Lebenswelten zu vermitteln.

 Am Beispiel des frühmittelalterlichen Southamptoner Psalters verdeutlichte Prof. Blom exemplarisch, wie ein Glossator durch sein Eingreifen die Lesart eines Textes – in diesem Fall biblische Psalme – beeinflussen oder sogar kontrolliere konnte.

 Prof. Blom veranschaulichte in seinem Vortrag die herausragende Rolle von Glossen für das zeitgenössische Verständnis mittelalterlicher Texte, aber auch deren Bedeutung für die heutige Rezeption mittelalterlicher Überlieferungen und eröffnete der modernen Wissenschaft neue Ansatzpunkte zur systematischen Erfassung mittelalterlicher Paratexte.

  

Prof. Dr. Alderik Blom beim Empfang anlässlich seiner Antrittsvorlesung im Gespräch mit Gästen
Foto: Ulrich Geupel

Im Anschluss an den einstündigen Vortrag hat die ca. 100 Zuhörer ein Empfang mit Sekt und kleinen Leckerbissen im festlich dekorierten Vorraum erwartet. Viele der Gäste nutzten die Gelegenheit, sich in ungezwungener Atmosphäre auszutauschen und der Gastgeber ließ es sich nicht nehmen, mit jedem einzelnen persönlich ins Gespräch zu kommen.

Ein Video der Antrittsvorlesung kann unter folgenden Link aufgerufen werden:

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