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125 Jahre Mathematisches Seminar
125 Jahre Mathematisches Seminar - Ein Streifzug durch die letzten Jahrzehnte
Geringfügig geänderte Fassung des Vortrags am 2. Februar 2011 anlässlich der Eröffnung der Mathematischen Modellsammlung. Fast alle auf den Folien verwendeten Bilder sind in höherer Auflösung in der Datei "Bilder" zu finden.
Meine Damen und Herren, Mitglieder und Freunde des Fachbereichs
Hier sind einige der am Streifzug beteiligten Sub- und Objekte versammelt.
Einen wissenschaftlich fundierten Vortrag kann ich Ihnen heute nicht bieten, den hat Herr Kollege Gundlach zum hundertsten Geburtstag des Seminars gehalten und es ist ja heute auch nur ein halbrunder Geburtstag.
Ich habe weniger in den Archiven, stattdessen mehr im Internet gestöbert, Bilder aus allen möglichen Quellen gesammelt und einige Zeitzeugen -mich eingeschlossen- befragt.
Ursprünglich wollte ich mich deshalb auf die Nachkriegszeit beschränken, bin aber bei der Beschäftigung mit dem Thema zu dem Schluss gekommen, dass man auch einen Blick auf die Vor- und Frühgeschichte des Seminars werfen sollte. Ich fange deshalb doch etwas früher an.
Bei der Universitätsgründung 1527 war die Menge der Studenten mit 127 Immatrikulierten überschaubar,
die Residenzstadt Marburg ebenfalls, nach einer groben Schätzung hatte sie um die zweitausend Einwohner. Aber mit dem Schloss, den zwei großen Kirchen und dem bei der das Universitätsgründung fertiggestellten Rathaus erkennbar eine wichtige Stadt.
Die Mathematik und die Naturwissenschaften waren bis zum Bau der Alten Universität in dem Gebäude des ehemaligen Dominikanerklosters untergebracht. Das Gemälde ist zwar jüngeren Datums, das Gebäude dürfte sich aber kaum verändert haben.
In der Übersicht sehen wir links den Universitätsgründer, Philipp den Großmütigen. Die Namensschilder an der Zeitachse sollen jeweils verdeutlichen, in welchem Zeitraum die Mathematik-Professoren (und Privatdozenten) in Marburg tätig waren.
Das Fach Mathematik war von Anfang an vertreten, der erste Professor für Mathematik, zu dem ein Bild existiert, ist Mithobius.
Die Jahreszahlen unter dem Namen sind nicht die Lebensdaten, sondern geben Beginn und Ende der Tätigkeit in Marburg an.
Am rechten Bildrand ist gerade noch „Med et Math“ zu erkennen. Nicht zufällig war er ein Dr. med. , die Professoren für Mathematik hatten bis 1850 mindestens eine weitere Profession, es waren anfangs fast alle Mediziner, später Philosophen und häufig zugleich Physiker. Auch Theologen und sogenannte Universalgelehrte gehörten dazu. Eine Professur in Mathematik reichte damals kaum zum Leben.
Bisher haben ca. 100 Mathematiker (und auch einige Mathematikerinnen) das Fach an dieser Universität vertreten, schon aus Zeitgründen kann ich nur wenige vorstellen und die Bemerkungen sind auch eher anekdotisch und weniger auf die Mathematik bezogen.
Rudolph Goclenius d. Ä. war einer der fast mittelalterlichen Universalgelehrten, ein Vielschreiber über ungefähr alles, was ihm den Beinamen "Marburger Plato" einbrachte. Er verfasste unzählige Thesen und Disputationen, u. a. zu Physik, Mathematik, Psychologie, Geographie, Astronomie, Botanik, Zoologie und Medizin. Sein Hauptinteresse galt der Astronomie, für ihn das Bindeglied zwischen den anderen Disziplinen.
Johannes Hartmann war ein bedeutender Gelehrter, angesehener Mathematiker und (wirklicher) Astronom, auch sehr erfolgreich als akademischer Lehrer. Landgraf Moritz von Hessen-Kassel hat vergeblich versucht, ihn als persönlichen wissenschaftlichen Berater von der Universität abzuwerben. Er hat 1607 zum Dr. med. promoviert sich zwei Jahre später der Chemie zugewandt. Er gilt als Begründer der neuzeitlichen Universitätschemie. Er war auch der erste Rektor der Universität.
Zu den nächste 40 Jahren ist wenig zu bemerken, Rudolph Goclenius d. J. war noch stärker als sein Vater in mittelalterlicher Mystik verhaftet.
Nach Auseinandersetzungen mit dem Landgraf gehen die Marburger Professoren 1650 nach Giessen, Marburg ist bis zur Neugründung 1653 ohne Hochschule.
Der erste Mathematiker danach war Magirus, auch ein eher mittelalterlicher Universalgelehrter. Seine Vorlesung kündigt er 1666 folgendermaßen an:
"Was die Medicinam und Arzneykunst betrifft, so weise ich in denselben den Studiosis alles was sie wol in Theoreticis und Practicis zu wissen begehren, sonderlich der Arithmeticae, Geometriae, Mechanicae, Astronomiae, Geographiae, Physionimae, Astrologiae ..."
Alle diese angekündigten Fächer sind zum Nutzen der Arzneikunst, die sich nach Magirus auch auf „des Menschen Verstand und Sitten, Glück und Unglück, und des Ehestands Zustand erstreckt“.
Damit nicht genug, hat er auch noch ein Chemielabor „auffgerichtet“.
Er scheint mit seinem Werk recht zufrieden zu sein.
Herausragend in den nächsten 40 Jahren ist Denis Papin.
Über Papin müsste man eigentlich einen eigenen Vortrag halten, allerdings weniger über sein mathematisches Wirken. Sein Interesse galt eindeutig technischen Entwicklungen und auf diesem Gebiet war ein außerordentlich kreativer Erfinder. Bekannt ist sein
Dampfdrucktopf, in seiner Marburger Zeit konstruierte er ein Unterwasserboot (wohl eher eine Tauchglocke) und - wie es in einem Bericht heißt- testete es selbst „mit einem kühnen Gefährten“ in der Lahn. Sein Lebenslauf hat eine gewisse Tragik. Als Hugenotte konnte er nicht in seiner Heimat Frankreich bleiben, bei der Vorführung seines Drucktopfes vor der Londoner Royal Society explodierte der Topf und der Versuch, von Kassel nach London mit einem von ihm gebauten dampfgetriebenen Schaufelradboot zu gelangen scheiterte, da das Boot im Streit um Passierrechte von der Fischergilde in Hannoversch Münden zerstört wurde. Seine dampfgetriebenen Wasserfontänen im Schlosspark Wilhelmshöhe versagten bald ihren Dienst, da die Rohre undicht waren. Wann und wo er gestorben ist, weiß man nicht, einige Quellen nennen London, andere (u.a. die Firma Weck auf ihrer Homepage) Marburg.
Der Gedenkstein ist an der östlichen Mauer der Alten Universität angebracht.
Aus der Vorlesungsankündigung von Otho aus dem SS 1708 -die Klammerzusätze sind von mir- kann man in etwa das Studienprogramm in Mathematik ablesen. Das Programm umfasste damals noch viele physikalische und technische Gebiete, alles dargeboten von einem einzigen Professor, der auch noch ein zweites Fach unterrichtete.
In der Zeit nach Papin war die Professur in Mathematik nicht besetzt und das Vorlesungsangebot wohl eher dürftig. Jedenfalls stellt ein Student der Jurisprudenz, Nikolaus Erck, 1716 den Antrag, in Ermangelung eines Professors der Mathematik die Collegia mathematica abhalten zu dürfen, wofür er ein kleines Gehalt anstrebe.
Der Antrag wird allerdings abgelehnt, da
- Erck nicht hinreichend qualifiziert sei,
- in seinem Antrag Fehler in der Grammatik seien
- und das aerarium (Staatskasse) erschöpft sei.
Der erste bedeutende Mathematiker an der Marburger Universität war Christian Wolff, Philosoph und Mathematiker, überaus produktiver Autor und glänzender Redner, der viele Studenten anzog, unter anderem hat Lomonosov bei ihm studiert, der Gründer der nach ihm benannten Moskauer Universität.
Es gibt Parallelen zu Papin, beide standen in engem Kontakt mit Leibniz und beide waren in gewisser Weise Religionsflüchtlinge. Wolff kam aus Halle und wurde nach einem Streit mit dem Dekan der theologischen Fakultät ausgewiesen. Auslöser war sein Vortrag „Rede über die praktische Philosophie der Chinesen“ anlässlich der Übernahme des Prorektorats.
Der berühmt-berüchtigte Ausweisungsbefehl von Friedrich Wilhelm I findet sich in Zedlers 68-bändigen Universallexikon, nach Halle wurde dann von Friedrich II zurückgeholt.
Die Studentenzahlen an der Philippina waren vor Amtsantritt von Papin mit 47 Immatrikulierten auf einem Tiefststand, 1727 waren es 174, nach dem Weggang Wolffs gingen sie wieder deutlich zurück.
Die Bedeutung von Wolff kann man auch daran ablesen, dass er in Marburg das dreifache Gehalt eines normalen Professors bezog und eine Reihe seiner Schüler ihm als Professoren in Mathematik und Physik nachfolgten.
Johann Gottlieb Waldin war ein sehr aktiver, vielseitiger und einflussreicher Gelehrter, Mathematiker, Physiker und Begründer der Zoologie und Geologie in Marburg. Eines seiner Verdienste war, seinen Kollegen Michalis zur Herausgabe der mathematisch-physikalischen Geräte zu zwingen. In einem Schreiben von ihm an das Staatsministerium in Kassel heißt es dazu: „... bey dem Professor Michaelis werden die instrumente zu grunde gerichtet, wie schon größtenteils geschehen“ und weiter, dass er „auf ersuchen vieler hiesiger studiosorum ihnen die Physic lese,..., wie denn der Prof. Michaelis dem Verlaute nach keinen Zuhörer hat.“
Tatsächlich war ein Großteil der Geräte unter der Obhut von Michaelis beschädigt, auch damals war es einfacher, eine Sammlung zu ruinieren, als sie aufzubauen und instand zu halten.
Johannes Gundlach kam aus Kassel nach Marburg und war als Direktor des mathematisch-physikalischen Apparates für eine Reihe von Geräten zuständig, die 1786 von Kassel nach Marburg gekommen waren, leider nicht bis in unsere Sammlung.
Muncke kam aus Hannover, damit waren erstmals zwei Professuren in Mathematik besetzt.
Christin Ludwig Gerling, Gauss-Schüler, Professor der Mathematik, Physik und Astronomie war Begründer des mathematisch-physikalischen Instituts. Er hat fast 25 Jahre um ein auch für die Gerätesammlung geeignetes Institutsgebäude gekämpft, bis er in den Dörnberger Hof, Renthof 6 umziehen konnte (das Gebäude mit dem Türmchen).
Von Gauss hat Gerling nicht nur die Art der Kopfbedeckung, sondern auch die Kenntnisse in der Landvermessung übernommen, im letzten Jahr ist der Artikel im Uni-Journal zur Restaurierung eines von Gerling gesetzten Vermessungsstein erschienen.
Gerling hat einige Rufe abgelehnt und in Marburg viele Ehrungen erfahren, er scheint ein besonders liebenswerter Mensch gewesen zu sein.
Links sehen wir noch den alten Bibliotheksstempel, der bald von dem Seminarstempel abgelöst wurde Stegmann war der erste „Nurmathematiker“, Vertreter der Reinen Mathematik, zweimal Rektor der Universität und ein angesehener akademischer Lehrer.
Googelt man ihn, so wird man sofort auf zwei berühmte Doktoranden von ihm verwiesen, Tyndall und Hirst. Hirst Geometer, Nachfolger von de Morgan in London, Tyndall Physiker und Naturforscher, bekannt u.a. durch den Tyndall-Effekt und die Tyndall-Route aufs Matterhorn, die er erstmals durchstiegen hat.
Damit sind wir in der Gründungszeit des mathematischen Seminars angelangt, der Stempel ist allen Bibliotheksnutzer vertraut. In diese Zeit fällt auch der Umzug in die Alte Universität und unter Hensel ins Landgrafenhaus.
Der Gründungsvater des Seminars war Heinrich Weber. Die offizielle Eröffnung fand im WS 1885/86 statt, damit war die Einrichtung einer eigenen Bibliothek (in den Räumen der neuerbauten alten Universität) und die Zuweisung eines Etats verbunden. Weber war einer der aktivsten und einflussreichsten Mathematiker seiner Zeit, Verfasser von grundlegenden Arbeiten, z. B. über algebraische Funktionen und von Standardlehrbüchern, Professor in Heidelberg, Zürich, Königsberg, Berlin, Marburg, Göttingen und Straßburg.
Mit Weber beginnt eine Blütezeit der Mathematik in Marburg, ihm folgt eine Reihe bedeutender Wissenschaftler:
Friedrich Schottky, ein Schüler von Weierstraß. Seine Dissertation "Über die conforme Abbildung mehrfach zusammenhängender ebener Flächen" steht in der exklusiven Liste der historischen Dissertationen. Schottky war ein bedeutender Funktionentheoretiker und als Doktorvater von Knopp der Doktorgroßvater von Peyerimhoff.
Schottkys Nachfolger war Kurt Hensel, Begründer der p-adischen Zahlen. Er stammte aus einer prominenten und wohlhabenden Familie, ein Großonkel war der Komponist Mendelsohn-Bartholdy, ein angeheirateter Großonkel Lejeune Dirichlet, ein Schwiegersohn Werner Bergengruen. Die Hensel-Villa steht noch in der Wilhelm Roserstraße 29.
Mit Hensel beginnt eine zahlentheoretische Tradition in Marburg, sein Nachfolger war sein Doktorand Helmut Hasse und danach kam
Kurt Reidemeister, der sich später vorwiegend mit kombinatorischer Topologie beschäftigte. Nach einer Unterbrechung von 8 Jahren war die Zahlentheorie dann durch Richert, Wirsing und viele andere vertreten.
Neben Hasse war Fraenkel der zweite herausragende Schüler von Hensel. Seine Beiträge zur Axiomatik der Mengenlehre bilden bis heute das Fundament der Mathematik. Er ging als überzeugter Zionist 1929 an die Universität von Jerusalem.
Die Herrschaft der Nationalsozialisten brachte nicht nur einen neuen Seminarstempel, sondern hatte unmittelbare Auswirkungen für viele damals tätige Professoren:
Der Emeritus Hensel wurde wegen seiner jüdischen Vorfahren im Dezember 1935 in den Ruhestand versetzt worden, dies wurde 4 Tage später widerrufen mit der Begründung, dass ein Emeritus kein Beamter im Sinne der Verordnung sei.
Sehr zwiespältig ist das Wirken Hasses in dieser Zeit. Hasse, Doktorand von Hensel, kannte natürlich die Familienverhältnisse von Hensel. Er war dennoch Mitunterzeichner des 1933 verfassten „Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“. Andererseits hat er in erbittertem Streit mit Bieberbach, dem Exponenten der „Deutschen Mathematik“, verhindert, dass die Deutsche Mathematiker Vereinigung unter die Kontrolle der Nazis kam. Geradezu kurios ist, dass ihm die Mitgliedschaft in der NSDAP, die er beantragt hatte, verweigert wurde. Auch er hatte jüdische Vorfahren.
Reidemeister wurde 1933 aus seiner Professur in Königsberg entfernt, nachdem er in einer Vorlesung gegen die Aktionen des nationalsozialistischen Studentenbundes Position bezogen hatte. Er wurde dann aber, wohl auf Fürsprache von Hecke, nach Marburg versetzt. In einer Biographie heißt es, dass er sich nach diesen Ereignissen zunehmend in die innere Emigration zurückgezogen hat.
Die Angewandte Mathematik war nicht durchgehend besetzt, nach Drach und Heß bekam sie mit der Berufung von Ernst Neumann, einem Vertreter der mathematischen Physik, wieder mehr Gewicht.
Nachfolger von Neumann war Maximilian Krafft, dem wir einige alte Geräte, u.a. den Pantograph aus dem Jahr 1866 verdanken. Die vorher erwähnten Gerätesammlungen haben übrigens nichts mit dem Bestand unserer Sammlung zu tun, soweit ich weiß. Gemeinsam scheint aber zu sein, dass der Bestand solcher Sammlungen stark gefährdet ist, wenn sich nicht jemand tatkräftig ihrer annimmt.
Mit Krafft sind wir bei den Zeitzeugen angekommen.
Es gibt über ihn drei längere und liebevolle Artikel von seinen Schülern. Er hat offensichtlich sehr unterhaltsame Vorlesungen gehalten, er konnte mit beiden Händen gleich gut und auch gleichzeitig schreiben, wird als bayerischer Querkopf und universell gebildetes liebenswertes Original geschildert. Ich zitiere aus einem der Artikel.
„Von wem sonst konnten wir erfahren, dass der mathematisch positive Umlaufsinn der des Uhrzeigers gewesen wäre, hätten die alten Astronomen etwa in Australien gesessen. Und so etwas zu enthüllen bereitete ihm sichtlich Vergnügen.“
Er und sein Sohn waren übrigens nach mehreren unabhängigen Zeugnissen die Vorbilder von „Vater und Sohn“ in den Bildergeschichten von E.O. Plauen. Erich Ohser, Künstlername E.O. Plauen, wohnte in Marburg im Nachbarhaus von Krafft.
Hier wird es eng. Zu Schmidt, Peyerimhoff und Avakumovic werde ich gleich noch etwas berichten.
Zuvor noch eine Bemerkung zur Entwicklung bis etwa 1970.
In der Zeit von 1945 bis zur Berufung von Peyerimhoff gab es einen häufigen Wechsel in der zweiten Professur in Reiner Mathematik, die z.T. auch nur vertretungsweise besetzt war.
Nach einer kurzen stabilen Phase ging Peyerimhoff 69 mit vielen seiner Mitarbeiter nach Ulm, wo er die Mathematik aufbaute. Wenig später folgten ihm Richert und Wirsing. Der Weggang dieser Professoren hing auch mit den Studentenunruhen mit wochenlangen Streiks, endlosen Diskussionen und der Sprengung von Vorlesungen zusammen. Letzteres versuchte der Präsident durch persönliche Anwesenheit in Vorlesungen zu verhindern, er hat einmal tapfer eine Doppelstunde in Topologie ausgesessen.
Die Angewandte Mathematik blieb ein Stiefkind, sie wurde nach Krafft erst wieder durch Niemeyer vertreten, der 73 nach Aachen zurückging, lediglich Avakumovic blieb bis zu seiner Emeritierung in Marburg.
Auf der Folie sind in der oberen Reihe Professoren aus der Ära vor , in der unteren die nach Peyerimhoff versammelt.
Alle Professoren aus dieser Zeit waren ausgeprägte Persönlichkeiten, einen bleibenden Eindruck hat Körner hinterlassen. Ich glaube, man darf ihn getrost einen Vorlesungsextremisten nennen: Er hat einmal in einer Doppelstunde das Lebesgue-Integral mitsamt den Grenzwertsätzen und allen Beweisen vorgeführt, allerdings nur in einer Dimension.
Ein weiteres Beispiel stammt aus seiner Algebra-Vorlesung: Ende des Sommersemesters hatte er noch den Teil a eines Beweises erledigt, das Wintersemester begann er kommentarlos mit b! und setzte den Beweis fort.
Ich komme nun zu der Vorstellung der drei Professoren Schmidt, Peyerimhoff und Avakumovic.
H.A. Schmidt, Logiker, letzter Hilbertschüler, was manchmal mit einem gewissen Unterton bemerkt wurde, war über einen langen Zeitraum Alleinherrscher im Institut. Während dieser Zeit gab es z.B. kein Diplom, sondern nur das Staatsexamen, selbstverständlich nur bei ihm abzulegen, wobei 6 Seminare, ebenso selbstverständlich bei ihm, das Minimum waren. Über den Ablauf zitiere ich aus einem Artikel eines Seminarteilnehmers:
„Vor dem eigentlichen Seminarvortrag gab es mehrere Vorbereitungsstunden mit Proben wie vor einer Theateraufführung. Eine Gruppe von mehreren Studenten bekam von seinem Assistenten gesagt, was sie vorzutragen hatten. Das wurde dann auswendig gelernt. Irgendwann war dann der große Tag da. Wir zogen uns einen Schlips und einen Anzug an, etwa 6 – 8 Studenten (ganz selten auch einmal eine Studentin) hatten exakt den gleichen Text auswendig gelernt und teilten sich den Vortrag. Schmidt befahl den Ersten an die Tafel. Jeder Vortrag begann kanonisch mit den Worten: „Herr Professor, meine Damen und Herren“. Nach einer Weile wurde der Vortragende dann von dem Nächsten abgelöst usw. Dabei konnte Schmidt den Wechsel an jeder beliebigen Stelle vornehmen. Alle hatten ja wörtlich den gleichen Text auswendig gelernt und der Nachfolger konnte mitten im Satz anschließen; bis auf die kurze Unterbrechung durch „Herr Professor, meine Damen und Herren“.“
Peyerimhoff hielt hervorragende Vorlesungen, war temperamentvoll, für Studenten immer ansprechbar, vielseitig. In vieler Hinsicht das Gegenteil von Schmidt, was man auch an der Anzahl der Doktoranden ablesen kann.
Eines seiner Hobbys war der Bau von elektronischen Geräten, das andere Kettenrauchen. Ein Doktorand von ihm schreibt dazu:
„Ein Genie wie Peyerimhoff verstand es natürlich auch, seine beiden Hobbys zu verbinden. Er baute sich einen elektronischen Zigarettenspender mit einer Zeitsperre, die nur in gewissen diskreten Intervallen eine Zigarette heraus gab. Ich kann mir kaum vorstellen, dass das Zeitintervall auf wesentlich länger als 5 bis 10 Minuten eingestellt war. Der Clou des Ganzen: Es gab einen Notknopf, mit dessen Hilfe man im Notfall auch außerhalb der regulären Zeit eine Zigarette ziehen konnte.“
Peyerimhoff verdanken wir die Anschaffung mehrerer technischer Geräte, eines das er mit besonderem Stolz und Freude vorführte war die „Friden“, 1966 angeschafft zum Listenpreis von 6750 DM, deutlich mehr als ein VW Käfer damals kostete.
Die Friden beherrschte (und beherrscht noch) die 4 Grundrechenarten und hat einen Speicher sowie ein vierzeiliges Display.
Leider verdanken wir Peyerimhoff auch den Verlust der alten Modellsammlung. Diese war für Pey wohl ein Symbol der Schmidt’schen Herrschaft, wobei die Sammlung gar nicht von diesem stammte. Als Schmidt verstarb wurde die Sammlung in einem geradezu barbarischen Akt vernichtet. Noch vor der Beerdigung von Schmidt war der Sammlungsschrank verschenkt und die Modelle im Institut verstreut, dem Hörensagen nach auch als Fußbälle auf den Fluren des alten Amtsgerichts missbraucht.
Avakumovic war eine beeindruckende Persönlichkeit mit einem ungewöhnlichen Werdegang. Nach eigenen Angaben hat er kaum Vorlesungen besucht, er hat trotzdem (oder vielleicht gerade deshalb) schon als Student wichtige Arbeiten publiziert. Er war ein guter Amateurboxer und leidenschaftlicher Bergsteiger, bei einer Alleinbesteigung des Triglav stürzte er ab und wurde erst so spät gerettet, dass sein gebrochenes Bein amputiert werden musste. Er behielt dennoch seinen Humor und auch seine sportlichen Ambitionen, legendär sind seine Rennfahrten auf dem Nürburgring mit einem schon etwas betagten VW Käfer.
Aber natürlich war Avakumovic in allererster Linie Mathematiker, er hat an sieben Universitäten geforscht und gelehrt, hat bahnbrechende Resultate erzielt und er hat mit seiner Auffassung von Mathematik seine Schüler geprägt.
In der Wikipedia-Liste bedeutender Persönlichkeiten an der Philipps-Universität ist übrigens von den Mathematikern nur Wolff (unter den Juristen), Papin, Muncke, Gerling (als Physiker) sowie Stegmann, Reidemeister und Avakumovic vertreten.
Die Liste bedarf der Ergänzung.
Lassen Sie mich zum Abschluss dieser Vorstellungen einen kleinen fachlichen Abstecher machen. Das Zerwürfnis von Schmidt mit den nachfolgenden Kollegen hatte auch etwas mit Schmidts eigener Auffassung von Mathematik zu tun, die sich in den letzten Jahren immer weiter entwickelte. Glücklicherweise ist eine Mitschrift seiner letzten Vorlesung „Differential-und Integralrechnung“ vom WS 1966/67 und SS 1967 erhalten.
Wie man sieht wird der Satz: "Für alle reellen a ist |a|>=0" ausführlich bewiesen, nach einigen Vorbereitungen werden die Fälle a>=0 und a < 0 behandelt, wobei u.a. die Symbole für „folgt aus der letzten Zeile“ und „folgt aus den letzten beiden Zeilen“ benutzt werden.
Dies ist keineswegs der einzige Satz über den Betrag, es gibt insgesamt 10, so finden sich unter anderem die Sätze:
Der Betrag ist für alle a definiert, |a| = –a falls a < 0 und aus a ungleich 0 folgt |a| > 0, alles mit ähnlich ausführlichen Beweisen durch Fallunterscheidung.
Diese Gründlichkeit hatte natürlich auch ihren Preis. Der Teil II endet mit dem „ersten Teil des Fundamentalsatzes der Diff-Int-Rechnung“. Bemerkenswert ist auch, was dazwischen nicht vorkommt: Unendliche Reihen, Polynome, Wurzelfunktionen, Exponentialfunktion, Logarithmus, trigonometrische Funktionen, komplexe Zahlen, Funktionen mehrere Veränderlichen,...
Im ersten Teil gibt es ein (einziges) Beispiel, 1/jota(x)=1/x, wobei jota für die Identität steht. Skizzen fehlen vollständig.
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass das Schmidt’sche Zeichensystem ein Eigenleben, unabhängig von den Inhalten, entwickelt hat.
Ein besonderes Fundstück dazu ist der Höchsteinzigkeitssatz auf Seite 61 des Skripts. Auch wenn man die Zeichen entschlüsselt hat „wir betrachten eine Häufungsstelle a in M, es gibt, für alle, mit, (punktierte) Umgebung, ...“ ergibt sich der Sinn nicht unmittelbar. Der Beweis erstreckt sich übrigens auf eineinhalb Seiten.
Im Lehrbuch von Mangold-Knopp aus dem Jahr 1944 wird die Aussage etwas kürzer und verständlicher formuliert.
Damit beende ich die Vorstellung einzelner Mathematiker, ich hoffe, es sind nicht allzu viele gekränkt, dass sie nicht namentlich erwähnt wurden.
Die Stellenentwicklung zeigt den raschen Ausbau in den 70-iger Jahren und als wichtigstes Ereignis den Auf- und Ausbau des Fachgebietes Informatik. Zum Wintersemester 92/93 wurde der Studiengang Diplom-Informatik offiziell eingeführt, seit SS 98 ist die Informatik auch im Namen des Fachbereichs vertreten.
Ähnlich wie die Stellen haben sich auch die Studiengänge am Fachbereich vermehrt. Derzeit laufen 15 Studiengänge parallel, 2 Promotionsordnungen, es gibt 5 Vorsitzende der Prüfungsausschüsse und eine Sekretärin, die das ganze verwaltet. Die wichtigste Neuerung war natürlich die Einführung der modularisierten und gestuften Studiengänge.
Ich möchte Sie nicht mit diversen Studien- und Prüfungsordnungen langweilen, ein kleines Detail scheint mir aber erwähnenswert. Der Passus in einer Ordnung von 1941 überrascht nicht, wohl aber, dass dieser Abschnitt alle Änderungen bis zur Neufassung 1971 überdauert hat.
Das Seminar erlebte einige Umbenennungen, nach Seminar hieß es Institut, Sektion, dann Fachbereich für Mathematik und jetzt Fachbereich für Mathematik und Informatik. Der Anlass für die Umbenennung in Sektion 1964 war die Abtrennung der die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät von der Philosophischen. Erst danach konnte man den Dr. rer. nat. erwerben. Äußere Zeichen der Veränderung waren vor allem die wechselnden Unterkünfte des Fachbereichs
Mit dem Prestige der Gebäude ging es stetig bergab, vom ehemaligen ehrwürdigen Dominikanerkloster bis zum Mehrzweckgebäude auf den Lahnbergen. Dazu muss man allerdings einschränkend sagen, dass die Mathematik im Landgrafenhaus ein Notquartier in zwei Dachkammern hatte. Man hatte die Mathematik bei der Planung vergessen. Dies hing auch daran, dass Hensel die Sitzungen der Baukommission regelmäßig schwänzte.
Das Foto ist auf 1873 datiert, ein Jahr bevor mit dem Abriss des Klostergebäudes begonnen wurde. Im Hintergrund ist schon der Neubau der Alten Universität zu sehen.
Die Alte Universität
Die Fotos zeigen den Flur zum Hörsaal 10 und ihn im jetzigen Zustand. Er war bis zum Bau des Hörsaalgebäudes der einzige größere Vorlesungsraum der Mathematik. Die Fotos von Schmidt, Peyerimhoff und Schütte sind dort gemacht.
Das schönste Institutsgebäude war sicher das Alte Amtsgericht, bisher das einzige Haus nur für den Fachbereich, überdies stadtnah und solide gebaut.
Zum 150-ten Geburtstag wird wohl wieder ein neues, schöneres Quartier bezogen. Genaueres weiß man noch nicht, nur dass das Gebäude ein Turm werden soll und der Fachbereich zur Förderung geistiger Höhenflüge ganz oben residieren wird, es könnte also ungefähr so aussehen
Dass noch gebaut wird, ist vielleicht auch nicht unrealistisch.
Seit vorgestern habe ich aber auch Skizzen aus der Bauabteilung. Unser Fachbereich wird demnach in einem der Zentralbauten, den "besonderen architektonischen Ikonen im Campusraum mit einer großen individuellen Expressivität" untergebracht sein. Dies ist natürlich eine schöne Perspektive, auch wenn man sich erinnert, dass unser jetziges Quartier unter dem Slogan "richtungsweisendes Bauen" angepriesen wurde.
Damit bin ich am Ende, bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche dem Fachbereich für die nächsten 125 Jahre, dass er blühen, wachsen und gedeihen möge, ich denke er ist auf gutem Wege dahin.