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Hel Braun "Die Marburger Semester"

                                                            "Die Marburger Semester"

                                                                       Auszug aus

                                                                        Hel Braun

                                                       Eine Frau und die Mathematik

                                                                      1933-1940

                                                               Springer-Verlag 1990

...inzwischen wieder gesund, aber das Geld wie immer knapp. Es ver­stand sich also, daß ich mit dem Fahrrad nach Marburg fuhr.

Die Marburger Semester

Trotz der nicht rosigen äußeren Verhältnisse waren meine beiden Marburger Semester, das WS 1935/36 und das SS 1936, meine ei­gentliche Studienzeit. Zwar wohnte ich nicht in einer "Bude", die ich ohnehin nicht hätte bezahlen können, sondern in einem "Kamerad­schaftshaus". Mein Vater und sein Freund fanden das zweckmäßig, ich bekam das auch vom Studentenwerk  bezahlt, ebenso wie das Mittagessen in der Mensa. Heute ist das Haus, ziemlich weit oben am Burgberg, ein Studentinnenwohnheim. Freilich gab es damals mehr Zwang als heutzutage.  Meine Mutter sagte  häufig: "Du hast - dieses oder jenes - nicht so empfunden".  Natürlich. Wenn man starke Empfindungen in einer bestimmten Richtung hat, sind die Empfindungen in anderen Richtungen eben weniger stark.
Meine wesentliche Empfindung war eine "richtige", "freie" Stu­dienzeit, in anderer Umgebung. So ähnlich muss es heutzutage Ju­gendlichen vorkommen, wenn sie zuhause ausziehen. Aber dadurch, dass sie in der Nähe bleiben, und abgesehen von den Eltern, Men­schen mit denen sie in Beziehung stehen behalten, ist das nur eine geringe Veränderung.  Nun, die Leute sind ja auch jünger, häufig noch in der Schule.
Der Verkehr mit zuhause beschränkte sich in meiner Marburger Zeit auf Wäschepakete und gelegentliche Briefe an meinen Bruder, häufige Briefe an Peter.  Man telefonierte nicht, das war zu teuer.

Im Kameradschaftshaus

Im Kameradschaftshaus hatten wir zwar eine linientreue "Füh­rerin", aber sie hatte wenig Einfluss. Wie das bei Mädels so geht, sie verliebte sich, der Jüngling interessierte sich für eine andere. So hatte sie nicht genügend viel Elan Führerin zu spielen. Ihr Ansehen bei uns war auch deshalb gering, weil sie sich nicht für das Studium - irgendein geisteswissenschaftliches Fach - interessierte. Ich selbst war natürlich Außenseiter, schon wegen der Mathematik. Meine Freundinnen studierten  Medizin, die Hälfte der Heiminsassen waren Medizinerinnen.

Gerda

Eine meiner Freundschaften hat die fast 50 Jahre überdauert. Gerda ist einen Monat älter, sie war damals gerade in der Vorbereitung zum Physikum und ist heute noch Kinderärztin. Jede von uns beiden hat an der anderen diejenigen Eigenschaften geschätzt, die sie selbst nicht hatte.  Nur "ausgeglichen" waren wir wohl beide, unsere Abendspaziergänge durch einen nahegelegenen Wald waren sehr erholsam.
Frühstück und Abendessen wurden gemeinsam eingenommen. Wie viele wir waren, weiß ich nicht mehr, es müssen so 40 oder 50 gewesen sein. Wir hatten zumeist Zweibettzimmer.  Aber als höheres Semester hatte ich, wie Gerda, ein Einzelzimmer mit Blick über das Lahntal. Das Abendessen war nicht üppig aber geruhsam. Frühstück war ganz anders! Auch nicht üppig, aber um 6.30 Uhr. Und vorher wurde "die Flagge gehisst" und ein Lied gesungen. Mehr politisches Verhalten wurde von Mädels nicht verlangt, eigentlich auch nicht gewünscht.

Zoologie und Botanik

Manche Vorlesung fing um 7 Uhr an, z.B. Zoologie oder Botanik, Vorlesungen für Mediziner und Lehramts­kandidaten. Ich hatte ja noch viel "Biologie" hinter mich zu brin­gen, also Zoologie und Botanik. So eilte ich also nach 6.30 Uhr mit den Medizin-Anfängerinnen über den Berg, denn hinter dem Berg lagen Zoologie und Botanik. Das war zwar nicht wie ich es mir vorgestellt hatte, Pflanzen und Tiere kennenlernen, nur etwas ausführlicher und systematischer als in der Schule. Aber interessant war es schon, jedenfalls so, dass ich auch darin einige "Fleißzeugnisse" bestand. Aber doch so nebenbei. Denn den Rest des Tages verwendete ich auf Mathematik und Physik.

Physik

Neben der theoretischen Physik war ein großes Praktikum an der Reihe, dieses 8-stündig. Ich war ei­nem Jüngling zugeteilt, der ein "richtiger" Physiker war. Er machte also die Versuche und rechnete mit dem Rechenschieber, während ich mich nur mit den passenden Formeln herumschlug. Physika­lisch waren die Assistenten mit uns schon ganz zufrieden, nur waren wir ihnen zu albern. Besonders wenn der verantwortlich zeichnende Geheimrat Grüneisen in der Nähe war. Natürlich hieß er bei uns Geheimeisen Grünrat; Grund genug um wie Kleinkinder zu lachen. Merkwürdig wie wenig Inhaltliches von Studienfächern übrig bleibt, wenn man sie nicht ernsthaft studiert. Es geht zu rasch an einem vorbei, Lichtgeschwindigkeit in 14 Tagen, Windkanal und Magne­tismus dauerten etwas länger. Wie viele Formeln habe ich gelernt und "im Schlaf" gekonnt, und vergessen. Man denkt zwar, dass man alles wieder lernen kann, wenn man "es braucht" oder wenn es "ei­nen interessiert". Aber inzwischen bin ich in einem Alter, in dem Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis durchaus zum Nach­denken anregen. Viele meinen ja, dass Nachdenken sehr eng mit der Persön- lichkeit verbunden ist, aber das Lebensalter spielt wahrscheinlich doch auch hier eine ausschlaggebende Rolle. Und wenn dann das Kurzzeitgedächtnis nachlässt und man sich auf das Lang­zeitgedächtnis konzentriert, stellt man fest, wie viel Nennenswertes man vergessen und wie viel absolut Irrelevantes man behalten hat. Gut, wenn man das mit Humor nimmt, bei sich selbst und anderen.

Mensa

Einer unserer Kollegen hat seit seiner Studienzeit in der Mensa gegessen. Seitdem er im Ruhestand lebt, ist er in die unmittelbare Umgebung der Mensa gezogen, um keine Zeit zu verschwenden und auch dann noch in der Mensa essen zu können, wenn seine Kräfte nachlassen. Mir hat das eine Jahr Mensa-Essen in Marburg fürs ganze Leben gereicht. Übrigens hat sich da im Lauf der  50 Jahre, abgesehen vom Preis inzwischen nicht viel verändert. Zwar war ich schon lange nicht mehr in der Marburger Mensa, aber erst kürzlich wieder in der Mensa einer neuen deutschen Universität. Die Großstadt-Mensen bilden eine Ausnahme, weil sie meist mit den umliegenden Kneipen etwas konkurrieren müssen. Aber in kleinen oder außerhalb gelegenen Universitäten gibt es kaum Auswahl. Man stellt sich in eine Schlange, nimmt ein Tablett, bedient sich oder lässt sich bedienen am Tresen. Mancherorts kommen die Ta­bletts auf einem Fliessband fix und fertig. Kantinen sind ja auf der ganzen Welt so. Aber was man bekommt  ist unterschiedlich. Neu­lich hatte ich eine lauwarme Suppe, undefinierbar, ein Schälchen Salat, von dem  man  nicht feststellen konnte ob er  total oder nur halb hinüber war, ein Schälchen Kompott, ebenfalls zweifelhaft. Hauptgericht:  Fleisch, Sauce, ein Klos. Wenig, salzig, pfefferig. In Marburg gab es nur Hauptgericht und Nachtisch.

Irgendetwas mit viel brauner oder roter Sauce. Allerdings: Auch damals gab es, wie heute, einmal in der Woche ein Gericht, das passabel schmeckte. Auch dieses Mensa-Essen trug  dazu bei, daß ich mich in Marburg wie eine richtige Studentin unter anderen Studierenden fühlte. In Frankfurt hingegen fuhr ich zum Mittagessen stets mit dem Fahr­rad nach Hause. In Marburg saß ich mit anderen zusammen und wir quasselten. Meist über den Vormittag, der besonders bei den Medizinerinnen stets interessant verlaufen war.

Kurt Reidemeister

Während in Frankfurt die Mathematik ruhig verlief, war sie in Marburg eine anregende und aufregende Angelegenheit. Das lag an Kurt Reidemeister, Rufname Mucki. Bei Mucki geschah immer etwas, jedenfalls in den rund 40 Jahren, in denen ich ihn kannte. Noch im Jahr seines Todes, hatte ich einen harten Wortwechsel mit ihm, andere Freunde hatten härtere. Er glaubte etwas zur Konti­nuumhypothese beweisen zu können; obwohl man leicht einsehen konnte, dass es falsch war. Nun, so etwas passiert leicht, wenn man über 70 Jahre alt ist. Aber er wollte diese Arbeit unbedingt publi­ziert haben. Dann bekam man zu hören: "Sie dumme  Person!" und wahlweise: "Ich habe nie eine klügere Frau gekannt". Dazwischen drei geistreiche Sätze. So verlief unser letztes Gespräch - und ähn­lich das erste.  Es gab zu meiner Studienzeit drei Professoren für Mathematik in Marburg. Ich glaube, dass einer von ihnen, Kraft, Nichtordinarius war. Dafür schrieb er mit beiden Händen gleich­zeitig verschiedene Texte an die Tafel; dafür aber hatte er zuhause auch 4 kleine Kräfte. Seine Vorlesung besuchte ich nicht. Der älteste war Neumann, er hielt die gut besuchten, langweiligen Vorlesungen. Ich besuchte sie und kämpfte gegen den Schlaf. Er hatte alle Examenskandidaten, aber an Examen dachte ich noch nicht.

Rellich

Kollegen meiner Wahl waren Mucki und der junge Dozent Rellich. Sie hielten damals ein gemeinsames Seminar ab über Kählers Ab­handlung über Differentialformen. Zunächst mit 2 Studenten, der eine war ein Jüngling, der bald die Flucht ergriff, der andere war ich. Abgesehen von Reidemeister, Rellich und uns beiden, nahmen Reidemeisters Leute teil, die sich im Scherz als seine "Knechte" bezeichneten. Wahrscheinlich war einer Assistent und zwei waren Forschungsstipendiaten. Natürlich besuchte ich auch Reidemeisters Vorlesung; Rellich war dort nicht anwesend, im übrigen war es dasselbe Publikum. Gegenstand war die Topologie. Hensel  lebte noch in seinem grossen Haus als ich in Marburg studierte. Auswärtige Gäste wurden von ihm eingeladen und es wurde musiziert. Aber ich selbst bin ihm nur einmal begegnet. Immerhin  begegnete man sich in Marburg in der Stadt! In Frankfurt war das ganz anders. Man begegnete  sich nur in Universitätsnähe und wenn dort etwas stattfand. Ich selbst kam nur mit dem Fahrrad, Schneider mit Motorrad. Nach Seminar und Vorlesung fuhr man nach Hause und hatte dort seine menschlichen Begegnungen. In Marburg war das ganz anders. Es gab damals eigentlich nur ein Cafe und wenige Restaurants. Alles, auch die Mensa, war in der einen Straße in der sich der größte Teil des Lebens abspielte. Dort traf man sich automatisch. Mit den jungen Mathematikern war ich rasch bekannt. Alle waren noch unverheiratet - und ich war von Frankfurt her ans Ausgehen gewöhnt. Bald nachdem ich in Marburg anfing waren Moufang und Magnus zu einem  Kolloquiumsvortrag eingeladen.

Mucki und Pinze

Aus diesem Anlass wurde ich zu einer kleinen Gesellschaft bei Mucki eingeladen und lernte seine Frau, Pinze genannt, kennen. Man duzte sich damals ja zwar nicht, wenn aber und Pinze jemand für die jüngeren interessant war, wurde er in der Unterhaltung unter jungen Leuten mit Rufnamen oder Spitznamen bezeichnet. Wir redeten also von Mucki und Pinze. Sie waren, für mathematische Verhältnisse, ein besonders elegantes Paar. In jüngeren Jahren sahen sie, wie ich von Photos weiß, verträumt romantisch aus. In meiner Marburger Zeit sahen sie intellektuell aus, sie waren beide so um 40 Jahre alt. Pinze photographierte, Mucki dachte nach, sie bewohnten eine große und großzügige Wohnung und hatten Freunde aus allen Fakultäten. Hausarbeit lag Pinze ganz und gar nicht. Damals war das nicht tragisch, man fand immer eine Hilfe zu erschwinglichen Preisen. Wenn ich Mucki begegnete, ging er gern ein Stück mit mir oder lud mich sogar zu einem Kaffee ein und fing gleich an, über meinen Kopf hinweg zu reden. Ganz schlimm wurde es, wenn er mal eine Sekunde an seine Zuhörerin dachte und dann zu seinen eben geäußerten philosophischen Gedanken ein Beispiel konstruierte. Ich erinnere mich daran, dass eines der Beispiele einen Regenschirm be­traf und ich Muckis Mühe nur mit "Auch das Beispiel verstehe ich nicht" kommentierte. In solchen Fällen konnte er verzweifeln, wütend werden oder auch schallend lachen. Einmal hat er mich minutenlang auf offener Straße laut ausgelacht. Ein Glück also, dass ich nicht so leicht einen seelischen Knacks bekommen konnte. Und was hatte ich bei dieser Gelegenheit nicht verstanden und ge­wagt ihn fragend anzusehen? Er hatte gerade gesagt, seine nächste Differentialrechnung würde er nicht-archimedisch halten.
Nun, so auf die Schnelle konnte ein weibliches sechstes Semester das kaum ohne Erläuterung verstehen. Mucki lachte mich nur aus, ließ mich aber nicht stehen sondern redete dann liebevoll und unverständlich weiter. Auf diese Weise sind wir ganz gute Freunde geworden. Er trug es mir nicht einmal nach, dass er meinetwegen die Vorlesung über Topologie halten musste; er hatte ursprünglich vorgehabt, sie wegen Mangel an Beteiligung ausfallen zu lassen.

Muckis Knechte

Gewöhnlich saßen Muckis "Knechte" in der Bank hinter mir. Sie waren alle pro­moviert, dabei sich zu habilitieren und verstanden was Mucki sagte. Nur gelegentlich machten sie sich Notizen, während ich versuchte mitzuschreiben. Wenn ich mal wieder garnichts verstand, drehte ich mich hilfesuchend um. Aber dann konnte es vorkommen, dass Ar­nold Schmidts Papier mit Elefanten bedeckt wurde. Einer neben dem anderen, alle auf dem Kopf stehend. Sollte ich das etwa ko­pieren um dann zuhause noch mal scharf darüber nachzudenken? Aber häufig fand sich ein freundlicher "Knecht" der nachmittags mit mir spazieren ging und versuchte mir Muckis Gedanken näher zu bringen. Es war nie Arnold Schmidt weil ich den nicht mochte. Aber die übrigen waren mir gleich lieb.
Das Mucki-Seminar war eine grössere Katastrophe als die Vorle­sung, weil ich da selbst auftreten musste und jeden dritten Vortrag halten. Mucki zu fragen hatte für mich keinen Sinn, also fragte ich zunächst den zweiten Veranstalter Rellich. Auch er war ja damals unverheiratet, antwortete bereitwilligst und lud mich häufig auch mal abends ein. Leider fiel mich Mucki während des Vortrags an, sobald ich mir Hilfe bei Rellich geholt hatte. Versuchte ich aber Rellich und einen der Knechte vor einem Vortrag zu fragen, so stellte sich heraus, dass die Ansichten grundverschieden waren. Da­durch wurde alles noch schwieriger, obwohl ich doch gewillt war, alles zu lernen was ich lernen konnte, es dann brav auswendig zu lernen und es hübsch übersichtlich an die Tafel zu schreiben. So hingegen blieb mir nur übrig, hübsch an der Tafel auszusehen, was ich damals tat, und mich auf meine nicht hässliche Stimme zu verlassen. Das Seminar ging also in vollem Einvernehmen zu Ende. Viele Jahre später gestand mir Mucki, dass er mir im Anschluss an das Seminar gern ein Dissertationsthema vorgeschlagen und mich in Marburg behalten hätte.

Peters Zeitung

Peters Zeitung existierte noch in Frankfurt so lange ich in Marburg war. Während ich mich an den Umgang mit Gerda und den jungen Kollegen gewöhnt hatte, nahm er andere junge Damen mit in Konzerte und Theaterpremieren, die er zu rezensieren hatte. Aber in den Ferien war ich ja in Frankfurt und mit Peter zusammen. Ich weiß nicht genau, wann seine Zeitung eingestellt werden musste, nehme aber an, dass es 1937 oder 1938 war. Nach 1933 ging die unselige Entwicklung ja nicht Schlag auf Schlag, sondern langsam und stetig. Es war für Peter keine Frage ob er umschwenken und sich bei einer Parteizeitung bewerben, oder ob er die Zeit anders überleben sollte. 1933 war er erst 23 Jahre alt, aber sehr standfest. Er zog also in eine kleine Mansarde und nachdem seine Zeitung eingegangen war, hungerte er sich als freier Journalist bis zum Krieg durch. - Ich glaube, wir haben beide damals ziemlich viel Idealismus betrieben.

Ferien in Frankfurt

Sobald Ferien begannen und ich wieder in Frankfurt war, führte mich einer meiner ersten Wege in das Frankfurter Mathematische Pronkfurt Seminar. So auch zu Weihnachten 1935. Ich dachte Schneider, Moufang oder Magnus zu begegnen, zumal an diesem Tag noch Vorlesungen stattfanden.

Siegels Rückkehr

Auf der Treppe begegnete ich jedoch dem Siegel. Er war zum W.S. 1935/36 wieder nach Frankfurt zurückgekommen. Ich war ziemlich erstaunt, daß er mich mit Namen ansprach. (Später war ich nicht mehr so erstaunt, nachdem ich mir selbst die Namen von netten oder tüchtigen Studenten möglichst rasch einprägte.) Wahrscheinlich hatte ihn Hellinger über meine Differenzen mit den NS-Studenten informiert.

Promotionsangebot

Er nahm mich also sogar mit in sein Dienstzimmer. Viele Worte machte er zwar nicht, aber ein Angebot war das schon! Ich könne jederzeit zum Examen zu ihm kommen, am besten gleich mit der Absicht zu promovieren. Da ich bis dahin überhaupt nie an eine Promotion gedacht hatte, machte ich natürlich gleich den passenden Einwand und äusserte die Ansicht, ich sei vermutlich nicht zu einer Dissertation im Stande. Mit größter Leichtigkeit schob er das beiseite. Keineswegs mit "Natürlich sind Sie im Stande" sondern: "Wenn es nicht klappt, können Sie die Arbeit immer noch für das Staatsexamen verwenden". Das leuchtete mir sofort ein. Da ich mich in seiner Anwesenheit nicht so recht wohl fühlte, entfloh ich mit einem "Ich werde es mir überlegen".

Prüfungsbestimmungen

Hinzufügen sollte man hier etwas über Prüfungsbestimmungen. Heutzutage sind sie eine große Sache, auf die viel Zeit verschwen­det wird. Damals schienen sie von untergeordneter Natur. Wenn man in den Schuldienst wollte, musste man Staatsexamen machen, in Frankfurt mit 3 Schulfächern. Diplom in Mathematik wurde in Deutschland erst 1941 (?; es kann 40 oder 42 gewesen sein) ein­geführt. Dr-Examen "konnte" man nach 6-semestrigem Studium, zwei davon am betreffenden Ort, absolvieren. Wenn man "konn­te". Eine Dissertation war nötig und mündliche Prüfungen. Im Moment nahm ich Siegels Vorschlag also nicht ernst, wenn er mir auch Selbstvertrauen einflößte. Ich vergaß ihn aber auch nicht. Schuld daran war wahrscheinlich, daß ich Reidemeister so schlecht verstand. Während ich dem Siegel stets aus dem Weg ging, kam ich in persön- licher Hinsicht gut mit Reidemeister aus und fühlte mich ganz wohl in seiner Umgebung. Aber bei Siegel verstand ich jedes Wort, auch wenn es absonderlich klang, während ich bei Rei­demeister kein Wort verstand, auch wenn es ganz natürlich klang. Die beiden waren übrigens später einige Jahre eng befreundet, um sich dann für den Rest des Lebens feindlich gegenüber zu stehen.
Wie lange würde es dauern, bei Mucki das Staatsexamen zu ma­chen? Würde das finanziell gehen? Gäbe es auch in Marburg politi­sche Schwierigkeiten? So sehr gut war die Studenten-Organisation noch nicht. Aber im SS 36 sickerte doch auch in Marburg durch, ich sei "politisch unzuverlässig". Ich würde also kein Stipendium mehr bekommen können. - Oh ja! Der Sommer in Marburg war so schön. Sonnig und voller Rosen. Mit vielerlei Freunden und Freuden. Aber doch der Idee, daß dies keine Fortsetzung haben könne.

Zurück in Frankfurt

Also verließ ich Marburg sogar etwas vor Semesterende, um in Frankfurt im Seminar Herrn Siegel aufzusuchen, der nach Seme­sterende stets sofort abreiste. So viel wussten die Studenten alle von ihm - viel mehr nicht.