Hauptinhalt
Mathematik an der Philipps-Universität 1945-1990
Werner Schaal
Geschichte der Mathematik an der Philipps-Universität 1945-1990
Zur Geschichte der Mathematik an der Philipps-Universität liegen bereits zwei unterschiedlich ausführliche Darstellungen vor, die von Karl-Bernhard Gundlach, „Ein Rückblick auf die Entwicklung der Mathematik in Marburg“, als Vortrag gehalten am 25.Oktober 1985 anlässlich der Feier zum hundertjährigen Bestehen des Mathematischen Seminars der Universität Marburg, und die von Wolfgang Gromes, „125 Jahre Mathematisches Seminar – Ein Streifzug durch die letzten Jahrzehnte“, gehalten als Vortrag am 2.Februar 2011 anlässlich der Eröffnung der Mathematischen Modellsammlung.[1] Beide Vorträge, insbesondere der zweite, gehen auch auf die in diesem Beitrag angegebene Zeit ein, so dass hier nur einige Ergänzungen von jemandem aufgezeichnet werden, der die Entwicklung des Faches seit 1954 zunächst drei Semester als Student, ab Wintersemester 1964 nach Rückkehr vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, Mass., USA, als Assistent, Dozent, Professor, dreimaliger Dekan (1971/72, 1980/81 und 1988 – April 1989), von April 1989 bis 1993 als Vizepräsident und von 1994 bis 2000 als Präsident dieser Universität erlebt und aktiv begleitet hat.
Neubeginn 1945
Am Ende des zweiten Weltkrieges umfasste der Lehrkörper des damaligen Mathematischen Seminars den o. Professor Dr. Ernst Richard Neumann (1875-1955), emeritiert 1946, den o. Professor Dr. Kurt Reidemeister (1893-1971), Nachfolger Hasses und seit 1934 in Marburg, 1955 einem Ruf nach Göttingen gefolgt, den apl. Professor Dr. Maximilian Krafft (1889-1972), 1956 in den Ruhestand gewechselt, und den Diätendozenten Dr. Arnold Schmidt (1902-1967). Dr. Schmidt verließ Marburg allerdings Ende 1945, um als Oberassistent an das Mathematische Institut der Universität Göttingen zu gehen. Als letzten Assistenten von Hilbert hatte man ihn gebeten, sich um den Nachlass Hilberts zu kümmern. Es soll bereits an dieser Stelle erwähnt werden, dass Schmidt nach seiner Promotion in Göttingen eine Stelle am Marburger Mathematischen Seminar innegehabt, sich hier 1937 habilitiert hatte und während des Krieges an der Sternwarte Potsdam tätig war.
Reidemeister war 1933 von seiner Professur in Königsberg entlassen worden, da er sich in seinen Vorlesungen gegen die Machtergreifung der Nationalsozialisten geäußert hatte. Wohl mit Unterstützung seines Doktorvaters Erich Hecke (1887-1947) bekam er 1934 die Professur in Marburg. Während der Zeit des Dritten Reiches zog er sich zunehmend in die innere Emigration zurück. Über die Aktivitäten Reidemeisters nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges gibt es nur verhältnismäßig wenige Hinweise. So hat er einen Artikel mit dem Titel „Der totale Staat im Spiegel der Selbsterfahrung“ geschrieben, dessen Erscheinungsdatum nicht genau feststellbar ist.[2] In einem Aufsatz von Ingrid Krüger-Bulcke über den Neuanfang der Marburger Universität im Herbst 1945[3] wird erwähnt, dass Reidemeister im Zusammenhang mit der Erarbeitung von Kriterien zur Wiedereröffnung deutscher Universitäten einem Universitäts-Planungs-Ausschuss angehört hat, der in der amerikanischen Besatzungszone von dem amerikanischen Offizier Hartshone gegründet wurde. Weitere Mitglieder waren die Professoren Ebbinghaus, Bultmann, Jost, Kretschmer, von Hippel sowie einige Gäste. In die Zusammenarbeit mit dem damaligen Rektor Prof. Dr. Julius Ebbinghaus (1885-1981) geben einige Briefe Reidemeisters an Samson B. Knoll vom Office of Military Government for Germany, US (OMGUS), aus dessen Nachlass Einblick.[4]
Von Neumann ist mir nur bekannt, dass er zu den Unterzeichnern des „Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ gehörte, das am 11. November 1933 auf einer Festveranstaltung in Leipzig vorgetragen wurde.
Aus dem sehr lesenswerten Artikel „Mathematik im Nachkriegs-Marburg“ von Horst Tietz (1921-2012) geht hervor, dass in der Zeit vom 16. 11. 1945-29. 12. 1947 Prof. Dr. Herbert Grötsch (1902-1993) in Marburg lehrte. Darüber berichtet auch Prof. Dr. R. Kühn in seinem Nachruf auf Grötsch.[5] Grötsch war 1935 seine Privatdozentur an der Universität Gießen aus „politischen Gründen“, wie er es selbst nennt, entzogen worden. Ab dem 16. 11. 1945 arbeitete er als wissenschaftliche Hilfskraft in Marburg und beantragte die Übertragung einer Diätendozentur hier in Marburg. Seine Anträge hierzu wurden nachhaltig von Reidemeister unterstützt. Krafft beantragte im März 1947 seine Ernennung zum apl. Professor. Grötsch hielt vom WS 1946/47 bis zum SS 1947 regelmäßig Vorlesungen und Seminare (zusammen mit Krafft) über verschiedenste Gebiete ab: Differential- und Integralrechnung, Theorie der konformen Abbildungen (sein Forschungsgebiet), Elementare Zahlentheorie und auch Vektoranalysis. Er folgte 1948 einem Ruf nach Halle.
Als Nachfolger Neumanns wurde Dr. Max Friedrich Deuring (1907-1984) berufen, der nur im Wintersemester 1947/48 in Marburg lehrte und von hier an die Universität Hamburg wechselte. Man versuchte später nochmals, Prof. Deuring für Marburg zu gewinnen, und zwar 1959 als Nachfolger von Prof. Eichler (s.u.). Er lehnte diesen Ruf unter anderem mit einer interessanten Begründung ab: Die Lehrverpflichtung von acht Semesterwochenstunden erschiene ihm wegen seiner intensiven Forschungstätigkeit als zu hoch. Der damalige Dekan der Philosophischen Fakultät versuchte, Deuring gegenüber die Bedeutung dieser Lehrverpflichtung dadurch abzumildern, dass er ihm schrieb, sie würde in der Regel nicht kontrolliert, und er brauchte sie deshalb nicht als eine Einschränkung anzusehen. Deuring blieb jedoch in Göttingen. Man sollte nicht vergessen, dass zu der Zeit Carl Ludwig Siegel nach seiner Rückkehr vom Institute for Advanced Study in Göttingen lehrte, und dass außer ihm so bedeutende Mathematiker wie Reidemeister, Grauert und Maak in Göttingen Professuren bekleideten. Es soll an dieser Stelle daran erinnert werden, dass nach den herausragenden Zahlentheoretikern Kurt Hensel und Helmut Hasse in den dreißiger Jahren die Zahlentheorie in Marburg in den vierziger Jahren außer durch Deuring auch durch den leider früh verstorbenen Hans-Heinrich Ostmann (1913-1959) vertreten war. Ostmann vertrat ab 1948 zunächst Reidemeister und war bis zu seinem Ruf an die Freie Universität 1950 in Marburg als planmäßiger Diätendozent tätig.
Prof. Dr. Arnold Schmidt wurde als Nachfolger Deurings 1950 zum o. Professor nach Marburg berufen. Das damalige Ministerium versuchte, die Ernennung dadurch zu verzögern, dass man darauf hinwies, dass er durch diese Ernennung „einen Rang überspränge“. Der damalige Dekan, Prof. Dr. Walcher, konnte diese Hürde aus dem Wege räumen. Es gab also zu dieser Zeit die beiden Ordinarien Reidemeister und Arnold Schmidt. In seinem oben genannten Artikel hat Gromes auf die „Besonderheiten“ von Arnold Schmidts Lehrveranstaltungen, Vorlesungen und Seminaren hingewiesen. Fairerweise muss gesagt werden, dass sich diese erst in den späteren Jahren seiner Professur so extrem entwickelten. Ich selbst habe ihn in meiner Anfangsvorlesung im Wintersemester 1954/55 noch anders erlebt, obwohl sich, im Nachhinein gesehen, schon einige deutliche Eigenheiten zeigten, vor allem auch sein recht schwieriger und unnahbarer Umgang mit Studierenden.
Aufgelockert und normalisiert wurden sowohl die Lehrsituation als auch die Zuwendung zu Studierenden durch die damals auf Assistentenstellen sitzenden apl. Professoren Prof. Dr. Kurt Schütte (1909-1998) und Prof. Dr. Wolfgang Rothstein (1910-1975). Schütte war der neunundsechzigste und letzte Doktorand Hilberts. Er erhielt 1952 die venia legendi in Marburg und war dann mit Unterbrechungen von 1955-1963 zunächst als Diätendozent, dann als apl. Professor in Marburg tätig. Er übernahm die Stelle des 1955 in den Ruhestand getretenen Prof. Dr. Maximilian Krafft. Krafft hielt noch lange während seines Ruhestandes Vorlesungen, unter anderem mathematikgeschichtliche, die sich mit Euler beschäftigten. Während seiner Marburger Zeit nahm Schütte Einladungen an das Institute for Advanced Studies in Princeton (auf Einladung Kurt Gödels), als Gastprofessor an die Pennsylvania State University und eine Lehrstuhlvertretung an die ETH Zürich an. (Bei seiner Überfahrt an die Penn State University im Herbst 1962 waren wir beide auf demselben Schiff, der „Bremen“, und ich hatte Gelegenheit, mit ihm Gespräche vor allem auch über seine Tätigkeit in Marburg zu führen.) Schüttes Vorlesungen zeichneten sich durch große Klarheit und Verständlichkeit aus. Nach Durchsicht aller Vorlesungen, die Schütte in Marburg gehalten hat, kann ich mit ziemlicher Sicherheit behaupten, dass er keine Vorlesung über sein Spezialgebiet, die mathematische Logik, halten durfte – nur Arnold Schmidt hielt Vorlesungen über Logik. Er folgte 1963 einem Ruf als o. Professor an die Universität Kiel. Es war für mich eine große Freude, ihn anlässlich der von mir organisierten Jahrestagung der DMV im Herbst 1986 in Marburg begrüßen zu können. Einflechten möchte ich eine Bemerkung über Schütte. Er fand als Erster einen Beweis für die berühmte Behauptung Newtons, dass maximal zwölf Kugeln auf einer mittleren Kugel mit gleichem Radius positioniert werden können, und nicht dreizehn, wie sein Kollege Gregory behauptet hatte, das sog. „kissing problem“. (Schon Kepler hatte dieses Problem Ende des sechzehnten Jahrhunderts diskutiert.) Als van der Waerden, den Schütte bereits aus seiner Göttinger Zeit kannte, kurz darauf unabhängig von Schütte ebenfalls einen Beweis für Newtons Behauptung lieferte, entschlossen sich beide, ihre Beweise 1953 in den „Mathematischen Annalen“ unter dem nicht sehr aufschlussreichen Titel „Das Problem der dreizehn Kugeln“ zu publizieren.
Rothstein war von 1950-1959 zunächst als Diätendozent, später als apl. Professor bis zu seinem Weggang nach Münster in Marburg tätig. Seine temperamentvollen Vorlesungen unterschieden sich wesentlich von denjenigen Arnold Schmidts. Bei ihm verstand man das „Entstehen von Mathematik“ und den eigentlichen Gedankengang von Beweisen mit den zugrunde liegenden Ideen. Es war für uns Studierende möglich, ihn nach der Vorlesung anzusprechen und Fragen zu stellen. Er scheute sich auch nicht, Sachverhalte, die in einer Vorlesung unklar geblieben waren, in der darauf folgenden noch einmal zu erklären und Unklarheiten damit zu beseitigen. Ich werde nicht vergessen, wie er einem schon recht betagten Studenten, der manchmal etwas verwirrt wirkte, auf dessen Insistieren einen Übungsschein für „eine richtig gelöste Aufgabe“ ausstellte und dessen Problem damit „löste“. Im Sommer 1963 habe ich Rothstein zufällig bei einer Reise durch Florida zuletzt gesehen und gesprochen.
Neue Professuren ab Mitte der 1950er Jahre
Die durch den Wechsel von Reidemeister nach Göttingen frei gewordene Professur wurde mit Prof. Dr. Martin Eichler besetzt, der nur etwa zweieinhalb Jahre, von 1956-1958, in Marburg lehrte und dann einem Ruf nach Basel folgte. Als Nachfolger hatte man sich eine Person gewünscht, die der Algebra nahe steht, und man hatte deswegen den Ruf an Deuring erteilen lassen, der aber ablehnte (s.o.). Der Ruf erging nunmehr an einen Vertreter der Analysis, Prof. Dr. Alexander Peyerimhoff (1926-1996), der ihn 1959 annahm. Mit Peyerimhoff zog ein Mathematiker in das Mathematische Institut ein, der sich vollständig von Arnold Schmidt unterschied, was denn auch zu vorhersagbaren Auseinandersetzungen führte. Lebhaft, quirlig, mathematisch aktiv, begeisterte er Studierende und angehende Examenskandidaten. Peyerimhoff wurde in den sechziger Jahren mehrfach für Forschungsaufenthalte an die University of Utah, Salt Lake City beurlaubt, wohin er auch Assistenten des Mathematischen Seminars mitnahm, z.B. die Herren Körle, Körner und Miesner. Die ganz andere Art des amerikanischen Universitätsbetriebes prägte auch sein Wirken im Mathematischen Institut. Die Distanz zu seinem Kollegen Arnold Schmidt war deshalb sehr verständlich, jedoch rechtfertigte sie nicht die mutwillige Zerstörung der von Schmidt aufgebauten und gepflegten Sammlung mathematischer Modelle nach dessen Tod. Ich selbst habe noch einige der Modelle aus einer Abstellkammer retten können. Sie befinden sich jetzt in der von Frau Prof. Dr. Agricola dankenswerterweise wieder aufgebauten Sammlung. Herr Gromes hat Peyerimhoff in seinem Beitrag eingehend gewürdigt und treffend charakterisiert, so dass ich mir hier nähere Ausführungen ersparen kann.
Peyerimhoff lehnte Inhalte und Ziele der hessischen Hochschulgesetzgebung aus dem Ende der sechziger Jahre kompromisslos ab. So vermochte er z.B. die Mitsprache von Studierenden und akademischen Mitarbeitern im Institutsbeirat und in den später gegründeten Sektionen und Fachbereichen nicht zu akzeptieren. Als von der neugegründeten Universität Ulm im Juni 1969 an die Marburger Naturwissenschaftliche Fakultät die Bitte erging, Namen von Wissenschaftlern für die Besetzung der dort neu errichteten Professuren zu nennen, antwortete der damalige Dekan Prof. Dr. Hellner, dass sich in Marburg ganz besonders Prof. Peyerimhoff für einen Wechsel nach Ulm interessiere. Dieser nahm dann auch im März 1970 einen entsprechenden Ruf an. Darüber hinaus arbeitete er mit großer Intensität daran, weitere Professoren und Mitarbeiter der Marburger Mathematischen und Physikalischen Institute nach Ulm zu ziehen, z. B. die Professoren Richert, Körner und Wirsing, die in den folgenden Jahren Rufe nach Ulm annahmen (s. u.). Der Physiker Prof. Dr. Joachim Petzold lehnte dagegen einen entsprechenden Ruf ab und blieb in Marburg. Wenn man so will, hat die hessische Hochschulgesetzgebung beim Aufbau zumindest der Mathematik an der Ulmer Universität mitgeholfen. Man wird jedoch davon ausgehen können, dass auch diese neu gegründete Universität und ihre Angehörigen sich den damaligen hochschulpolitischen Reformen nicht verschließen konnten.
Anfang der sechziger Jahre bekam die Marburger Mathematik eine Stelle für eine dritte ordentliche Professur zugewiesen. Bevor ich auf deren Besetzung eingehe, möchte ich in Erinnerung rufen, wie damals die Besetzung solcher Professuren in der Regel vor sich ging. Sobald die Fakultät über die Professur verfügen konnte, einigte man sich unter den Fachkollegen zunächst darüber, ob man eine bestimmte Forschungsrichtung anstrebte, ob man eine fachlich sehr ausgewiesene Persönlichkeit berufen wollte, oder ob es angebracht sei, ganz besonders auf die Lehrqualifikation zu achten. Danach, und so geschah es auch bei der Besetzung der genannten Professur, wurden Kollegen in ganz Deutschland angeschrieben und gebeten, geeignete Persönlichkeiten zu benennen. Es versteht sich von selbst, dass bei den konsultierten Kollegen eine solche Anfrage wahrgenommen wurde, auch eigene Schüler zu empfehlen. Hatte man sich auf eine engere Auswahl geeinigt, meistens nicht mehr als fünf, eher weniger, holte man fachliche Gutachten ein. Manchmal waren diese vergleichend für einige oder mehrere der in Betracht kommenden Personen, manchmal bezogen sich die Anfragen auf solche Begutachtung auf lediglich eine Person. Häufig wurde den Gutachtern auch nicht mitgeteilt, wen man außer der zu begutachtenden gewünschten Person noch im Auge hatte. Diese Gutachten hatten, wie ich als Mitglied zahlreicher Berufungskommissionen aus eigener Kenntnis weiß, ganz unterschiedlichen Charakter. Meistens waren sie recht kurz, und sie gingen keineswegs immer auf die Nennung besonderer Forschungsergebnisse ein. Ich erinnere mich an das Gutachten eines der führenden damaligen deutschen Mathematiker, das aus einer einzigen handgeschriebenen Seite bestand und lediglich besagte, dass der Gutachter die Person A der Person B aus fachlichen Gründen, ohne auch nur ein Ergebnis zu zitieren, vorziehen würde, nicht mehr und nicht weniger.
Das Berufungsverfahren für das oben genannte dritte Ordinariat verlief im Wesentlichen auf die beschriebene Weise. Prof. Dr. Hans-Egon Richert (1924-1993) war zu dieser Zeit Full Professor an der University of Syracuse im Staate New York. (Die Syracuse University wird in der Zahlentheorie immer wieder im Zusammenhang mit dem elementaren Beweis des Primzahlsatzes von Erdös und Selberg genannt. Außerdem wird die von Collatz herrührende sog. (3n+1)-Vermutung manchmal auch als Syracuse Problem bezeichnet.) Den Ruf erhielt er im April 1962 und nahm ihn im September 1962 an. Richert führte sehr erfolgreiche Berufungsverhandlungen, was seine Ausstattung und die des Mathematischen Instituts betraf. Man gestand ihm vier Assistentenstellen zu und einen über mehrere Jahre verteilten Betrag von etwa 300.000 DM für die Aufstockung der Bibliothek unseres Institutes. Die vier Stellen besetzte er mit Dr. Peter-Georg Schmidt (1930-2007), Dr. Wolfgang Haneke (1936-2013), Dr. Richard Warlimont (1936-2011) und mir. Alle vier Personen waren in Göttingen promoviert worden. Übrigens kam auch Otto Körner als Doktorand von Siegel 1961 aus Göttingen nach Marburg. (Prof. Dr. Edmund Hlawka, ein Freund Siegels, hat sich mehrfach anerkennend darüber geäußert, dass ein Teil der Siegelschen mathematischen Forschungsgebiete in Marburg weitergeführt wurde.) Richert und Peyerimhoff verstanden sich sehr gut. Es war wohl auch Peyerimhoffs Wunsch, Richert nach Marburg zu holen. Beide waren oft in den USA. So war Richert während seiner hiesigen Professur mindestens zweimal für einen einjährigen Forschungsaufenthalt nach Syracuse beurlaubt. Bei seiner zweiten Beurlaubung gab es Probleme mit dem Ministerium, da man sich wegen des immer wieder beklagten Mangels an mathematischen Professuren nicht ohne weiteres auf eine weitere Beurlaubung eines Professors des Marburger Mathematischen Instituts einlassen wollte. Richert und Peyerimhoff hatten durch ihre internationalen Erfahrungen Kontakt zu vielen jüngeren ausländischen Mathematikern. So kam es, dass wir in den sechziger Jahren verhältnismäßig viele ausländische Gastdozenten in Marburg hatten. Ich nenne ohne Anspruch auf Vollständigkeit Dr. Frank Levin, Dr. Pramila Srivastava und Dr. Knapowski. Levin (1927-2011) bekleidete später Professuren in USA, Kanada und Bochum, sein Arbeitsgebiet war, wie aus einem Nachruf von Benjamin Baumslag hervorgeht, „Infinite group theory“. Frau Srivastava (1933-2008) wurde Professorin an der indischen Universität Allahabad und galt als eine der führenden Personen in der indischen Mathematik. Folgt man einem Nachruf auf ihr Wirken, war sie die erste Frau, die in Asien in Mathematik promoviert wurde. Zu ihren Forschungsgebieten gehörte die Riesz-Summierbarkeit. Levin und Srivastava haben beide Vorlesungen aus ihren Arbeitsgebieten in Marburg gehalten. Knapowski arbeitete auf dem Gebiet der analytischen Zahlentheorie, er hatte gemeinsame Publikationen mit dem ungarischen Mathematiker Prof. Dr. Paul Turan (1910-1976). (Prof. Dr. Vera Sós, Turans Frau, hielt mehrfach Kolloquiumsvorträge in Marburg.) Richert verließ Marburg 1971 aufgrund eines Rufes an die Universität Ulm.
Umbenennung des „Mathematischen Seminars“ und Umzug in das ehemalige Amtsgericht in der Universitätsstraße
Bevor ich weiter auf die personelle Besetzung des Mathematischen Instituts eingehe, möchte ich über eine Namensänderung und die räumliche Situation der Marburger Mathematik berichten.
Im November 1955 stellte Arnold Schmidt in der Philosophischen Fakultät, zu der die Mathematik gehörte, den Antrag, gemäß dem allgemeinen Brauch in der Bundesrepublik das „Mathematische Seminar“ in „Mathematisches Institut“ umzubenennen. Diesem Wunsch wurde sehr schnell durch die damals beinahe allmächtige Frau Dr. v. Bila im zuständigen Ministerium mit Schreiben vom 30. 12. 1955 entsprochen. Eine kurze Bemerkung zu Frau Dr. Helene von Bila (1904-1985). Seit Oktober 1952 war sie Leiterin der Hochschulabteilung im Ministerium für Erziehung und Volksbildung, und sie übte dieses Amt bis zu ihrer Pensionierung im März 1969 aus. Sie hatte entscheidenden Einfluss auf die Besetzung der Professuren an den hessischen Universitäten. Im Jahr 1977 wurde ihr die Philipps-Plakette unserer Universität verliehen, 1982 folgte die Ernennung zur Ehrensenatorin der Gießener Universität.
Fristete die Mathematik in den fünfziger Jahren ein äußerst beengtes Dasein im Landgrafenhaus – ich selbst habe unter dessen Dach mehrere Prüfungen abgelegt-, so bemühte sich Arnold Schmidt immer von neuem um geeignetere Räume. Die Hauptvorlesungen wurden in diesen Jahren in der sog. Alten Universität abgehalten. Der damalige größte Vorlesungssaal mit geeigneten Tafeln beherbergt jetzt die theologische Bibliothek. 1957 wurde in der Fakultät meines Wissens zum ersten Male über einen Umzug in das sog. Alte Amtsgericht in der Universitätsstraße diskutiert. In den Jahren 1960-63 erfolgt dessen Umbau in für das Mathematische Institut geeignete Räume. Hierbei hat sich Arnold Schmidt intensiv engagiert. Die Gelder für eine Vergrößerung der Bestände an mathematischer Literatur, die Richert als Berufungszusage erhalten hatte, führten zu mehrfachen Änderungen der Umbaupläne. Das Resultat all dieser Bemühungen war für den damaligen Personalbestand zufriedenstellend. Auch konnten mittelgroße Vorlesungen in dem Gebäude abgehalten werden. Der Einzug der Zentralen Rechenanlage in die Kellerräume erwies sich zunächst als problematisch, da die Räume zu feucht waren. Sie zog dorthin im Jahre 1963. Im Jahre 1966 ist die Zentrale Rechenanlage dann in die Räume in der Neuen Kasseler Straße umgezogen, 1975 unter dem Namen „Rechenzentrum“ auf die Lahnberge.
Personeller Ausbau in den 1960er Jahren und Gründung der Zentralen Rechenanlage
Um einigermaßen chronologisch zu bleiben, möchte ich hier die Aufspaltung der Philosophischen Fakultät in eine Philosophische und eine Naturwissenschaftliche Fakultät im Jahre 1964 nennen. Ihr gehörten (im Wesentlichen die späteren Sektionen) Mathematik, Physik, Chemie, Physikalische Chemie, Pharmazie, Biologie, Geowissenschaften, Geographie und Psychologie an. Nur Arnold Schmidt wurde die Zugehörigkeit zu beiden Teilen der früheren Philosophischen Fakultät gestattet. Die Universität gliederte sich in die Evangelisch-Theologische, die Rechts- und Staatswissenschaftliche, die Medizinische, die Philosophische und die Naturwissenschaftliche Fakultät auf. Übrigens wurde vom Ministerium der Vorschlag, die Naturwissenschaftliche Fakultät „Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät“ zu nennen, nicht genehmigt.
Dem Mathematischen Institut wurde 1963 ein vierter Lehrstuhl bewilligt. Prof. Dr. Vojislav Avakumovic (1910-1990) nahm den Ruf auf diese Professur an und wurde im Februar 1966 zum o. Professor ernannt. Zuvor hatte Avakumovic die Stelle eines Direktors der Kernforschungsanlage des Landes Nordrhein-Westfalen in Jülich inne und war gleichzeitig Honorarprofessor an der TH Aachen. Avakumovic bekam neben anderen Berufungszusagen auch solche für die Zentrale Rechenanlage und leitete dieselbe in der Nachfolge von Prof. Dr. Madelung, Physik, in den Jahren 1966 und 1967. Sein Hauptaugenmerk legte er jedoch auf die Betreuung des wissenschaftlichen Nachwuchses, was sich in einer bemerkenswerten Zahl von Promotionen und Habilitationen niederschlug. Später werde ich noch auf Avakumovics Tätigkeit in der Verwaltung des Mathematischen Instituts eingehen, die er in einer hochschulpolitisch schwierigen und zum Teil aufgeheizten Atmosphäre übernahm und souverän und mit ruhiger Hand führte.
Die Notwendigkeit, im Zusammenhang mit der schnellen Entwicklung der Rechner die angewandte Mathematik stärker zu betonen, führte im Juli 1965 dazu, einen Lehrstuhl für „Instrumentelle Mathematik“ einzurichten. Die DFG hatte die Bewilligung eines größeren Rechners, den TR 4, von der Schaffung einer solchen Professur abhängig gemacht. Da eine freie Professur in der Naturwissenschaftlichen Fakultät zunächst nicht zur Verfügung stand, „lieh“ man eine solche für zwei Jahre von der Medizinischen Fakultät aus. Der TR 4 kam im März 1966 an, und Dr. Horst Niemeyer (1931-2007), TH Aachen, nahm im Mai 1967 den Ruf auf diese Professur an. Niemeyer war bei seiner Rufannahme der jüngste ordentliche Professor am Mathematischen Institut, und er hatte, ebenso wie Peyerimhoff und Richert, an amerikanischen Universitäten gelehrt. Auch seine Vorlesungen und Lehrveranstaltungen fanden große Resonanz bei den Studierenden, und er betreute viele Examenskandidaten. Als Nachfolger von Avakumovic fungierte er im Nebenamt zu seiner Professur als Leiter der Zentralen Rechenanlage, und zwar von 1967 bis zu seinem Weggang nach Aachen im März 1973. Sein Lehrstuhl wurde umbenannt in „Lehrstuhl für Instrumentelle und Angewandte Mathematik“. Niemeyer verwandte einen sehr großen Teil seiner Zeit auf die Leitung und den weiteren Ausbau der Zentralen Rechenanlage, insbesondere was die Planung der Räumlichkeiten und ihren Umzug 1975 auf die Lahnberge betraf (s. u.). Auch für Nichtmathematiker wurde Niemeyer bekannt, und zwar durch seine Vorschläge für Sitzzuteilungsverfahren in politischen Gremien. Genannt sei nur das Hare-Niemeyer-Verfahren. (In den Mathematischen Semesterberichten 2017 haben Ilka Agricola und Friedrich Pukelsheim unter dem Titel „Horst F. Niemeyer und das Proportionalverfahren“ über Niemeyers Vorschläge berichtet. Ebenfalls hinzuweisen ist auf die sehr schöne Darstellung von Thomas Jahnke in dem Heft „mathematik lehren“ vom Juni 1998.)
Die letzte Berufung in den 1960er Jahren auf eine H4-Professur war die von apl. Prof. Dr. Eduard Wirsing (geb. 1931) im Mai 1969 als Nachfolger des 1967 verstorbenen Arnold Schmidt. Wirsing war zum Zeitpunkt seiner Berufung bereits ein hoch angesehener Vertreter der Zahlentheorie. Er bekleidete Gastprofessuren an der University Nottingham, England, und an der Cornell University in Ithaka im Staate New York. Im Wintersemester 1970/71 war er an das Institute for Advanced Studies in Princeton beurlaubt. (Atle Selberg war damals schon seit vielen Jahren permanentes Mitglied, später kam Enrico Bombieri dazu, beide herausragende Vertreter der Zahlentheorie.) Wirsing gehörte zu den sehr originellen und anregenden Lehrenden in Marburg. Ich kenne von ihm eine ihn durchaus charakterisierende Anekdote. Unter eine von ihm korrigierte Übung eines Studenten soll er geschrieben haben: „Alles Kohl, Wirsing“. Peyerimhoff ließ auch Wirsing nach Ulm berufen. Als dieser Ruf in Marburg bekannt wurde, forderte der damalige Fachbereich Mathematik in seiner Sitzung vom 24. 10. 1973 den Präsidenten Zingel auf, alles Erdenkliche zu tun, um Wirsing in Marburg zu halten. Ginge auch Wirsing, so schrieb man, hätte der Fachbereich in wenigen Jahren alle fünf H4-Professuren aus dem Ende der 1960er Jahre verloren: Peyerimhoff, Richert, Niemeyer durch Wegberufung und Avakumovic durch seine kurz bevorstehende Emeritierung. Wirsing entschloss sich dennoch, nach Ulm zu gehen (1974).
Bildung des Fachbereichs Mathematik
Mit den ausgehenden 1960er Jahren setzten fast überall in der Bundesrepublik hochschulpolitische Reformbemühungen ein, die von studentischen Unruhen begleitet wurden. In Marburg erwiesen sie sich als besonders turbulent. Heftig diskutiert wurden unter anderem Mitbestimmungsfragen, die die Studierenden und die wissenschaftlichen Mitarbeiter, aber auch die Nichtordinarien betrafen. Hierauf möchte ich nicht eingehen, da es sich um eine eigene Thematik handelt. Wichtig jedoch ist der Termin für die Bildung von Sektionen, die Vorläufer der Fachbereiche, innerhalb der Naturwissenschaftlichen Fakultät. Erste Diskussionen darüber gab es bereits im Juli 1967. Gebildet wurden sie in der Sitzung vom 30. 4. 1969. Die Fakultät wurde in neun Sektionen aufgeteilt: Reine und Angewandte Mathematik, Physik, Chemie, Physikalische Chemie, Pharmazie und Lebensmittelchemie, Biologie, Geowissenschaften, Geographie und Psychologie. Erster kommissarischer Sektionsleiter der Mathematik wurde Peyerimhoff. Am 10. 7. 1969 wurde Avakumovic zum ersten Sektionsleiter gewählt. Ihm folgte im Oktober 1970 Niemeyer nach. Mit der „Verordnung über die Bildung von Fachbereichen an den Universitäten vom 12. März 1971“ (Gesetz und Verordnungsblatt des Landes Hessen) begann die Aufspaltung der Fakultäten in Fachbereiche. Die folgenden Fachbereiche wurden gebildet: Rechtswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, Gesellschaftswissenschaften und Philosophie (der heutige Fachbereich Erziehungswissenschaften spaltete sich später von diesem Fachbereich ab), Psychologie, Evangelische Theologie, Geschichtswissenschaften, Altertumswissenschaften, Allgemeine und Germanistische Linguistik und Philologie, Neuere Deutsche Literatur und Kunstwissenschaften, Neuere Fremdsprachen und Literaturen, Außereuropäische Sprachen und Kulturen, Mathematik, Physik, Physikalische Chemie, Chemie, Pharmazie und Lebensmittelchemie, Biologie Geowissenschaften, Geographie und Medizin. (Während meiner Präsidentschaft habe ich damit begonnen, Fachbereiche umzugestalten und zusammen zu legen. So wurden z. B. die Fachbereiche Physikalische Chemie und Chemie zum Fachbereich Chemie vereinigt; der Fachbereich Geologie wurde im wesentlichen aufgegeben, und einige seiner Stellen gingen in die Geographie über. Das soll hier nicht weiter ausgeführt werden.) Avakumovic hat als Leiter der Sektion Mathematik in einem Schreiben an den hessischen Kultusminister die Bildung eines eigenen Fachbereichs Mathematik unter Hinweis auf damals 13 Hochschullehrer, 600-800 Studierende, den weiteren geplanten Ausbau auf 30 Hochschullehrer und 30 wissenschaftliche Mitarbeiter und die Einrichtung des Faches Informatik, der ersten Erwähnung dieser Absicht, den Vorschlag für einen eigenen Fachbereich begründet. Ebenso legte die Physik größten Wert auf einen eigenen Fachbereich Physik. Die konstituierende Sitzung des Fachbereichs Mathematik fand am 9. 7. 1971 im Mathematischen Institut im Alten Amtsgericht statt. Die Wahl des ersten Dekans fiel auf mich. Diskutiert wurde in dieser Sitzung auch der bereits für September 1971 beschlossene Umzug auf die Lahnberge (s. u.). Der Fachbereich richtete wenige Tage später einen Brief an den Präsidenten mit der Bitte, ihm auch nach dem Umzug das Alte Amtsgericht wegen der Verkehrsprobleme auf die Lahnberge zu überlassen. Dieser Bitte wurde jedoch nicht entsprochen; bereits Ende 1970 war in einem Schreiben an Frau Prof. Dr. Hampe die Absicht bekundet worden, das Gebäude den Rechtswissenschaften zuzuweisen.
An dieser Stelle möchte ich zu meiner Person bemerken, dass ich mich im Juni 1966 für das Fach Mathematik habilitierte und im Oktober 1970 aufgrund eines Rufes auf eine H3-Professur an die damalige Technische Hochschule Clausthal in Marburg zum Wissenschaftlichen Rat und Professor als Abteilungsvorsteher nach H3 ernannt wurde (vergl. Beschluss der Sektionssitzung vom 2. 7. 1970 und den entsprechenden Antrag von Avakumovic).
Umzug auf die Lahnberge
Die Diskussion über einen Neubau auf den Lahnbergen hatte mit einem Schreiben vom 28. 11. 1969 an den damaligen Geschäftsführenden Direktor des Mathematischen Institutes, Prof. Wirsing, begonnen. Darin wurde der Plan zur Errichtung eines Neubaus für die Geowissenschaften, die Mathematik und das Rechenzentrum im Neubaugebiet Lahnberge angesprochen. Nach meiner Erinnerung – ich habe darüber keine Unterlagen gefunden - war dieses Gebäude auf den Lahnbergen zuerst der Physik angeboten worden, die es jedoch für nicht geeignet hielt, da es nicht erschütterungsfrei sei. Daraufhin erging das Angebot an die Mathematik. Am 7. 1. 1970 fand eine Erarbeitung des Flächenbedarfs der Mathematik in einer Besprechung mit den Herren Niemeyer, Peyerimhoff, Wirsing und mir von der Mathematik, dem Kanzler Zingel und dem Technischen Direktor Dr. Fritzsche von der Hochschulverwaltung statt. Einigkeit bestand darin, dass sich die Planung auf das gesamte Mathematische Institut einschließlich des Lehrstuhls für Instrumentelle und Angewandte Mathematik beziehen sollte. Nach dem sprunghaften Anstieg der Neuimmatrikulationen von Studenten mit dem Hauptfach Mathematik (Staatsexamen und Diplom) im Jahre 1968 legte man die Zahl 200 Studienanfänger für die Ermittlung des Raumbedarfs fest. Der Flächenbedarf errechnete sich unter der Annahme von 800 Hauptfachstudenten und einer nicht unerheblichen Zahl von Nebenfachstudenten zu rund 5.300m². Der Stellenplan wies 77 Lehrpersonen aus (Schreiben des Kanzlers an den Hessischen Kultusminister vom 28. 1. 1970). Die Entscheidung der Mathematiker für einen Umzug aus dem Alten Amtsgericht auf die Lahnberge wurde in der mehrstündigen Sektionssitzung vom 13. 7. 1970 nach langen Diskussionen gefasst. Ausschlaggebend waren damals die Stimmen der Nichtordinarien, also der Dozenten und akademischen Mitarbeiter, die im Alten Amtsgericht keine angemessenen Arbeitsräume mehr hatten. Nach meiner Erinnerung habe ich diese Sitzung geleitet, und ich habe auch den Antrag gestellt, umzuziehen. (Ich wurde in dieser Sitzung zum kommissarischen Sektionsleiter gewählt, da Avakumovic den Vorsitz niedergelegt hatte. In der Sektionssitzung vom 16. 10. 1970 wurde dann Niemeyer zum Sektionsleiter gewählt.) Bereits wenige Tage nach dem oben genannten Schreiben, am 5. 12. 1969, schickte Niemeyer einen Raumbedarfsplan für das Rechenzentrum an den Kanzler. Beispielhaft scheint das Rechenzentrum der Universität Regensburg gewesen zu sein. Der Umzug in die Räume auf den Lahnbergen erfolgte kurz vor Beginn des Wintersemesters 1971/72. Geplant war er zuletzt für den 4. 10.1971, Unterlagen über den genauen Umzugstermin konnte ich auch in den Unterlagen zum Bau der Gebäude auf den Lahnbergen nicht finden. Die erste Fachbereichsratssitzung auf den Lahnbergen fand jedenfalls am 11. 11. 1971 statt. Leider zeigte sich in den Jahren nach dem Einzug, dass, ebenso wie in anderen zu der Zeit auf den Lahnbergen errichteten Gebäuden, die Flachdachkonstruktion dazu führte, dass immer wieder auf offenbar unergründlichen Wegen Regen- und Schmelzwasser sowohl in die Arbeitsräume als auch in die mathematische Bibliothek eindrang. Dieser Defekt ist erst sehr spät behoben worden.
Personeller Ausbau der 1970er Jahre
Mit Beginn Mitte 1970 bahnten sich auch in personalpolitischer Hinsicht für die gesamte Universität, insbesondere ebenfalls natürlich für die Mathematik, wichtige personalpolitische Veränderungen an. Mit dem „Gesetz zur Änderung beamtenrechtlicher und besoldungsrechtlicher Vorschriften“ vom 7. 10. 1970 begannen die sich über mehrere Jahre hinziehenden Überleitungen. Wegen der Bedeutung dieses Gesetzes für alle hessischen Universitäten zitiere ich einen Absatz wörtlich (Artikel 3, (2)):
„Bis zum 31.August 1971 sind zu Professoren der Besoldungsgruppen H2 oder H3 (H3 entsprechend der Überleitung nach der Anlage) zu ernennen: Die Dozenten, Oberärzte, Oberassistenten, Oberingenieure, die Akademischen Räte und Akademischen Oberräte, die Studienräte im Hochschuldienst sowie die Wissenschaftlichen Assistenten, soweit sie nicht Beamte auf Lebenszeit sind und sich habilitiert haben oder soweit deren Habilitationsverfahren bis zum 20.Mai 1970 eingeleitet worden war und bis zum 31 März 1971 abgeschlossen ist.“
Die im Gesetzestext genannte „Anlage“ füge ich nicht bei. Es folgten weitere wichtige Bestimmungen, die hier nicht zitiert oder diskutiert werden sollen. Kurz nach obigem Gesetz wurde noch das „Verfahren zur Ernennung von Professoren gemäß Artikel 3, Abs.6 des Gesetzes zur Änderung beamtenrechtlicher und besoldungsrechtlicher Vorschriften vom 7. 10. 1970“ erlassen. Der Präsident teilte daraufhin allen Fachbereichen mit, wie ihre künftige Personalstruktur auszusehen habe. In seinem Schreiben an den Fachbereich Mathematik vom 2. 11. 1971 hieß es:
„[…] Die neue Personalstruktur soll in dem Fach Mathematik wie folgt aussehen: 23 Professoren, 8 Dozenten. Es wird davon ausgegangen, dass gegenwärtig 13 Professorenstellen (einschließlich Neuzuweisungen aus dem Haushalt 1971) vorhanden sind. Demgemäß bleibt für die im Fach vorhandenen 18 überleitbaren Stellen folgender Spielraum: 10 Professoren, 8 Dozenten […].“
Laut Vorlesungsverzeichnis vom Sommersemester 1971 hatte der Fachbereich zu dieser Zeit sieben Professuren und vier Dozenten, so dass eine Diskrepanz zwischen dem Schreiben des Präsidenten und der Realität bestand. Um mich nicht in Details zu verlieren, will ich nur berichten, dass der Fachbereich Mathematik ebenso wie die anderen Fachbereiche der Philipps-Universität über mehrere Jahre mit der Umsetzung des Überleitungsgesetzes beschäftigt war.
Es gab ein anderes wichtiges Problem, welches den Fachbereich in den Jahren 1971 und 1972 beschäftigte. In der Fachbereichsratssitzung vom 14. 7. 1971 war eine Diplomprüfungsordnung beschlossen worden, die unter anderem im Vordiplom Klausuren vorsah. (Im Zusammenhang mit der neuen Ordnung wurden auch Beschreibungen für die Inhalte in den beiden Anfängervorlesungen erstellt.) Diese Regelung wurde im damaligen Senat unter seinem ersten Vizepräsidenten Prof. Dr. Theodor Mahlmann außerordentlich kontrovers diskutiert. Verständlicherweise waren es hauptsächlich die studentischen Vertreter, die sich gegen sie aussprachen. Aber ihnen schlossen sich zahlreiche andere Senatsmitglieder an, bezeichneten sie als der modernen Didaktik trotz eingehender Begründungen meinerseits (1971/72 als Dekan im Senat) widersprechend und verwiesen den Entwurf immer wieder an den Fachbereich zurück.[6] Erst die Einholung eines fachdidaktischen Gutachtens des renommierten Fachdidaktikers für Mathematik Prof. Dr. Hans-Georg Steiner (Bielefeld) im Sommersemester 1972 führte dann dazu, dass die Diplomprüfungsordnung einschließlich der Klausuren in der Senatssitzung vom 10. 7. 1972 angenommen wurde. Im Zusammenhang mit den genannten Diskussionen erhielt der Fachbereich manche „konkreten“ Vorschläge, wie er seine Lehre verbessern könne. Ich erinnere mich an ein mehrseitiges Papier, in welchem uns erklärt wurde, wie man die Stammfunktion der Funktion f(x) = x mit einem didaktisch „sinnvollen“ Verfahren herleiten könne. Diskussionen dieser und ähnlicher Art haben uns in diesen Jahren viel Zeit gekostet, zumal eine Gruppe Studierender auch jede Woche in Gesprächen mit einem der Professoren versuchte, auf die Inhalte und deren Darstellung seiner Vorlesung Einfluss zu nehmen.
Zurück zu einigen wichtigen Personalfragen.
In der Fakultätssitzung vom 7. 7. 1971, also unmittelbar vor der Konstituierung des Fachbereichs Mathematik, nahm Prof. Dr. Manfred Breuer (1929-2011) den Ruf auf eine H4-Stelle, Nachfolge Peyerimhoff, an.
Auf die Entscheidung des Fachbereichs, die Stochastik auszubauen, konnte eine dafür zur Verfügung stehende (offenbar neue) H4-Stelle ausgeschrieben werden. Prof. Dr. Volker Mammitzsch, München, nahm den an ihn erteilten Ruf an (Mitteilung in der Fachbereichsratssitzung vom 3. 10. 1973). Im Zusammenhang mit dieser Professur wurde erst eine H2-Professur, nach Weggang des Stelleninhabers eine H3-Professur besetzt, so dass die Stochastik gut vertreten war, was auch zum Ausbau des Vorlesungszyklus über Stochastik führte. Zu nennen sind hier die Professoren Drygas, v. Weizsäcker und Lehn, die diese Stellen nacheinander besetzten. Längerfristig, seit 1980, war Prof. Steinebach auf dieser Stelle tätig. Der Chronologie etwas vorgreifend, sei bereits hier bemerkt, dass Steinebach 1987 einen Ruf auf eine C4-Professur an die Universität Hannover erhielt und hier nicht gehalten werden konnte. Während meiner Vizepräsidentschaft gelang es mir, eine hart umkämpfte C4-Stelle der Philipps-Universität für die Marburger Stochastik zu sichern, so dass Steinebach 1992 auf diese nach Marburg zurückberufen werden konnte.
Als Nachfolger auf die durch den Weggang von Niemeyer freigewordene Professur wurde Prof. Dr. György Targonski (1928-1998) berufen, und zwar im März 1974. Targonski kam von der Fordham University in New York nach Marburg, wo er seit 1966 als Full Professor tätig war. Er dürfte derjenige Marburger Mathematikprofessor gewesen sein, der den bewegtesten Lebenslauf, vor allem international, hinter sich hatte, bevor er nach Marburg übersiedelte. Außer Ungarisch sprach er Deutsch, Englisch, Russisch und Französisch. Man geht nicht fehl, ihn als einen echten Weltbürger zu bezeichnen. Seine Vorlesungen erfreuten sich bei den Studierenden großer Beliebtheit. Er betreute zahlreiche Abschlussarbeiten und mehrere Dissertationen.
Dem Fachbereich wurde in der Fachbereichsratssitzung vom 22. 8. 1975 mitgeteilt, dass Prof. Dr. Horst Herold, Würzburg, den Ruf auf die Nachfolge Wirsing angenommen hatte. Damit folgte ein Vertreter der Analysis auf einen solchen der Zahlentheorie. Mit Prof. Herold verbindet sich ein nach meiner Kenntnis wohl einmaliger Vorgang, was die Wahrnehmung der Aufgaben einer Professur betrifft. Herold stellte 1977 beim Hessischen Kultusminister den Antrag auf Zulassung zu einem Zweitstudium in Medizin unter Beibehaltung seiner H4-Professur. Er begründete den Antrag ausführlich mit der Absicht, Vorgänge im menschlichen Körper mit mathematischen Methoden zu untersuchen. Hierfür sei eine ganz genaue medizinische Kenntnis desselben erforderlich, die nur durch ein Studium der Medizin erworben werden könne. Mehrere Gutachten vor allem von Marburger Professoren wurden erstellt, die alle Herolds Antrag voll unterstützten. Für mich war bereits damals die positive Entscheidung des Ministeriums aus mindestens zwei Gründen schwer nachvollziehbar. Zum einen ist bekannt, dass das Medizinstudium zeitlich als sehr aufwendig gilt. Daher ist nicht verständlich, wie daneben die Aufgaben einer H4-Professur in Forschung, Lehre, Betreuung von Studierenden und Beteiligung an der Selbstverwaltung wahrgenommen werden können. Zum anderen dürfte es für das Studium bestimmter Vorgänge im menschlichen Körper wohl ausreichend sein, im interdisziplinären Gespräch mit medizinischen Fachleuten die hierfür speziell erforderlichen Kenntnisse zu erwerben. Mir ist nicht bekannt, welche Art von Abschlüssen Herr Herold in seinem Medizinstudium erreicht hat. Er schied 1994 krankheitshalber aus dem aktiven Dienst als Professor aus und verstarb 1998 im Alter von sechzig Jahren.
Der Fachbereich entschied sich für Prof. Dr. Klaus Böhmer (geb. 1936), Karlsruhe, als Nachfolger des 1976 emeritierten Prof. Avakumovic. Mit Prof. Böhmer erfuhr die angewandte Mathematik eine wesentlich stärkere Betonung als bisher. Böhmer war sowohl in der Forschung als auch in der Lehre sehr aktiv, wobei sich Letzteres deutlich in der Betreuung der Studierenden zeigte.
Dem Fachbereich war die Vermittlung fachdidaktischer Kenntnisse für seine Lehramtsstudierenden ein wichtiges Anliegen. Er konnte seit Mitte der 1970er Jahre zu Lehrveranstaltungen hierfür (mit Lehrauftrag) Studiendirektor Wolfgang Kroll (1933-2012) gewinnen, der in der ganzen Bundesrepublik als anerkannter Fachdidaktiker für Mathematik galt. Kroll begründete z. B. 1977 eine Veranstaltungsreihe zur mathematischen Fachdidaktik, zu welcher der Fachbereich regelmäßig Vertreter und Förderer dieser Disziplin nach Marburg einlud. Bemühungen um die Einrichtung einer Professur für Fachdidaktik führten zu keinem positiven Ergebnis, da es sich als schwierig erwies, eine solche zusätzliche Stelle an den Fachbereich zu bekommen. Es gelang dann schließlich, Herrn Kroll zum Honorarprofessor am Fachbereich Mathematik zu ernennen (Ernennung mit Urkunde vom 26. 2. 1981). Dankenswerterweise hat Kroll bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1998 regelmäßig Lehrveranstaltungen für Studierende des Lehramts angeboten.
Ehrenpromotion von Prof. Dr. Helmut Hasse und besondere Veranstaltungen des Fachbereichs Mathematik
Bevor ich zum letzten Berichtspunkt komme, der Einrichtung des Faches Informatik, möchte ich einige besondere Veranstaltungen des Fachbereichs nennen.
Prof. Dr. Helmut Hasse wurde 1921 in Marburg bei Prof. Dr. Kurt Hensel promoviert, so dass sich seine Promotion 1971 zum fünfzigsten Male jährte. Der Fachbereich richtete unter dem Dekanat von Prof. Wirsing am 8. und 9. 12. 1972 ein Festkolloquium für Prof. Hasse mit prominenten Vortragenden aus, und ihm wurde die Goldene Doktorurkunde verliehen. Wirsing hat wegen des gerade auch im Ausland kritisch gesehenen Verhaltens Hasses im Dritten Reich bei mehreren deutschen Professoren, die Hasse persönlich kannten, explizit um Auskunft und deren Einschätzung zu dieser schwierigen Thematik gebeten. Von Roquette kam ohne jeden Hinweis auf Hasses Aktivitäten im Dritten Reich lediglich eine Empfehlung, welche Redner man zu dem geplanten Festkolloquium einladen könnte und der Hinweis, dass man eine Festschrift anlässlich des siebzigsten Geburtstages Hasses plane. Nur Prof. Dr. Reinhold Baer, Zürich, äußerte sich in seinem Antwortschreiben vom 1. 9. 1972 ausführlicher. Er könne zwar keine verlässliche Auskunft über Hasses Beziehungen zum Nationalsozialismus geben, weise jedoch darauf hin, dass ihm Hasse 1933 eine Zuflucht in Manchester besorgt und sich auch danach in den dreißiger Jahren hilfreich um ihn gekümmert habe. Er kenne das Gerede in den USA über ihn, wisse aber nicht, ob es viel Substanz hätte. Hasse sei nicht in der Partei, allerdings ein ausgesprochener deutscher Nationalist gewesen, und er hätte ein starkes Gefühl von der von ihm zu tuenden Pflicht gehabt, was er auch nach dem Krieg betont habe. Wirsing vermerkt handschriftlich eine anonyme Bemerkung des Inhalts, dass Hasse sich „nur mit dem, was er gesagt habe“ exponiert, aber „niemandem etwas zuleide getan“ hätte. Nach Eingang der Antwortschreiben der angefragten Personen konnte Wirsing nach meiner Einschätzung diese Festveranstaltung guten Gewissens planen und durchführen.
Den 75. Geburtstag von Prof. Avakumovic am 12. 3. 1975 würdigte der Fachbereich am 6. 6. 1975 ebenfalls mit einem Festkolloquium.
Selbstverständlich war unser Fachbereich auch in die Feiern des 450-jährigen Bestehens der Philipps-Universität einbezogen. Er hat aus diesem Anlass im Sommersemester 1977 eine Reihe „allgemein verständlicher“ Vorlesungen für die interessierte Öffentlichkeit angeboten. Die offiziellen Feiern der Universität fanden vom 26. 6.-3. 7. 1977 statt. Am 17. 5. 1977 war aus diesem Anlass eine Sonderbriefmarke der Deutschen Bundespost erschienen.
Zum hundertjährigen Bestehen des „Mathematischen Seminars“ hielt Prof. Gundlach am 25. 10. 1985, wie bereits eingangs erwähnt, einen ausführlichen Vortrag über die Geschichte der Mathematik in Marburg.
Vom 3.-7. 9. 1984 fand unter Leitung von Prof. Mammitzsch das „16th European Meeting of Statisticians“ in Marburg statt.
Der damalige Dekan, Prof. Steinebach, konnte im März 1984 bekannt geben, dass sich die DMV für die Einladung, ihre Jahrestagung 1986 in Marburg durchzuführen, bedanke und dieselbe annehme. Ich hatte mich bereit erklärt, die Tagungsleitung zu übernehmen. Völlig neu war für mich, dass ich auch selbst für die Finanzierung der Tagung zu sorgen hatte. Der von der DMV erhobene Tagungsbeitrag reichte für die Deckung der Unkosten bei weitem nicht aus. Das bedeutete, wie wohl nicht näher ausgeführt werden muss, sehr viel ungewohnte Arbeit. Die Tagung fand, wie üblich, im Herbst (1986) statt und erfreute sich einer ungewöhnlich großen Zahl von Teilnehmern. Die Marburger Hotelkapazität bereitete hierbei ein beträchtliches Problem.
Beziehungen des Fachbereichs Mathematik zur DDR und zu Osteuropa
Berichten möchte ich noch über zwei kleinere Ereignisse, die einen Blick auf die damalige politische Situation im Zusammenhang mit der DDR gestatten.
Prof. Dr. Hans Reichardt (1908-1991) war am 6. 12. 1933 in Marburg promoviert worden, sein Doktorvater Prof. Hasse. In seiner Sitzung vom 14. 12. 1983 beschloss der Fachbereich, Prof. Reichardt die Goldene Doktorurkunde während einer Zeremonie in der Humboldt-Universität durch unseren Dekan persönlich überreichen zu lassen. Dies wurde von der Humboldt-Universität abgelehnt: Man solle die Urkunde auf dem Postwege zustellen. Prof. Reichardt bedankte sich später für die Verleihung der Goldenen Doktorurkunde. Wohl keinem unserer Fachbereichsmitglieder war zu dem Zeitpunkt klar, welche politische Bedeutung Reichardt in der DDR hatte. Reichardt war von 1946-1952 in der Sowjetunion tätig, wo er an der Entwicklung der Raketentechnik mitarbeitete. Ab 1952 hatte er bis zu seiner Emeritierung eine Professur für Mathematik an der Humboldt-Universität inne. Er wurde 1961 und 1966 mit dem Nationalpreis für Wissenschaft und Technik der DDR und 1960 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Bronze der DDR ausgezeichnet.
Ich selbst war zweimal von Prof. Dr. Ekkehard Krätzel (geb. 1935), einem Zahlentheoretiker der Friedrich-Schiller-Universität Jena, zu Kolloquiumsvorträgen eingeladen. Selbstverständlich lud ich ihn auch nach Marburg ein, zumal er auf demselben Spezialgebiet wie der Marburger Prof. Dr. Peter-Georg Schmidt arbeitete. Es bedurfte mehrjähriger Verhandlungen in Jena, bis er eine solche Einladung annehmen durfte. Schließlich konnte er vom 3.-7. 9. 1984 nach Marburg reisen, wobei man ihm allerdings einen umständlichen Reiseweg mit der Bahn detailliert vorschrieb. Erst nach der Wende habe ich erfahren, dass der von mir als sehr bescheiden, zurückhaltend und eher unauffällig eingeschätzte Kollege eine hohe gewerkschaftliche (und damit wohl auch politische) Funktion in seiner Universität bekleidete. (Vielleicht sollte man überlegen, auch die politischen Aktivitäten von Professoren in der DDR genauer zu dokumentieren.)
Im Zusammenhang mit diesen zwei Vorkommnissen ist es interessant zu wissen, dass die polnischen Kollegen in diesen Jahren keine Probleme hatten, nach Marburg und Oberwolfach zu reisen. So konnte beispielsweise der Zahlentheoretiker Prof. Dr. Wladyslaw Narkiewicz (geb. 1936) aus Breslau die Vertretung einer Professur in Marburg zu Beginn der 1980er Jahre annehmen. Polnische Mathematiker nahmen regelmäßig an den Fachtagungen in Oberwolfach teil, während ich dort nie einen Kollegen aus der DDR getroffen habe. Für sie war selbst eine Teilnahme an internationalen Kongressen in Ungarn schwierig.
Begründung der Informatik
Bis zum Anfang der 1980er Jahre gab es an der Philipps-Universität keine Professur für Informatik. 1956 diskutierte man in der Philosophischen Fakultät im Zusammenhang mit dem Angebot der DFG, die Anschaffung eines Elektronenrechners zu finanzieren, erstmals vage in dieser Richtung. Neben anderen sprach Arnold Schmidt sich mit dem Argument, die Universität Marburg könne einen solchen Rechner nicht auslasten, dagegen aus. Weitere Diskussionen über die Schaffung einer Zentralen Rechenanlage folgten 1961. Wie bereits oben ausgeführt, bestand die DFG auf der Einrichtung einer Professur für Instrumentelle und Angewandte Mathematik als Voraussetzung für die Finanzierung eines Rechners. In den siebziger Jahren wurden regelmäßig Veranstaltungen zum Erlernen von Programmiersprachen, vor allem FORTRAN, angeboten. Der Fachbereich konnte sich trotz entsprechender Entwicklungen an anderen bundesdeutschen Universitäten und Hochschulen nicht entschließen, eine Professur für Informatik einzurichten. Im wesentlichen zwei Gründe sprachen aus seiner Sicht dagegen. Man war damals von der Bedeutung des Fachgebietes Informatik nicht überzeugt und sah sie schon gar nicht gleichwertig zur Mathematik. Um dieses Fach einzurichten, wäre es außerdem erforderlich gewesen, hierfür eine Professur des Fachbereichs Mathematik zu „opfern“. Im Sommersemester 1980 wurde in der Fachbereichsratssitzung am 9. 7. unter dem Dekan Steinebach ein erster Antrag auf die Anhebung einer C2-Stelle auf eine C3-Stelle für Informatik gestellt, und im Februar 1981 in meinem Dekanat ergab sich aus Gesprächen mit dem Präsidium, dass eine für den Abzug zum Ausbau der Universität/Gesamthochschule Kassel vorgesehene C3-Stelle für Informatik verwandt und damit beim Fachbereich Mathematik bleiben könne. (Bereits im Sommersemester 1976 hatte der Fachbereich eine H2-Stelle zu diesem Zweck abgeben müssen. Dies war eine von siebzehn Stellen, die die Philipps-Universität aus diesem Grunde nach Kassel verlor.) Zu Beginn der 1980er Jahre kam der Fachbereich Mathematik dem Bedürfnis und der Notwendigkeit nach einem Angebot von Lehrveranstaltungen im Bereich der Informatik durch Erteilung von Lehraufträgen nach. Mehrfach hielt beispielsweise Dr. Jürgen Radloff, späterer Leiter des Hochschulrechenzentrums, Vorlesungen über die „Einführung in die Informatik“. Im Wintersemester 1983 wurde eine vorläufige Prüfungsordnung für einen Ergänzungsstudiengang „Grundzüge der Datenverarbeitung“ erstellt, nachdem im vorhergehenden Sommersemester ein sog. „Zusatzzertifikat Datenverarbeitung“, eingeführt worden war, intendiert hauptsächlich für Geisteswissenschaftler. Schon hier soll gesagt sein, dass der Ergänzungsstudiengang sehr viele Jahre angeboten wurde, besonders intensiv nach Besetzung der ersten Professur für Informatik, und es wurde nach entsprechenden Prüfungen eine Vielzahl von Zertifikaten erteilt.
Der Erstellung einer ersten C3/C4-Liste für Informatik gingen verhältnismäßig intensive Überlegungen voraus, wie man einen geeigneten Kandidaten finden könne. Da ich mehrfach die Angebote der Firma Siemens in München angenommen hatte, die Firma mit Studierenden zu besuchen, hatte sich ein gewisser, wenngleich schwacher Kontakt dorthin entwickelt. Als ich bei einem der Besuche berichtete, dass wir eine Professur für Informatik in Marburg besetzen wollten, zeigte sich dort bei einigen leitenden Angestellten durchaus Interesse daran. In Absprache mit dem damaligen Präsidenten Prof. Dr. Kröll führte ich dann ein Gespräch oder auch zwei mit Interessenten in München. Die Möglichkeit, eine auch fachlich erfahrene leitende Persönlichkeit für eine solche Professur zu gewinnen, zerschlug sich allerdings sehr schnell, nachdem sich die betreffenden Personen von ihren anscheinend wenig realistischen Vorstellungen über die Bezüge eines Professors lösen mussten. Dennoch ist es gelungen, im Fachbereich während seiner Sitzung am 20. 6. 1984 eine Liste für die zu besetzende Professur zu verabschieden, an der primo loco Dr. Manfred Sommer von der Firma Siemens stand. Laut Protokoll der Fachbereichsratssitzung vom 24. 10. 1984 nahm Herr Sommer den Ruf an und begann bereits im November 1984 mit seiner Lehrtätigkeit. Es sollte nicht vergessen werden, dass die Besetzung dieser Professur laut Ausschreibung derselben auf sechs Jahre befristet war. Er hatte sich für diesen Zeitraum von der Firma Siemens beurlauben lassen. Herr Sommer wurde als C4-Professor auf Zeit eingestellt.
Sehr schnell, schon im Januar 1985, stellte der Fachbereich unter inhaltlicher Federführung von Herrn Sommer einen Antrag auf Zuweisung von Bundesmitteln nach dem Hochschulbauförderungsgesetz zum Aufbau eines Rechnernetzes. Noch im März 1985 wurde die Einführung eines Nebenfachs Informatik samt zugehörigen Änderungen der Diplomprüfungsordnung genehmigt. Im März 1987 konnte der Fachbereich eine zweite C4-Professur für Informatik ausschreiben. Sie wurde mit Dr. Wolfgang Hesse von der Firma Softlab in München besetzt. Im Dezember 1987 wurde ein Antrag auf „Entfristung“ der von Herrn Sommer bekleideten Informatikprofessur gestellt und auch genehmigt, so dass er ab diesem Zeitpunkt ein ganz „regulärer“ C4-Professor war. Einen späteren Ruf nach Köln lehnte Sommer ab.
Schlussbemerkungen
Mein letztes Dekanat trat ich im Wintersemester 1988/89 an, und ich musste es vorzeitig bereits im April 1989 beenden, da ich zu dem Zeitpunkt vom Konvent zum Vizepräsidenten der Philipps-Universität gewählt wurde. Während der vier Jahre (1989-1993) meiner Vizepräsidentschaft behielt ich weiterhin die vollen Lehrverpflichtungen am Fachbereich. Ich will bezüglich dieser Zeit zur Informatik nur bemerken, dass es gelungen ist, das Interesse des damaligen Präsidenten Prof. Dr. Simon für das Fach zu gewinnen. Er setzte sich in Verhandlungen mit dem Hessischen Wissenschaftsministerium dafür ein, dass diesem Fach zusätzliche Stellen zugewiesen wurden, die dann ebenfalls erfolgreich besetzt werden konnten.
Ich selbst bin mit meiner Wahl zum Präsidenten der Philipps-Universität Mitte 1994 aus dem Fachbereich Mathematik ausgeschieden. Ich halte es nicht für angebracht, aus meiner zehnjährigen Zeit im Präsidium unserer Universität zu berichten, und deswegen schließe ich diesen Bericht im Wesentlichen mit dem Jahr 1989.
Für den Abriss der Geschichte des Faches Mathematik 1945-1989 wurden folgende Akten benutzt:
Bestand 305a Rektor und Senat:
UniA Marburg, 305 a, Nr. 4217: Prof. Dr. Vojislav Avakumovic (1910-1990), Personalakte, 1963-1966
UniA Marburg, 305 a, Nr. 4386: Prof. Dr. Kurt Reidemeister (1893-1971), Personalakte, 1934-1955
UniA Marburg, 305 a, Nr. 4411: Prof. Dr. Arnold Schmidt (1902-1967), Personalakte, 1937-1964
UniA Marburg, 305 a, Nr. 4481: Prof. Dr. Hans-Egon Richert (1924-1993), Personalakte, 1962-1966
Bestand 305f Universitätsleitung/Präsidium:
UniA Marburg, 305 f, Nr. 234-240: Beamtengesetzgebung des Landes Hessen, Überleitung, 1956-1972
UniA Marburg, 305 f, Nr. 241: Schriftverkehr, Ernennungen, Verwaltungsrat, Protokolle, 1970-1971
Bestand 307d Philosophische Fakultät:
UniA Marburg, 305 f, Nr. 5469-5471: Senatssitzungen WS 1970/71 - SS 1974
UniA Marburg, 307 d, Nr. 2327: Die Besetzung des Lehrstuhls für Mathematik und Astronomie, 1891-1934
UniA Marburg, 307 d, Nr. 2426: Herbert Grötzsch (1902-1993), 1946-1948
UniA Marburg, 307 d, Nr. 2837: Das Mathematische Institut, 1934-1948
UniA Marburg, 307 d, Nr. 3580: Fakultätssitzungen, 1957-1960
Bestand 307e Naturwissenschaftliche Fakultät:
UniA Marburg, 307 e, Nr. 467: Wiederbesetzung des zweiten mathematischen Lehrstuhls (Nachfolge Prof. Eichler), 1958-1959
UniA Marburg, 307 e, Nr. 477: Prof. Dr. Alexander Peyerimhoff (1926-1996), Personalakte, 1959-1970
UniA Marburg, 307 e, Nr. 479: Prof. Dr. Arnold Schmidt (1902-1967), Personalakte, 1945-1967
UniA Marburg, 307 e, Nr. 629: Sitzungen der Naturwissenschaftlichen Abteilung vor Einrichtung der Naturwissenschaftlichen Fakultät, 1951-1964
UniA Marburg, 307 e, Nr. 630-639: Fakultätssitzungen SS 1964 – SS 1968
UniA Marburg, 307 e, Nr. 768: Berufung von Prof. Dr. Vojislav Avakumovic (1910-1990) auf den neu geschaffenen Lehrstuhl IV, 1963-1969
UniA Marburg, 307 e, Nr. 769: Berufung von Prof. Dr. Horst Niemeyer (1931-2007) auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Instrumentelle und Angewandte Mathematik1965-1968
UniA Marburg, 307 e, Nr. 770: Berufung von Prof. Dr. Hans-Egon Richert (1924-1993) auf den neugeschaffenen Lehrstuhl III, 1962-1969
UniA Marburg, 307 e, Nr. 771: Prof. Dr. Hans-Egon Richert (1924-1993), Personalakte, 1962-1971
UniA Marburg, 307 e, Nr. 772: Prof. Dr. Horst Niemeyer (1931-2007), Personalakte, 1965-1973
UniA Marburg, 307 e, Nr. 773: Kommission zur Überprüfung der alten Fakultätsbeschlüsse, 1966-1967
UniA Marburg, 307 e, Nr. 775-782: Fakultätssitzungen, Protokolle, WS 1968/69 – SS 1971
UniA Marburg, 307 e, Nr. 786: Bildung der Fachbereiche, 1968-1971
UniA Marburg, 307 e, Nr. 787: Kommission "Aufgaben der Sektionen", 1969
UniA Marburg, 307 e, Nr. 788: Aufgliederung der Fakultät in Sektionen, 1969
UniA Marburg, 307 e, Nr. 944: Sektion Mathematik (enthält vor alle, Protokolle der Sektionsversammlungen)
Bestand 307/12 Fachbereich Mathematik und Informatik:
UniA Marburg, 307/12, Nr. 177: Prof. Dr. Vojislav Gregorius Avakumovic (1910-1990), 1966-1976, 1990
UniA Marburg, 307/12, Nr. 178: Berufung von Prof. Dr. Horst Herold (1938-1998) auf eine Professur für Reine Mathematik als Nachfolger von Prof. Dr. Eduard Wirsing, 1973-1999
UniA Marburg, 307/12, Nr. 179: Prof. Dr. Alexander Peyerimhoff (1926-1996), 1970
UniA Marburg, 307/12, Nr. 180: Prof. Dr. Peter Georg Schmidt (1930-2007), Habilitation und Ernennung zum Professor sowie Personalakte, 1965-2007
UniA Marburg, 307/12, Nr. 181: Berufung von Prof. Dr. György Targonski (1928-1998) als Nachfolger von Prof. Dr. Horst Niemeyer und Personalakte, 1973-1998
UniA Marburg, 307/12, Nr. 182-187: Fachbereichskonferenz bzw. Fachbereichsrat, Protokolle, 14. 7. 1971 – 9. 12. 1987
UniA Marburg, 307/12, Nr. 191: Kolloquium anlässlich des Goldenen Doktorjubiläums von Prof. Dr. Helmut Hasse am 8. Dezember 1972
Bestand 310 Kurator/Verwaltungsdirektor/Kanzler:
UniA Marburg, 310, Nr. 2663: Herbert Grötzsch (1902-1993), 1948
UniA Marburg, 310, Nr. 9970: Mathematisches Institut, 1956-1973
UniA Marburg, 310, Nr. 10053: Neubau Geowissenschaften, ..., Rechenzentrum, Lahnberge, 1964-1969
UniA Marburg, 310, Nr. 10054: Neubau Geowissenschaften, ..., Rechenzentrum, Lahnberge, 1970
UniA Marburg, 310, Nr. 11148: Mathematisches Institut, 1955-1977
Bestand 312/3/37 Nachlass Samson B. Knoll
UniA Marburg, 312/3/37, Nr. 58: Fotografien aus der Marburger Zeit Knolls, 1946
UniA Marburg, 312/3/37, Nr. 140: Korrespondenz mit Kurt Reidemeister, 1947
Bestand 312/6 Vorlesungsverzeichnisse:
UniA Marburg, 312/6, Nr. 12, 14-29, 96-98 Vorlesungsverzeichnisse SoSe 1946 – SoSe 1949, SoSe 1951 - SoSe1971
Catalogus Professorum Academiae Marburgensis. Die akademischen Lehrer der Philipps-Universität Marburg, Zweiter Band: Von 1911 bis 1971, Dritter Band: Von 1971 bis 1991, 2 Teile, bearb. von Inge Auerbach (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 15, 2-3/1+2), Marburg 1979 und 2000/2001
Dieser Abriss der Geschichte des Faches Mathematik in den 45 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wäre ohne die Hilfe der Leiterin des Universitätsarchivs, Frau Dr. Katharina Schaal, nicht geschrieben worden. Ich danke ihr für zahlreiche und vielfältige Hinweise auf die relevanten Akten und die Zur-Verfügung-Stellung derselben.
Marburg, März 2018
[1] Die Vorträge können in erweiterter Form auf der Homepage des Fachbereichs Mathematik und Informatik nachgelesen werden.
[2] Man findet ihn im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt, HSTAD Q4 8/178-2/12 mit Digitalisaten.
[3] Ingrid Krüger-Bulcke, Universität im Zwielicht, Der Zustand der Universität Marburg und ihre Erneuerungsbemühungen unter amerikanischem Einfluß 1945/46, in: Kontinuität und Neuanfang in der Hochschulmedizin nach 1945, hg. von Gerhard Aumüller, Hans Lauer und Helmut Remschmidt, Marburg 1997, S. 13-36.
[4] Der Nachlass befindet sich als Bestand 312/3/37 im Marburger Universitätsarchiv.
[5] In: Jahresbericht der DMV, Band 99, Heft 3, 1997.
[6] Vgl. z. B. die Diskussion in der Senatssitzung vom 15. 11. 1971. Eine die DPO betreffende Passage des Protokolls habe ich in der Fachbereichssitzung vom 24. 11. 1971 bekannt gegeben.