27.08.2020 Berechnung der Wanderung nicht-linearer optischer Pulse durch einen Kristall
Zusammenarbeit von Forscher_innen aus Marburg und Arizona ermöglicht die theoretische Beschreibung der Erzeugung und Propagation hoher Harmonischer in Halbleitern
Erstmals ist es durch die Zusammenarbeit von Physiker_innen der Philipps-Universität Marburg und Mathematikern vom Wyant College of Optical Sciences der University of Arizona gelungen, die Propagation von Lichtwellen nach nicht-resonanter Starkfeldanregung von Halbleitern theoretisch zu untersuchen.
Im Bereich der Starkfeldphysik spielen Effekte der nicht-linearen Optik eine Rolle, die mit dem intuitiven Wissen über optische Anregungen nicht zu erklären sind. Umso spannender sind solche Effekte nach Anregung mit hochenergetischen Laser-Pulsen in Halbleiterkristallen für die Forscher_innen. Zum theoretischen Verständnis ist hierzu allerdings eine quantenphysikalische Beschreibung des Vielteilchensystems des Materials notwendig. Die Theorie der Halbleiter-Bloch-Gleichungen (semiconductor Bloch equations, SBE), ermöglicht diese Beschreibung. Maßgeblich beteiligt an der Auswertung der SBE waren die Doktorandin Maria K. Hagen, Dr. Ulich Huttner und Prof. Stephan W. Koch, der in Marburg die Forschungsgruppe Theoretische Halbleiterphysik leitet.
Ein spannendes Phänomen der nicht-linearen Optik in starken Feldern ist zum Beispiel die Erzeugung sogenannter hoher Harmonischer (high harmonic generation, HHG) durch Anregung mit Laserlicht im Terahertzbereich. Hierbei sendet der angeregte Halbleiterkristall Licht aus, obwohl die Anregung stark nicht-resonant ist, d. h. die Frequenz des verwendeten Anregungs-Lasers eigentlich nicht ausreicht, um die Bandlückenenergie zu überbrücken. Das ausgesendete Licht zeigt außerdem ein höchst ungewöhnliches, charakteristisches Frequenzspektum: Es besteht aus ganzzahligen Vielfachen ("hohen Harmonischen") der Anregungsfrequenz. Das emittierte kohärente Licht kann somit Anteile enthalten, die das bis zu 100-fache der Anregungsfrequenz aufweisen. Viele Aspekte der Erzeugung hoher Harmonischer, die in Halbleitern erst vor knapp 10 Jahren experimentell nachgewiesen wurde, konnten bislang von Physiker_innen aus Marburg mit Hilfe der SBE erfolgreich beschrieben werden. Dennoch sind auf dem noch relativ jungen Forschungsgebiet noch lange nicht alle Fragen zufriedenstellend beantwortet.
Um die lokale Theorie der SBE zur Beschreibung ausgedehnter Kristalle weiter zu entwickeln, taten sich die Physiker_innen aus Marburg deshalb mit der Forschungsgruppe um Prof. Jerome V. Moloney der University of Arizona zusammen. Die Arbeitsgruppe aus den USA entwickelte eine Gleichung zur Simulation unidirektionaler Propagation von nichtlinearen optischen Pulsen (unidirectional pulse propagation equation, UPPE). Erst durch die iterative Kopplung der beiden Theorien aus Marburg und Arizona ist es möglich, das Verhalten des emittierten Lichtes während seiner Wanderung, also Propagation, durch den ausgedehnten Kristall zu beschreiben. Die Lösung dieser gekoppelten Gleichungssysteme ist numerisch extrem aufwendig und ist nur unter Einsatz spezieller Computer und Programmiertechniken möglich. "Eine Propagation des Pulses über 600 μm für ein hochaufgelöstes Emissionsspektrum, das einen breiten Frequenzbereich abdeckt, benötigt auf einem 2.2 GHz Intel Xeon Prozessor ungefähr acht einhalb Tage Rechenzeit." illustriert Isak Kilen, der Erstautor der Publikation, den technischen Aufwand. Kaum verwunderlich also, dass eine derart aufwendige systematische Studie noch bis vor kurzem kaum denkbar war und nun einen Platz in der neuesten Ausgabe der Fachzeitschrift Physical Review Letters findet.
Das Ergebnis der theoretischen Studie: Die Propagation des Lichtes durch den Kristall wirkt wie eine effektive Dephasierung, also ein Abklingen der mikroskopischen Polarisation zwischen den Quantenzuständen. Diese Polarisation entsteht durch die Anregung mit Laserlicht und ist notwendig, damit elektrische Übergänge zwischen den jeweiligen Zuständen stattfinden können. Das so entdeckte Phänomen wurde von den Autor_innen "Propagations-induzierte Dephasierung" (propagation induced dephasing, PID) getauft und klärt endlich eine bereits viel diskutierte Frage. Um theoretische Emissionsspektren mit experimentellen Untersuchungen zu vereinbaren, mussten bislang stets sehr kurze Abklingzeiten als phänomenologische Beschreibung in die Theorie implementiert werden. Diese sehr kurzen Zeitskalen, auf denen mikroskopische Polarisationen abklingen, waren aber physikalisch durch z.B. Stöße nicht zu erklären. Die PID liefert hierfür nun endlich eine plausible Erklärung und ermöglicht erstmals eine systematische Verwendung des phänomenologischen Parameters: Der Effekt der Propagation durch einen endlich ausgedehnten Kristall kann mittels einer effektiven Abklingzeit in die bestehende lokale Vielteilchen-Theorie integriert werden.
Professor Dr. Stephan W. Koch lehrt Theoretische Halbleiterphysik an der Philipps-Universität. Er ist Träger des Leibniz-Preises der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des höchst dotierten Wissenschaftspreises im deutschsprachigen Raum, und gehört mit seiner Arbeitsgruppe dem Marburger Sonderforschungsbereich 1083 der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Thema "Struktur und Dynamik innerer Grenzflächen" an.
Professor Dr. Jerome V. Moloney ist Direktor des Arizona Center for Mathematical Sciences und lehrt Mathematik am Wyant College of Optical Sciences der University of Arizona.
Die der Veröffentlichung zugrunde liegende Arbeit der Gruppe aus Marburg wurde durch den Sonderforschungsbereich 1083 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziell gefördert. Die Arbeit der Forschungsgruppe aus Arizona wurde finanziell unterstützt durch: Air Force Office of Scientific Research, Award No. FA9550-17-1-0246 und DURIP instrumentation Grant No. FA9550-18-1-0368
Originalveröffentlichung: Isak Kilen, Miroslav Kolesik, Jorg Hader, Jerome V. Moloney, Ulrich Huttner, Maria K. Hagen, and Stephan W. Koch: Propagation Induced Dephasing in Semiconductor High-Harmonic Generation, Physical Review Letters, DOI: https://doi.org/10.1103/PhysRevLett.125.083901