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Vortrag: Was sind diagnostische Entitäten? Vom Universalienstreit zur Tumorbiologie

Wissenschaftshistorisches Kolloquium - Institut für Geschichte der Pharmazie und Medizin (i. Gr.)

Veranstaltungsdaten

06. Juli 2022 18:00 – 06. Juli 2022 20:00
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Hörsaal des Institutsgebäudes, Roter Graben 10, 35037 Marburg

Der Vortrag wird zusätzlich per WebEx gestreamt, so dass eine Online-Teilnahme ebenfalls möglich ist. Die Zugangsdaten erhalten Sie auf Anfrage per E-Mail in unserem

Abstract

In Philosophie und Theologie wird seit fast 2500 Jahren diskutiert, ob allgemeinen Begriffen eine eigene Wirklichkeit zukommt ("Realisten"), oder ob wir sie uns lediglich zurechtlegen, um uns das Verständnis der Welt zu erleichtern bzw. praktische Ziele zu erreichen ("Nominalisten"). Ich werde dieses Raster auf diagnostische Entitäten anwenden, d.h. die Kategorien, mit denen Ärztinnen die Beschwerden ihrer Patientinnen einordnen und Therapien begründen.

Im Gegensatz zu den meisten historischen und aktuellen Positionen gehe ich von den Beschwerden der Bürgerinnen und dem realen Versorgungsgeschehen aus (Ecology of Care). Mit der "Turnhallen-Analogie" möchte ich deutlich machen, dass Diagnosen in der Medizin auch heute noch unscharf begrenzt, strittig, wenig reliabel und in steter Veränderung begriffen sind. Ein Beispiel: aktuelle onkologische Therapien orientieren sich an tumorbiologischen Charakteristika statt an der Organlokalisation. - Diagnosen werden also nicht "gefunden", sondern "gemacht", was einer nominalistischen Position entspricht. Sie sind "provisional formulae designed for action" (Cohen) oder "Fiktionen", die im Alltag nützlich sind (Koch). Ein gewichtiger Teil aller Beschwerden lässt sich medizinisch nicht plausibel einordnen.

Diagnostische Entitäten sind zentral für die historische, Versorgungs- und klinische Forschung, die Behandlung in Praxis und Klinik sowie das Sozialsystem. Auch wenn Heilberufler pragmatisch orientiert sind, lohnt sich eine Reflexion dieser Begriffe. Als handlungsleitende Theorien ("theory-in-use"; im Gegensatz zu vertretenen ["espoused theories"]) können sie helfen, Fehlentwicklungen moderner Gesundheitssysteme und der medizinischen Ausbildung zu verstehen.

Referierende

Prof. Dr. Norbert Donner-Banzhoff, Marburg

Veranstalter

Institut für Geschichte der Pharmazie und Medizin (i. Gr.)