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Wissenschaftshistorisches Kolloquium - WiSe 24/25

Stand der Information: Oktober 2024

Wir laden Sie wieder herzlich zu unserem „Wissenschaftshistorischen Kolloquium“ ein. Die Veranstaltungen finden immer mittwochs um 18:15 Uhr statt und können vor Ort im Hörsaal des Instituts für Geschichte der Pharmazie und Medizin (Roter Graben 10, 35037 Marburg) und online via BigBlueButton mitverfolgt werden. Bei Interesse an einer Online-Teilnahme wenden Sie sich bitte an unser .

23.10.2024

Dr. Dr. Lea Münch, Universität Magdeburg

Psychiatrieerfahrungen im Elsass. Lebensgeschichten zwischen Strasbourg und Hadamar im Nationalsozialismus

  • Abstract

    Wenngleich die Geschichte der Psychiatrie inzwischen ganze Bibliotheken füllt, beschäftigt sich diese Studie mit einem bisher fast noch unerforschten Thema – der Frage des Funktionierens der psychiatrischen Versorgung in dem vielgestaltigen Grenzraum Elsass, das 1940 vom nationalsozialistischen Deutschland de facto annektiert wurde. Unbeleuchtet blieb bis heute vor allem die Perspektiven derjenigen, die dortige Psychiatrie als Patient*innen erlebt haben. Die Lebenswege und Lebenswelten von fünf Protagonist*innen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, werden anhand ihres Weges in die Institutionen, dem dortigen Anstaltsalltag und ihrem Lebensweg danach detailliert nachgezeichnet. Diese mikrohistorischen Patientengeschichten stehen dabei für sich selbst und sind gleichzeitig eine Konkretisierung und alltägliche Darstellung dessen, was es bedeutete in einer psychiatrischen Einrichtung unter deutscher Okkupation gelebt zu haben. Umgekehrt, erhellen diese Biographien aber auch das Funktionieren der psychiatrischen Einrichtungen. So entsteht eine Form der Institutionsgeschichte von innen – erzählt durch die Augen der Patient*innen, wobei auch ihre Angehörigen zu Wort kommen. Durch Kontakte zu Angehörigen der 1940–1944 behandelten Personen streift die Arbeit die Frage der Rezeption und des Weiterwirkens psychiatrischer Patientenerfahrungen in der zweiten Familiengeneration und reicht somit bis in die heutige Gegenwart. 

30.10.2024

Dr. Natalia Bachour, Universität Zürich

Doctoren, Wundärzte und Pfuscher: Die Ärzte im Osmanischen Reich um 1800 nach der Beschreibung von Ulrich Jasper Seetzen.

  • Abstract

    Der Mediziner und Naturforscher Ulrich Jasper Seetzen (1767–1811) trat am 13. Juni 1802 von seiner Heimatstadt Jever aus eine Reise in den Orient an. Sein Ziel war es, Nordafrika von Ost nach West zu durchqueren. Er reiste über Istanbul nach Aleppo, Damaskus, Beirut, Jerusalem, Kairo, Mekka und in den Jemen, wo er im September 1811 unter ungeklärten Umständen verstarb. Während der Reise führte der wissbegierige Aufklärer mit unermüdlichem Fleiß Tagebücher, in denen er seine naturwissenschaftlichen, völkerkundlichen und alltagsbezogenen Beobachtungen ausführlich niederschrieb. Da Seetzen während der Reise zeitweise als Arzt praktizierte, sind seine Tagebücher wichtige Quellen zur Erforschung der medizinischen Kultur in den von ihm bereisten Gebieten des Osmanischen Reiches. Das Bild der Ärzte, das Seetzen zeichnet, soll im Vortrag skizziert und kontextualisiert werden. Was für Ärzte treten in Seetzens Beschreibungen auf, und welche nicht? Welche Kategorisierungen lassen sich feststellen? Nach welchen Kriterien erfolgte diese Differenzierung? Welche Aspekte ihres medizinischen Handelns stellt Seetzen in den Vordergrund, und welche treten in den Hintergrund?

    Natalia Bachour studierte Pharmazie und Translationswissenschaft an den Universitäten Damaskus, Kiel, Heidelberg und Mainz. Nach der Promotion in Geschichte der Pharmazie an der Universität Heidelberg über die Rezeption des Paracelsismus im Osmanischen Reich des 17. und 18. Jahrhunderts arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Asien-Orient-Institut der Universität Zürich.

13.11.2024

Dr. Ananda Chopra, Ayurveda-Klinik Kassel

Moderne Medizin und traditionelles Wissen im zeitgenössischen Āyurveda – Anatomie und Geschichtsbild bei Gaṇanātha Sena (1877–1945)

  • Abstract

    1913 veröffentlicht Gaṇanātha Sena (1877–1945) den ersten Band eines dreibändigen Anatomie-Lehrbuchs in Sanskrit für Āyurveda-Studenten mit dem Titel Pratyakṣa-Śārīram (etwa: „Anatomie durch Wahrnehmung“). In dem ausführlichen Vorwort dieses Werkes erläutert Gaṇanātha nicht nur sein Vorgehen bei der Entwicklung einer anatomischen Nomenklatur in Sanskrit, welche moderne medizinische Erkenntnisse integriert, sondern verdeutlicht auch, dass er damit eigentlich nur das Wissen der alten āyurvedischen Gelehrten wiederentdeckt. Begründet wird diese Behauptung mit einer kurzen Darstellung der historischen Entwicklung des Āyurveda, die durch eine eigentümliche Geschichtsauffassung gekennzeichnet ist.

    Āyurveda, die traditionelle gelehrte Heilkunde Südasiens, ist heutzutage in Indien und anderen Ländern Südasiens ein professionalisiertes und institutionalisiertes Medizinsystem. Als traditionelle Wissenschaft blickt der Āyurveda auf eine umfangreiche Fachliteratur zurück, die in den vergangenen zweitausend Jahren vor allem in Sanskrit, der altindischen Hochsprache, verfasst wurde. Heutige Āyurveda-Ärzt*innen berufen sich in Lehre, Praxis und Forschung stets auf diese traditionelle Fachliteratur. Gleichzeitig stellt man aber auch fest, dass die heutige Ausprägung des Āyurveda Erkenntnisse der modernen Medizin und Naturwissenschaft integriert. Die Formierung des zeitgenössischen Āyurveda war - und ist auch heute noch - vor allem gekennzeichnet durch eine Auseinandersetzung mit der modernen Medizin und Naturwissenschaft.

    Gaṇanātha Sena war als Autor und Arzt aber auch als streitbarer Standespolitiker in der āyurvedischen Ärzteschaft eine prägende Gestalt für den Āyurveda in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Sohn eines Āyurveda-Arztes durchlief er zunächst ein Studium des Sanskrit und des Āyurveda bevor er in Calcutta (heute: Kolkata) auch moderne Medizin studierte. In seiner besonderen Geschichtsauffassung, mit welcher er sein Vorgehen bei der Integration moderner Erkenntnisse in den Āyurveda rechtfertigt, werden sowohl Bezüge zu kulturhistorischen Entwicklungen im kolonialisierten Indien ("Bengal Renaissance", Kopf 1969) sichtbar als auch klassische indische Anschauungen zum Wesen von Wissenschaft.

11.12.2024

Dr. Marion Hulverscheidt, Universität Kassel

Friedrich Karl Kleine (1869–1951) – ein wissenschaftliches Leben von Kolonialismus bis zum Nationalsozialismus.

  • Abstract

    In diesem Vortrag geht es nicht um das Leben eines großen deutschen Mannes. Vielmehr werden an die Biographie, die wissenschaftlichen Publikationen und die Nachlass-Splitter von F. K. Kleine Fragen gestellt nach dessen Motivation, Haltung und Beweglichkeit in politischen und wissenschaftlichen Fragen seiner Zeit. Über Herangehensweisen und Erkenntnismöglichkeiten einer Persona im Windschatten von Robert Koch und Sir David Bruce wird ebenso reflektiert wie über Kleines Reisen und sein Verhältnis zu Tieren und Menschen. Erkenntnisziel ist eine aufgespannte Multiperspektivität, in der die unterschiedlichen Facetten einer Person und ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung berücksichtigt werden.

15.1.2025

Dr. Christiane Staiger

Die Pharmazie in der Unterhaltungsmusik – Beispiele aus einer pharmazeutischen Playlist.

  • Abstract

    Viele Unterhaltungsmusikstücke haben einen Bezug zur Pharmazie, zu Arzneimitteln oder der Apotheke. Bislang wurden über 850 Titel identifiziert und in einer „pharmacy playlist“ gesammelt. Die Rolle des Apothekers und die Institution der Apotheke werden in den Musikstücken ebenso besungen wie verschiedene Arzneimittel aus vielfältigen Arzneistoffgruppen: von Antidepressiva über Kontrazeptiva bis zu Antimykotika. Zahlreiche Darreichungsformen und Aspekte der Arzneimittelherstellung, z.B. die Perkolation, sind ebenfalls vertreten. Die Musikstücke stammen aus einem breiten Querschnitt der Musikgenres, z.B. Schlager, Pop, Rock, County, Rap, Hip-hop, Metal. Der Vortrag diskutiert exemplarische Vertreter der pharmazeutischen Hitliste mit Text- und Musikbeispielen. 

22.1.2025

Zu diesem Termin werden Sie zwei ineinander verwobene Themen von zwei Vortragenden hören.

Prof. Dr. Karen Nolte und Dr. Sara Doll, beide Universität Heidelberg

Thema 1: Zugang gestalten – Heidelberger Projekt zum Umgang mit Human Remains in der Ausstellungs- und Lehrpraxis.

  • Abstract

    In dem Vortrag wird das vom Rektorat der Heidelberger Universität geförderten Forschungsprojekt zum Umgang mit Human Remains in der Ausstellungs- und Lehrpraxis vorgestellt. An dem interdisziplinären Projekt beteiligt sind das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, die Anatomische Sammlung des Instituts für Anatomie und Zellbiologie, das Völkerkundemuseum vPST und die Sammlung des Ägyptologischen Instituts. Neben der wissenschaftlichen Erschließung der Human Remains sollen didaktische Konzepte für das Museum, Ausstellungen und die Lehre vorgestellt und diskutiert werden. 

Thema 2: Interdisziplinäre Provenienzrecherche mit neuen Techniken. Wie der Schwarze Jonas zum Schinderhannes wurde.

  • Abstract

    Seit dem beginnenden 19. Jahrhundert befinden sich zwei Skelette in der Anatomischen Sammlung Heidelberg, die laut Aufschrift hingerichteten Personen zuzuordnen waren. Beide, der Schwarze Jonas und mehr noch der Schinderhannes wurden Gegenstand öffentlicher und zum Teil hitzig geführter Diskussionen. Es wurde hauptsächlich bezweifelt, ob sie überhaupt diejenigen seien, als welche sie ausgegeben wurden und ob die Schädel die echten sind - oder ob sie zu anderen Individuen gehören.
    Die seit Jahrhunderten geführte Kontroverse konnte nun endlich mithilfe unterschiedlichster Techniken und Fachrichtungen in großen Teilen gelöst werden.
    Kann diese Methode vielleicht als Blaupause für ähnlich gelagerte Fragestellungen verwendet und sollte Provenienzforschung nun anders durchgeführt werden?