10.07.2023 Finanzspritze für mutige Forschungsmissionen der Uni Marburg
LOEWE Exploration fördert Projekte der Philipps-Universität mit 1,46 Millionen Euro
Wissenschaftlicher Durchbruch und Innovation beginnen häufig mit einem Risiko. Mit der Förderlinie LOEWE Exploration unterstützt das Land Hessen fünf innovative Projekte von Wissenschaftler*innen der Philipps-Universität Marburg mit je rund 300.000 Euro für zwei Jahre. Das verschafft den Forschenden die Freiheit, ihre unkonventionellen Ideen über zwei Jahre zu verfolgen und die Tragfähigkeit ihrer originellen Hypothesen zu erproben.
Sie arbeiten an neuen Methoden, archäologische Funde zu untersuchen, ohne sie zu berühren, oder an reflektiert-kritischen Vermittlungswegen für die historisch-politische Bildung. Sie untersuchen bislang unverstandene Prozesse der Eiweiß-Synthese, die Stress und Zell-Alterung beeinflussen, wollen die Wirkung von mRNA-Impfstoffen verbessern oder Medikamente zur Bekämpfung von Antibiotika-resistenten Keimen entwickeln. Jedes dieser Projekte birgt die Chance, das aktuelle wissenschaftliche Verständnis entscheidend zu verändern und zu erweitern. Gleichzeitig gehören das Risiko und der Mut zum Scheitern sowie die Möglichkeit für unerwartete Befunde zum Programm.
„In Forschung steckt immer auch das Attribut „forsch“, also das fest entschlossene Vorwärtsgehen bei der Suche nach Erkenntnissen und neuen Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit. Unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nehmen dabei vielversprechende neue Ansätze unter die Lupe und auch das Risiko des Scheiterns in Kauf, um neues Wissen zu generieren“, erklärt Prof. Dr. Thomas Nauss, Präsident der Philipps-Universität Marburg.
Wie Zellen auf Stress und Alterung reagieren
Der Biochemiker Prof. Dr. Gert Bange untersucht zusammen mit seinem Arbeitsgruppenleiter Dr. Johannes Freitag unter dem Titel „Ap4-all: Diadenosin-Tetraphosphat (Ap4A) – ein unterschätzter Stress-Mediator?“ einen bislang kaum erforschten Mechanismus, der entscheidend sein könnte für die Reaktion von Zellen auf Stress und Alterung. Biolog*innen und Gesundheitswissenschaftler*innen gehen darin der Frage nach: Gibt es eine allen Lebensformen gemeine Stressantwort, die die Übertragung der Erbinformation in Eiweiße überwacht? Eiweiße sind essentielle Bestandteile aller Lebensformen. Ihr Aufbau ist in der Erbinformation beschrieben. Die Übersetzung der Erbinformation in Eiweiße ist in allen Lebewesen ähnlich. Umwelteinflüsse, Stress und Alterung stören die Herstellung von Eiweißen und spielen eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Krankheiten. Wie Zellen Veränderungen in der Synthese von Eiweißen wahrnehmen und darauf reagieren können, ist nicht vollständig verstanden.
Aus welchen Katastrophen lernen Menschen?
Viele Kollektive erinnern sich an Genozide und versuchen, aus der Erinnerungsverarbeitung Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Diese Vermittlungszusammenhänge in Bildung und Gesellschaft erforscht das Projekt der Historikerin und Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Christina Brüning an exemplarischen Standorten weltweit. Im Projekt „Aus welchen Katastrophen lernen? Zum Zusammenhang von Holocaust - und Genocide Education“ sollen besonders die großen Genozide wie die Shoah (Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden während der nationalsozialistischen Herrschaft), der Porajmos (NS-Völkermord an Sinti und Roma), die Maafa (Handel mit versklavten Menschen) oder auch Tenochtitlán (Genozid an den Azteken) als Erzähl- und Erinnerungsfolien untersucht werden. In einer für die Disziplin ungewöhnlichen und noch nicht durchgeführten, (trans-)nationalen Metastudie analysiert das Projekt weltweit empirische Studien aus dem Bildungsbereich in diesem Themenfeld und vergleicht die Auswirkungen von Bildungsinterventionen zu Holocaust- und Genocide Education. Die historisch-politische Bildung wird aufgrund dieser empirischen Befunde zukunftsfähiger, weniger eurozentrisch und internationalisierter. Aus diesen Erkenntnissen sollen für Praktiker*innen in der Lehrkräftebildung formulierte Schlussfolgerungen dazu entwickelt werden, wie eine gelingende Holocaust- und Anti-Genocide-Education in (post-) migrantischen Gesellschaften den eurozentrischen und „weißen“ Denkrahmen verlassen kann.
Antibiotika-Resistenzen mit neuen Wirkstoffen überwinden
Die Zunahme der antimikrobiellen Resistenz (AMR) ist laut WHO eine der größten Bedrohungen für die globale Gesundheit, die Ernährungssicherheit und die gesellschaftliche Entwicklung. Schätzungen zufolge wird sich die Zahl der jährlichen Todesfälle infolge von AMR bis 2050 weltweit auf 10 Millionen belaufen, wenn keine Maßnahmen zur Bekämpfung der Resistenz ergriffen werden. Neue Wirkstoffe werden dringend benötigt. Antimikrobielle Peptide (AMPs) sind Teil des angeborenen Immunsystems fast aller Organismen und stellen eine potente Alternative zu konventionellen Antibiotika dar, da sie seltener zur Resistenzentwicklung führen. Auch wenn sich bereits AMPs in klinischen Studien befinden, fehlt es an einem detaillierten Wissen über die Regulation der spezifischen AMP-Antwort bei einer Infektion. Das Projektteam um Prof. Dr. Dominik Heider analysiert im Projekt „Analyse des humanen AMP Gedächtnis mit künstlicher Intelligenz als Strategie gegen mikrobielle Resistenzen“ mit Hilfe von Infektionsexperimenten, bioinformatischen Analysen und künstlicher Intelligenz den zeitlichen Ablauf der AMP-Antwort. Sollten sich dabei Beweise für ein zelluläres AMP-Gedächtnis finden, kann das ein wichtiger Ansatzpunkt für eine gezielte Therapie und Medikamentenentwicklung sein.
Zerstörungs- und berührungsfreie Analyse in der Archäologie
Wie Untersuchungen in Ägypten gezeigt haben, geben Harze, Balsame und Hölzer auch nach tausenden von Jahren einen charakteristischen Geruch ab, der Rückschlüsse auf ihre Zusammensetzungen und Identität erlaubt. Die Analyse dieser Substanzen bereitet jedoch große Probleme. Innerhalb des Vorhabens „ArchaeoScent: Zerstörungs- und berührungsfreie Analyse von archäologischen organischen Rückständen und Artefakten“ soll daher ein völlig neuartiges und Verfahren entwickelt werden, mit dem sich archäologische organische Rückstände und Artefakte zerstörungs- und berührungsfrei analysieren lassen. Kernstück dieser Entwicklung ist ein universell einsetzbarer und transportabler Gasabsorber, mit dem sich direkt am Fundort eines Artefakts ohne Strom, Wasser und Gase eine Geruchsprobe entnehmen lässt. Diese Probe kann zu einem späteren Zeitpunkt im Labor hochsensitiv und selektiv mittels hybrider Gaschromatographie-Massenspektrometrie-Technik (GC-MS) untersucht werden. Über massenspektrometrische Vergleichsspektren und MS-Datenbanken erfolgt eine abschließende Identifizierung der Substanzen, die Rückschlüsse auf die ursprüngliche Natur des Harzes, Balsams oder Holz zulassen. Dabei wird das untersuchte archäologische Artefakt weder berührt noch verändert, so dass es völlig unverändert für weitere Untersuchungen zur Verfügung steht. Lediglich eine Duftspur („Scent“) wird untersucht. Damit verfolgt das Team um Prof. Dr. Michael Keusgen einen höchst innovativen, interdisziplinären Ansatz für die Archäologie, der und umfassende Aufschlüsse über die untersuchten Proben erlaubt.
Entwicklung neuartiger RNA-Adjuvantien für verbesserte mRNA-Vakzine
„Können RNA-Moleküle, die unsere Zellen bei natürlichen Infektionen produzieren, die Schutzwirkung von mRNA Impfstoffen verbessern?“, fragt das medizinisch-biologische Forschungsteam von Prof. Dr. Leon Schulte, das sich der Entwicklung neuartiger RNA-Adjuvantien (Hilfsstoffe) für verbesserte mRNA-Vakzine verschrieben hat. Sogenannte mRNA-Impfstoffe haben sich als revolutionäres neues Werkzeug der Medizin etabliert. Dabei wird eine sogenannte Messenger-RNA in Immunzellen eingebracht. Das bringt die Zellen zur Bildung eines fremden Proteins und löst eine Immunantwort darauf aus. Trotz effektiver Schutzwirkung ahmen mRNA-Impfstoffe natürliche Infektionen nicht vollständig nach. Deshalb erreichen sie einen langanhaltenden Immunschutz nur durch wiederholte Booster-Impfungen. Im Projekt "Entwicklung neuartiger RNA-Adjuvantien für verbesserte mRNA-Vakzine“ wird untersucht, ob Substanzen, die Immunzellen bei natürlichen Infektionen bilden, die Wirkung von mRNA-Vakzinen verbessern können. Im Fokus steht dabei eine lange übersehene Klasse zellulärer Moleküle, die der Messenger-RNA ähneln, aber keine Proteininformationen tragen. Diese Moleküle – so die Hypothese der Forscher*innen – sind für die Immunzellen das Signal, einen besonders langlebigen Immunschutz auszuprägen. Eine Beimischung dieser natürlich vorkommenden, jedoch pharmakologisch bislang ungenutzten nicht-messenger RNAs könnte mRNA-Impfstoffe wesentlich verbessern und dabei helfen, die sozioökonomischen Auswirkungen zukünftiger Pandemien zu verringern.