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Das Programm ‚Netzwerkcoaching Zukunftsgestalter‘ (NWC) als „anderer Raum“ der Universität

Im ´Qualitätspakt Lehre´ (BMBF) wird seitens der Philipps-Universität Marburg im Programm „für ein richtig gutes Studium“ auch das Pilotprojekt ‚Netzwerkcoaching Zukunftsgestalter‘ (NWC) realisiert und seit mehreren Jahren erprobt und hinsichtlich seiner Potenziale für die Reform der Studieneingangsphase analysiert.

Im NWC-Programm lernen vor allem die Erstsemester-Studierenden des BA-Studienganges Erziehungs- und Bildungswissenschaften seit dem Jahr 2013/2014 systematisch in einem ‚Train-the Trainer-Ansatz‘, ihren Übergang in die Universität kollektiv zu meistern, habitusreflexiv ihre Studienstrategien zu reflektieren, soziale Innovationen zu erschließen und Studien- und Zukunftsstrategien zu entwerfen. 

Erklärtes Ziel des integrierten Konzeptes, bestehend aus der Verschränkung von Vorlesung, Trainings für Multiplikatoren und selbstorganisierten Studierenden-gruppen ist es, vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit Gestaltungsfähigkeit für soziale und institutionelle Innovationen, reflexive ebenso wie kreative Studien- und Zukunftsstrategien zu fördern und zu entwickeln. 

Foto: AG Weber

Das Programm zielt darauf ab, von Anfang an den „Ermöglichungssinn“ Studierender zu unterstützen. Im Programm verknüpfen wir den Ansatz der „Gestaltungskompetenz“ (de Haan 2008) mit der Befähigung Studierender im institutionellen Ermöglichungskontext Universität. Wie auch bereits im letzten Jahr werden aktuell in sechs parallel angelegten Trainings 60 MultiplikatorInnen von 12 TrainerInnen ausgebildet. So werden die allermeisten ErstsemesterInnen erreicht.
Das NWC-Programm wird aktuell von Lisa Hammer koordiniert, die die studentischen TrainerInnen in wöchentlichen Team-Trainings auf ihre Trainings vorbereitet. Hierfür nutzt sie auch ein Manual für TrainerInnen und Coaches, das in den letzten Jahren erstellt worden ist und im Team ständig weiter entwickelt und verbessert wird.

Neben diesem Qualitätsansatz wird das NWC-Programm seit mehreren Jahren mittels Interviewstudien, Gruppendiskussionen sowie mit quantitativen Zwischen- und Finalerhebungen systematisch evaluiert. In diesem Rahmen entstehen auch studentische Qualifikationsarbeiten ebenso wie Abschlussarbeiten auf MA und BA-Niveau. Bereits in der Vergangenheit ließ sich eine positive Resonanz auf das Programm feststellen: So zeigten die durchgeführten Erhebungen, dass die Teilnehmenden vom Programm sehr begeistert waren und sind: So sagen manche Studierende, dass das Netzwerkcoaching für sie „so ziemlich die coolste Veranstaltung [war] – obwohl es keine Punkte gab“. Eine andere Studentin sagte: „Das hat für mich etwas verändert, das hat mir was gebracht“. Hier entstehen transformatorische Bildungsprozesse, die vielfach aus intrinsischer Bildungsmotivation erwachsen.

Studierende aus den letzten Jahrgängen berichten, dass sie nun besser den Raum für Selbstbildung nutzen können, sie sagen: „Ich habe Methoden gelernt, die mir weiterhelfen, uns im Studium besser zu organisieren – bevor wir ein Referat machen, machen wir erst das Medizinrad und dann wissen wir, was wir voneinander brauchen“. Dritte nutzen das Programm für ihre Professionalisierung: Sie sagen, „ich will in den Bereich Coaching und Beratung“ und wollen sich so professionalisieren. Mit diesen unterschiedlichen Motivations- und Interessenlagen sehen alle der Teilnehmenden das ‚Netzwerkcoaching Zukunftsgestalter‘ als eine große Chance im ersten Semester und wünschen sich die Verstetigung und Verbreiterung des Programms.

Ganz offenbar hat das NWC-Pilotprojekt Potenzial zur Diffusion. Es bietet vielfältige Möglichkeiten, die Studieneingangsphase insgesamt zu reformieren, das Potenzial nach- haltiger und transformativer Bildung in der Übergangsphase zu verankern und dabei soziale Selektivität zu minimieren. Hier werden zentrale Ziele der Chancengerechtigkeit ebenso wie der nachhaltigen Bildungsstrategien adressiert – und zugleich die Potenziale vernetzten Denkens und sozialer Innovation unterstützt.  Auch im Jahr 2016 wird anhand eines mixed-methods Designs evaluiert: Im letzten Programmdurchlauf nutzten wir Evasys-Befragungen, eigene Erhebungsbögen für die Zwischen- und Endevaluation auf der Ebene der im Programm trainierten „Coaches“ sowie der selbstorganisierten „Peers“ und verschränkten diese Auswertungen in der Analyse mit den Programm abschließenden Gruppendiskussionen.

Das fünfköpfige Forschungsteam nutzt den Ansatz der Dokumentarischen Methode für die Auswertung der im Februar 2016 durchgeführten 14 Gruppendiskussionen. In der Analyse fokussieren wir auf die Programmwirkungen aus der Sicht der Studierenden. Wir interessieren uns für die transformativen Bildungserfahrungen Studierender im Programm und die hier aufscheinenden kollektiven Orientierungsmuster.
Wie in der Auswertung dieser Erhebungswelle deutlich wird, wird das Programm von vielen Teilnehmenden der Trainings als eine ‚völlig andere Bildungserfahrung‘ erlebt. Das Programm wird von vielen Studierenden als ein „anderer Raum“ als die herkömmliche Universität wahrgenommen. In der Analyse des Materials treten verschiedene Raummetaphern hervor: So erscheint das Programm als Beziehungs- und Erfahrungsraum, als Anwendungs-, Erprobungs- und Praxisraum oder auch als Freiraum, Gestaltungs- und Ermöglichungsraum und als atmosphärisch differenter Raum – ein Raum, der, mit Foucault gesprochen, heterotopische Qualität haben könnte für das, was Universität als studentische Erfahrung auch sein und werden kann.

Die Analyse des hier vorliegenden Materials verweist damit auf das Potenzial innovativer Bildungsprogramme einer bildungsgerechteren Reform und Neugestaltung der Studieneingangsphase. Ebenso zeichnet sich hier aber auch das Potenzial einer rekonstruktiven Sozialforschung und auch einer rekonstruktiv angelegten rollierenden Programmforschung ab.

Marc-André Heidelmann; Prof. Dr. Susanne Maria Weber