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Utopie(n) und Utopisches – Entwürfe, Grenz-Überschreitung(en) und Imagination(en)
Studium Generale und interdisziplinäre Ringvorlesung: "Feminismen im Dialog"
Veranstaltungsdaten
23. Juni 2021 20:00 – 23. Juni 2021 22:00
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Link zum Livestream: https://uni-marburg.webex.com/uni-marburg/j.php?MTID=ma9ca49f26f1c61fe6362af31c8da2c9b
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Welche Rolle spielt das Moment des Utopischen im und für den Feminismus heute? Dieser Frage gehen die Beiträge von Christine M. Klapeer und Susanne Maurer auf unterschiedliche Weise nach.
Zum Beitrag von Christine M. Klapeer:
Inwieweit kann das Spannungsverhältnis zwischen den zwei widersprüchlichen Bedeutungen des historischen Utopiebegriffes – utopia als „Nicht-Ort“ bzw. nicht-zu-verwirklichender Ort (abgeleitet vom griechischen ou-tópos) und als „guter“ oder „idealer Ort“ (eu-topos) – gerade als produktives Moment für queer_feministische Gegenwartsanalysen begriffen werden? Demnach liegt in der Suche, dem Nachdenken oder praktischen Ausprobieren von (scheinbar) „Utopischem“ (etwa in Bezug auf Geschlecht oder Begehren) ein enormes subversives Potential, da in diesem Kontext Herrschafts- und Geschlechterverhältnisse dynamisiert und ent-selbstverständlicht werden können. „Das Reale“ oder „Gegenwärtige“ kann durch das Streben nach, oder Erproben eines „Ideals“, durch die Beschäftigung mit dem (vermeintlich) „Fiktionalen“ und „Wünschbaren“ somit auch (anders) wahrnehmbar oder intellegibel werden. Gesellschafts- und Geschlechtertheoretisch steht die Utopie damit weniger für eine normative Fixierung auf einen klar umrissenen „besseren Ort“, sondern für ein „selbstreflexives Denk- und Handlungsprinzip“ (Kreisky 2000, 7), für eine produktive Form der Verunsicherung bestehender Wahrnehmungen und Deutungen von „Realität“ und „Normalität“ (etwa in Bezug auf Geschlecht). Utopische Praxen und Entwürfe können somit zu einer - im wahrsten Sinne des Wortes gemeinten – Realisierung von Existenzweisen und Verhältnissen führen, deren „Realität“ immer wieder negiert wird/wurde, oder die in einer weißen, heteronormativ strukturierten, Vorstellung von Zukunft nicht vorgesehen sind (z.B. BIPOC_queere Realitäten). „Das Utopische“ existiert mit Gloria Anzaldúa, José Esteban Muñoz oder Judith Butler gedacht, demnach nicht in einer „fernen“ Zukunft oder einem „Anderswo“, sondern als (queere) „Spur“ im Hier und Jetzt, dessen Potentialität transformatorisch wirksam werden kann. Insofern bleibt zu fragen, ob die analytische Produktivität und Wirkkraft feministischer und queerer Wissenschaft gerade in ihrer „Utopiehaftigkeit“ liegt, da in diesem Kontext Modelle, Konzepte und Theorien bereitgestellt werden, die eine „andere“ Wahrnehmung von gesellschaftlicher und geschlechtlicher Wirklichkeit ermöglichen und damit die Wirklichkeit selbst verändern.
Zum Beitrag von Susanne Maurer:
Ende der 1980er Jahre reflektierte Cornelia Klinger den ‚Nutzen der Utopie‘ für sozialrevolutionäre Bewegungen wie folgt: Utopische Fiktionen dienten als eine Art Vergrößerungsspiegel (auch feministischer Theorie und Praxis selbst); die Ideen seien hier konsequenter, die Entwürfe kühner, Hoffnungen und Ängste in Bezug auf die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse würden im Medium des Utopisch-Fiktionalen deutlicher sichtbar. Im günstigen Fall provoziere dies zur (selbst)kritischen Reflektion über die in den Kämpfen um Veränderung zutage tretenden Schwierigkeiten und Widersprüche, im ungünstigen Fall würden einfach Klischees reproduziert. Die Frage nach möglichen Zukünften der Geschlechterverhältnisse, nach möglichen Zukünften von ‚Geschlecht‘ - als Dimension, Kategorie oder auch Konstellation – ist nicht nur eine Frage der politischen Theorie und Utopie. Das Erkenntnis- und Untersuchungsinteresse kann sich hier auch auf Entwürfe konkreter Lebensführung und konkreter Beziehungsgestaltung richten, auch auf die in diesem Zusammenhang imaginierten Praktiken des Selbst. Literarische oder auch filmische Fiktionen bieten hierfür einen Raum – einen Raum des Experimentierens mit vorstellbaren Figuren, Situationen und Handlungen, einen Raum für soziale Phantasie. Die Zukunft von ‚Geschlecht‘ denken, ‚Geschlechtergrenzen überschreiten’, die Bedeutung von ‚Geschlecht‘ auch zu verflüssigen und zu vervielfältigen kann dabei auf ganz unterschiedliche Weise geschehen – auf dem Weg des Entwerfens möglicher ‚anderer‘ Gesellschaften, aber auch durch Phantasien und subversive Geschichten vom Leben und Überleben im Hier und Jetzt. Die Konfliktdimension in den Geschlechterverhältnissen wird im Fiktionalen denn auch nicht nur über Bürgerkriegsszenarien oder ‚Machtkämpfe zwischen Gegen-Gesellschaften‘ thematisiert. Sie wird auch verhandelt, indem die Figuren aus der herrschenden symbolischen Ordnung (etwa der ‚Geschlechterdualität’) ‚ausbrechen‘ – wenn die Art und Weise der Erkenntnis, des Sprechens und Handelns (Geschlechter-)Hierarchien sprengt.
CVs
Christine M. Klapeer, Dr., Politikwissenschaftler*in mit Schwerpunkt queer_feministische und postkoloniale politische Theorien und transnationale LGBTIQ*-Politiken; sie lehrt und forscht am Studienfach Geschlechterforschung an der Georg-August-Universität Göttingen im Bereich sozialwissenschaftliche Geschlechtertheorien, Queer Politics, Rassismus und Heteronormativität und Utopien. Sie ist Mitglied des Sprecher*innenrates der Sektion "Politik und Geschlecht" der DVPW und Vorstandsmitglied des Göttinger Centrums für Geschlechterforschung (GCG). Christine Klapeer versteht sich als "activist scholar" und liebt Science Fiction.
Susanne Maurer, Prof.in Dr.in, Erziehungswissenschaftlerin (Philipps-Universtität Marburg, FB 21), 1996 veröffentlichte Dissertation „Zwischen Zuschreibung und Selbstgestaltung. Feministische Identitätspolitiken im Kräftefeld von Kritik, Norm und Utopie“; S. Maurer arbeitet gelegentlich auch zu feministischer S(peculative) F(iction).
Die Programmübersicht des Studium Generale/der Ringvorlesung finden Sie hier: Überblick Programm Studium Generale
Im Laufe des Semesters finden Sie hier außerdem die wachsende Seite zum 20-jährigen Jubiläum unseres Zentrums: Jubiläumsseite
Referierende
Dr. Christine M. Klapeer (Universität Göttingen, Geschlechterforschung)
Prof. Dr. Susanne Maurer (Philipps-Universtität Marburg, Erziehungswissenschaftlerin)
Veranstalter
Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung