Interdisziplinäre Workshop-Tagung "Ambivalenzen der Normativität in feministisch-kritischer Wissenschaft"
-
25.10.2013 Nikita Dhawan (Universität Frankfurt am Main) Keynote: Normativity,Violence und Vulnerability Norms emerge historically in specific cultural and political contexts to provide evaluative criteria to critically assess our socio-cultural, legal and economic practices. They are action-guiding and operate as an ideal against which practices and subjects are rendered legible and recognizable within a specific framework. Normative intelligibility is deeply linked to survival, whereby subjects that fall outside hegemonic norms of recognition are vulnerable to normative violence. This indicates the aspirational and orchestrating effects of norms as well as their regulative and coercive dimensions. Normative orders are justified insofar as those subject to them have the possibility of intervening and transforming these orders. The capacity to challenge hegemonic norms presupposes an ability to negotiate one’s relation to norms. A critical engagement with hegemonic framings entails a debate regarding the terms of recognition and contents of normative judgements. This is not a call for undermining all normative claims; rather the emphasis is on the need to devise new constellations of normativity, which would enable subjects struggling for enfranchisement. Normativity is a site of political agency, even as the vulnerability of the subject is closely related to normative regulations. Thus, political contest entails exceeding and reworking hegemonic norms; it rests on negotiating normativity. The talk will address the ambivalence of norms as well as the challenges and prospects in attempting to make possible new claims and articulations of normativity.
-
25.10.2013 Christl M. Maier (Evangelische Theologie) Zur Freiheit befreit: Soziale Gerechtigkeit in feministisch-theologischer Perspektive Für eine theologische Sozialethik wird das biblische Zeugnis von der Befreiung aus Sklaverei, vom besonderen Schutz für die Marginalisierten und von der Teilhabe aller an der christlichen Gemeinschaft meist als normativ verstanden. Die biblischen Utopien vom guten Leben beschreiben eine Welt, in der die Menschenwürde allen Menschen zugesprochen wird (Genesis 1), jeder und jede auskömmlich und friedlich leben kann (Micha 4,1-4) und in der gesellschaftliche Unterschiede (Ethnie, Klasse, Geschlecht) keine Rolle mehr spielen (Galaterbrief 3,28). Eine spezifisch feministische Perspektive fordert, dass soziale Gerechtigkeit vor allem im Blick auf Geschlecht und Sexualität in den Kirchen heute verwirklicht wird. Angesichts einer weitgehend patriarchalen Auslegungs¬geschichte der Bibel nimmt diese feministische Perspektive bestimmte moderne Vorstellungen von Gleichheit zum Maßstab für eine Revision der theologischen Tradition.
-
25.10.2013 Barbara Grubner (Kultur- und Sozialanthropologie) Freiheit als radikal unbegründete Praxis. Über die Politik der Pluralität und das Aufblitzen des Neuen Vereinzelte Werke aus der feministischen Wissenschaft rücken in jüngster Zeit (wieder) Reflexionen über den Begriff der Freiheit ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Eines davon ist Linda Zerillis Feminismus und der Abgrund der Freiheit, in dem sie Feminismus als Politik radikaler Freiheit neu denkt. Politische Freiheit wird dabei sowohl von der Frage nach sozialer Gerechtigkeit als auch von der Subjektfrage deutlich unterschieden. Die Herstellung von Freiheit, nämlich radikaler, unbegründeter Freiheit, so könnte man sagen, taucht hier auf neue Weise als Brennpunkt feministischer Bestrebungen auf. Vor diesem Hintergrund möchte ich zwei Aspekte herausgreifen und zur Diskussion stellen, die beide um den kritischen Punkt der „Differenzen zwischen Frauen“ kreisen, jene theoretische und politische Herausforderung, die in den letzten beiden Jahrzehnten feministischer Kritik ausführlich und kontrovers beleuchtet wurde. Erstens eine alte These der italienischen Feministinnen Libreria delle donne di Milano, die besagt, dass die Anerkennung der Unterschiedlichkeit von Frauen weniger ein ethisches Anliegen, eine Forderung nach Gerechtigkeit oder ein Gebot der Solidarität sei, sondern vielmehr unabdingbare Voraussetzung weiblicher Freiheit. Und zweitens geht es um die Frage, welche Art von feministischer Theorie eine so verstandene Praxis der Freiheit „braucht“ bzw. für sie wichtig und hilfreich ist. Erfordert das gesellschaftliche Geltendmachen der „Differenzen zwischen Frauen“ die Formulierung einer konsistenten, inklusiven Theorie, die als Normativ für die politische Praxis dienen kann?
-
25.10.2013 Mirjam Dierkes (Politikwissenschaft) Zum Verhältnis von Norm und Utopie. Oder: Wie normativ kann/sollte Utopie sein? Nach Seyla Benhabib (1998) sind Kritik, Norm und Utopie die "Essentials" jeder sich als kritisch verstehenden Theorie. Und auch feministische Theorie und Praxis verortet sich in diesem "Kräftefeld von Kritik, Norm und Utopie" (Maurer 1996). Während die begriffliche Abgrenzung in der Bestimmung von "Kritik" zu der von "Norm" und "Utopie" relativ selbsterklärend und einleuchtend erscheint, stellt sich die Unterscheidung zwischen den Begriffen "Norm" und "Utopie" weniger eindeutig dar. Nicht selten werden beide Begriffe synonym oder in einander verschwimmend gebraucht, ohne diese Gleichsetzung explizit zu machen. Aus utopietheoretischer Perspektive aber ist die Frage nach (dem Grad) der Verknüpfung von "Norm" und "Utopie" eine offene und umkämpfte. Der hier vorgeschlagene Beitrag greift diese Frage auf und diskutiert, wieviel Normativität eigentlich die Utopie braucht - und umgekehrt, ob und unter welchen Umständen Normen auch utopisches Potenzial bergen. Ziel ist es, eine Debatte über eine (Re)konfiguration von "Norm" und "Utopie" anzuregen, die für einen dezidiert feministisch-kritischen Blick auf Gesellschaft fruchtbar gemacht werden kann.
-
25.10.2013 Karolina Dreit (Erziehungswissenschaft) Normativität als Aushandlungspraxis am Beispiel der Precarias a la deriva Feministische Theorie und Praxis verstanden als ein vielfältiges Projekt, das Herrschafts- und Machtverhältnisse verstehen und verändern will und dabei auf den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zielt, fragt damit indirekt oder direkt nach den Möglichkeiten eines anderen, eines guten Lebens. Wie ein gutes Leben ge- bzw. erfunden werden kann, wirft m.E. folgende Fragen auf: Wie kann eine feministische und (gesellschaftsverändernde) gemeinsame Praxis heute aussehen, die der Mannigfaltigkeit von Sprecher*innenpositionen gerecht wird und wie kann oder muss Normativität als (Organisations)Moment gesellschaftlichen Zusammenlebens aus dieser Praxis heraus neu gedacht werden. Am Beispiel der Precarias a la deriva, einem feministischen Kollektiv zwischen Wissenschaft und Aktivismus, das sich im Zuge des 2002 in Spanien ausgerufenen Generalstreiks gegründet hat, möchte ich den Versuch unternehmen, Normativität als eine Aushandlungspraxis zu rekonstruieren. Mit der Frage „Was ist dein Streik?“ machten die Precarias a la deriva den eigenen „fragmentierten Alltag“ (Precarias a la deriva 2011: 37) zum Ausgangspunkt gemeinsamen politischen Handelns. In meinem Impulsvortrag möchte ich an die Strategie militanter Untersuchungen, wie sie die Precarias a la deriva vollzogen haben, anknüpfen. Im Mittelpunkt meiner Rekonstruktion steht das gemeinsame Ausloten und Aushandeln, welches die strukturellen Bedingungen des eigenen Gewordenseins bzw. der eigenen Situierung zum Ausgangspunkt nimmt. Es soll gezeigt werden, wie 12 dabei eine Perspektive bemüht wird, die über das Bestehende (samt der vorhandenen Normierungen und normativen Festlegungen) hinauszuweisen vermag und wie darin Normativität hergestellt bzw. ausgehandelt wird.
-
26.10.2013 Carmen Birkle (Amerikanistik) Literarischer Kanon in feministischer Kritik am Beispiel der USA Mit dem Fortschreiten der Postmoderne und dem Aufkommen zahlreicher Emanzipationsbestrebungen in den USA und einer damit einhergehenden Identitätssuche beginnt in den 1960er Jahren in der anglo-amerikanischen Literaturwissenschaft eine Diskussion um festgefügte Hierarchien, Wertzuschreibungen und Auswahlkriterien für Texte, die sich auf Leselisten, Lektüreempfehlungen und Syllabi für Lehrveranstaltungen wiederfinden sollten. Der literarische Kanon wurde hinterfragt, von manchen abgelehnt als zu sehr weiß und männlich geprägt, von anderen verändert, ergänzt und neu geschrieben. Mit ihrem Essay “When We Dead Awaken: Writing as Re-Vision” (1971) initiierte Adrienne Rich eine Phase der Revision, die neue Perspektiven mit sich brachte. Mit Essaysammlungen wie Sandra Gilbert und Susan Gubars The Madwoman in the Attic (1979) und Shakespeare’s Sisters (1979) wurde ein scheinbar etablierter Kanon aus feministischer Perspektive neu verhandelt. Der Vortrag wird anhand von ausgewählten Beispielen der anglo-amerikanischen feministischen Literaturwissenschaft die Argumente, Strategien und tatsächlichen Veränderungen des homogenen literarischen Kanons, die zur Publikation zahlreicher neuer Anthologien und dadurch zur Parallelexistenz vieler heterogener Kanones geführt haben, untersuchen, und die durch die Heterogenität erreichte Sichtbarmachung der historisch bedingten Konventionen, Regeln und Vereinbarungen beleuchten. Es sollen die Implikationen des Konzepts eines Kanons und die sich darin widerspiegelnden Normen und Normativitäten diskutiert werden, deren Revision in eine Politisierung von Literatur mündete.
-
26.10.2013 Susanne Maurer (Erziehungswissenschaft) Gedächtnis der Konflikte statt Kanon? Der Beitrag stellt als Alternative zu einer feministischen Kanonbildung die Möglichkeit zur Diskussion, die Geschichte feministischen Fragens und Denkens anhand der damit verbundenen kritischen Fragen und Kontroversen zu überliefern. Angelehnt an eine 'Geschichte der Problematisierungen' im Sinne Michel Foucaults, aber auch an feministische Ansätze, die die Produktivität einer 'Erkenntnisproduktion aus der Kontroverse' betonen, wird vorgeschlagen 'Kanon' als offenes Gebilde zu begreifen, das über eine (selbst)kritisch-reflexive Historiografie zu erarbeiten und weiterzuentwickeln wäre.
-
26.10.2013 Sonja Engel (Soziologie, LMU München) Ist am Ende alles relativ? Georg Simmel und feministische Wissenschaftskritik Zentrales Anliegen feministisch-kritischer Wissenschaften ist aufzudecken, wie sich Macht und Herrschaft in der Produktion von Wissen mittels Normen und (unausgesprochener) Normativität niederschlagen. Besonders wichtige Topoi dieser Auseinandersetzungen sind die Konzepte von Objektivität und Wahrheit. Die Hinterfragung dieser beiden Ideale der Wissenschaftlichkeit stellen eine besondere Provokation dar, dem häufig mit einem Relativismus-Vorwurf begegnet wird, d.h. der Unterstellung, dass die Konsequenz der Kritik in eine Beliebigkeit des ,anything goes‘ enden müsse. Wie kann diesem Vorwurf argumentativ begegnet werden? In meinem Beitrag möchte ich einen Vorschlag vorstellen, der an Überlegungen des Kulturphilosophen und Soziologen Georg Simmel anschließt, die er bereits um 1900 entwickelte. Und die vielleicht Auswege aus dem Dilemma kritischer Wissenschaften ermöglichen, das darin besteht, einerseits Normen kritisieren zu wollen, andererseits selbst mit normativen Prämissen zu hantieren.
-
26.10.2013 Marie Reusch (Politikwissenschaft) Was ist und wie geht kritische Wissenschaft in feministischer Absicht? Feministische Wissenschaft setzt sich zum Ziel, Herrschaftsverhältnisse zu verstehen und zu denaturalisieren, Gegenwehr gegen diese Verhältnisse zu ermuntern und mögliche Szenarien einer herrschaftsfreien Gesellschaft (und des Weges dorthin) auszuloten. Aber wie lässt sich dieser Anspruch in die konkrete Forschungspraxis übersetzen? Es werden sieben „Essentials“ kritischer (Politik)Wissenschaft in feministischer Absicht postuliert und reflektiert, was deren Berücksichtigung für die wissenschaftliche Praxis bedeutet. Der Vortrag baut auf Ergebnissen der Projektgruppe „Kritische Politikwissenschaft“ (KriPo) auf und präsentiert diese.
-
26.10.2013 AG fe_Marburg Feministische Wissensverbreitung, Verbreitung von feministischem Wissen - ein kleiner Praxisbericht Um einerseits unsere Wissensvorräte zu teilen, uns auszutauschen, aber ebenso, um Impulse aus der feministischen Praxis zu erhalten, haben wir als Mittelbauinitiative die Internetplattform feMarburg gegründet. Ziel ist es u.a., kritisches feministisches „Nachwuchswissen“ hierarchiefrei zugänglich zu machen und eine stärkere Vernetzung feministisch arbeitender Gruppierungen und Personen zu erreichen. feMarburg ist inzwischen online, aber die Fragen nach der feministischen Praxis und institutioneller Unabhängigkeit fangen damit erst richtig an. In unserem Selbstverständnistext versprechen wir uns und den Nutzer_innen herrschaftskritisch und sensibel für unterschiedlichste Differenzkategorien, z.B. race, class, gender oder ableism zu sein. Was aber bedeutet das für unsere konkrete Arbeit – wie ist es möglich, diesen verschiedenen normativen Ansprüchen praktisch gerecht zu werden? Wie gelingt es sowohl AkteurInnen aus dem wissenschaftlichen als auch praktischen Arbeitsfeld sich miteinander zu vernetzen? Immer wieder sind wir aufgefordert, uns zu positionieren und zu reflektieren. Mit dem Anspruch kritisch-feministisch wissenschaftlicher Intervention in gesellschaftliche Verhältnisse ist es uns gleichzeitig wichtig, darauf zu achten, nicht bei permanenter Reflexion und Selbstbespiegelung stehen zu bleiben.