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1845 – 1921: Der »Akademische Gesangverein«
Mitte des 19. Jahrhunderts war es dann soweit: 1845 – in einer Zeit, in der einige Chöre in Marburg gegründet wurden – gründete sich ein »Akademischer Gesangverein«, der erste überlieferte Chor, der fest mit der Philipps-Universität assoziiert war. Nicolaus Becks Nachfolger Wilhelm Deichert verlieh man nun den von Beck ersehnten Titel und erschuf somit den Posten des »Universitäts-Musicdirectors«. In dessen Instruction heißt es erstmals, dass dieser das
»Aufkommen und die Erhaltung akademischer Vocal- und Instrumental-Concerte […] zu fördern [und] die Concerte selbst, so wie die erforderlichen
Proben zu dirigieren [hat]«.
Deichert übernahm also die Leitung des Akademischen Gesangvereins. Mit diesem führte er 1853 Haydns »Schöpfung« auf, stellte jedoch noch im selben Jahr seine Arbeit mit dem Chor wieder ein – obwohl er noch bis 1873 als Universitätsmusikdirektor angestellt war.
Dem Theologieprofessor Ernst Constantin Ranke (Foto links) ist es zu verdanken, dass an der Philipps-Universität weiterhin gesungen wurde: Dieser gründete 1851 – parallel zum bereits existierenden Chor – »zunächst zur Pflege Bachscher Choräle […] einen akademischen Gesangsverein, der schnell anwachsend sich zur Aufführung von Oratorien heranbildete«, wie seine Tochter in ihren Erinnerungen 1906 schrieb. Dieser neue Chor der Philipps-Universität vereinte sich 1858 mit dem seit 1853 von Deichert aufgegebenen und seither nicht mehr in Erscheinung getretenen alten Akademischen Gesangverein und führte kurz danach unter Leitung Prof. Rankes Teile des »Judas Maccabäus« (Händel) auf. Später standen noch mehrmals die »Schöpfung« sowie Haydns »Samson« auf dem Programm.
Deicherts Nachfolger im Amt des Universitätsmusikdirektors wurde 1875 der vielseitig gebildete Musiker Julius Leonhard Wolff. Unter Leitung Wolffs, der lediglich fünf Jahre in Marburg war, führte der Akademische Gesangverein neben den großen Oratorien wie Schumanns »Paradies und die Peri«, Mendelssohn-Bartholdys »Elias«, Mozarts Requiem oder Händels »Messias« auch moderne Musik, wie Bruchs »Flucht nach Ägypten« oder die »Morgenstunde« auf. Der Chor hielt »wöchentlich eine Probe, kurz vor den Concerten zwei Proben«, wie Wolff in der Stellenanzeige für deinen Nachfolger schrieb. »Die Direktion der Concerte, deren der Verein in jedem Semester eins hält, sowie die Orchesterproben dazu, werden nicht besonders vergütet.«
Was aus heutiger Sicht bemerkenswert ist: Bereits damals war der Universitätschor unabhängig als selbstverwalteter Verein neben der Uni organisiert. Es war jedoch fest vorgesehen, dass der jeweilige Universitätsmusikdirektor die Leitung übernahm, wie es 1880 in der Instruktion für Wolffs Nachfolger Otto Freiberg hieß:
»Die Leitung des akademischen Gesangvereins, sowie auch die Direction der von demselben veranstalteten Concerte hat er unentgeltlich zu übernehmen.«
Freiberg führte die positive Arbeit seines Vorgängers ebenso positiv weiter: Bereits acht Wochen nach Dienstantritt führte er mit dem Gesangverein Haydns »Jahreszeiten« auf. sowie im folgenden Jahr erstmalig in Marburg die »Matthäuspassion« von Johann Sebastian Bach.
Als Pendant zum Akademischen Gesangverein existierte seit 1871 der »Akademische Musikverein«, im Grunde das erste zur Universität assoziierte Orchester, dessen Leitung ebenfalls dem jeweiligen Universitätsmusikdirektor oblag. 1881 verschmolz man beide Vereine und gründete den »Akademischen Concertverein«. Unter den großen Oratorienaufführungen ist z.B. »Die Legende von der heiligen Elisabeth« (Franz Liszt) zur 600-Jahr-Feier der Elisabethkirche 1883 hervorzuheben (siehe Plakat links). Liszt selbst war zur Aufführung anwesend und zählte »die hiesige Aufführung seines Werkes [zu] den besten […], denen er beigewohnt hat«, wie die Oberhessische Zeitung tags darauf berichtete. Außerdem erklang 1884 die Marburger Erstaufführung von Beethovens Neunter Sinfonie, gespielt vom Akademischen Musikverein unter der Leitung Otto Freibergs.
Unter den 51 Musikern, die sich auf die 1888 durch Weggang Freibergs freigewordene Stelle beworben hatten, wurde der Brahmsfreund Richard Barth (Foto links) ausgewählt. In dieser Zeit kooperierte der Akademische Konzertverein häufig mit dem neu gegründeten Chor der studentischen Verbindung Fridericiana, dessen Leitung Barth ebenfalls innehatte. Das Programm unter Barth war ebenso anspruchsvoll wie umfassend: Eines der größten Projekt war 1891 die Aufführung von Beethovens »Missa solemnis«.
1895 wurde der einzige Kompositionsschüler von Brahms, Gustav Jenner (Foto unten links), Universitätsmusikdirektor und künstlerischer Leiter des Akademischen Musikvereins in Marburg. Trotz seiner Bindung an Brahms und des seit jeher konservativ ausgerichteten Konzertlebens in Marburg kamen in Jenners Konzerten Werke von Liszt, Hugo Wolf, Peter Cornelius, Claude Debussy, Wagner und Reger zur Aufführung. Der Chor des Akademischen Konzertvereins hatte damals über 120 Mitglieder und ein immenses Arbeitspensum: In einem Wintersemester standen in Jenners Zeiten mindestens drei Konzerte, davon ein großes Oratorien- und ein Chorkonzert auf dem Plan. Auch und gerade als Komponist ist Jenner sehr schätzenswert: Sein Nachlass im Hessischen Musikarchiv umfasst noch einige bisher unveröffentlichte Werke.
Im Laufe der ersten Jahre des neuen Jahrhunderts erzielte der Akademische Musikverein immer weniger Gewinn, sodass dieser 1908 mit dem neben ihm größten in Marburg existierenden Konzertanbieter, den Abonnement-Konzerten der Universitätsbibliothek Braun, zum »Marburger Konzertverein« fusionierte. Besonders interessant: Wilhelm Berger, um dessen Wiederentdeckung sich der Universitätschor seit 2001 verdient gemacht hat, war in seiner Zeit als Meininger Hofkapellmeister 1903-1911 jährlich in Marburg und spielte bei den »Meininger Musiktagen«. Bergers Nachfolger in Meiningen, Max Reger, führte diese Tradition weiter. In den Kriegsjahren 1914-1918 wurden aufgrund des zu absolvierenden Kriegsdienstes der Chor- und Orchestermitglieder fast nur Kammer- und Solokonzerte aufgeführt.
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Quellen:
- Hans Engel: Die Musikpflege der Philipps-Universität zu Marburg seit 1527. Marburg, 1957.
- Der Marburger Konzertverein. Ein Streifzug durch seine Geschichte von 1786 bis 1999. Marburg, 1999.