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München, Salzburg, Berchtesgaden
28. Juli bis 2. August 2022
Natürlich beginnt unsere Reise am frühen Morgen und natürlich beginnt sie im Bus, der uns sicher vom Marburger Firmaneiplatz in den Münchener Großstadtdschungel schaukelt. Während die ersten Reihen noch ein wenig Schlaf nachholen, singen, spielen und snacken, findet auf den hinteren Plätzen ein kollektives Vorlesen von Nietzsches Also sprach Zarathustra statt. Als wir den Münchener Grünwaldpark erreichen, ist die Frage, ob Gott nun eigentlich tot ist, immer noch nicht abschließend geklärt, muss jedoch vorerst wichtigeren Angelegenheiten weichen: dem Einsingen und Proben für unser erstes Konzert in der Herz-Jesu-Kirche. Ersteres erledigen wir gleich hier, mitten im Park, barfuß im weichen, grünen Gras, unter aufmerksamer Beobachtung und gelegentlich begeisterter Teilnahme zahlreicher Kinder vom Spielplatz nebenan. Dann ziehen wir in die Kirche um, deren moderner Glasbau sofort unser Interesse weckt. Bemerkenswert sind vor allem die riesigen, bis zur Decke reichenden Glastüren am Eingang der Kirche, auf deren Platten ein Alphabet aus Nägeln die Passionsgeschichte (Johannes 18–20) erzählt. Nach einem kurzen Vortrag des Küsters über die bewegte Geschichte des Gebäudes, das zweimal vollständig abbrannte, während des Nationalsozialismus als Kino genutzt und erst seit dem Jahr 2000 in der heute bestehenden Form eingeweiht wurde, beschäftigen wir uns mit einer kurzen Stellprobe, in deren Verlauf uns auffällt, dass wir bei weitem nicht die ersten Marburger♪innen sind, die die Herz-Jesu-Kirche mit ihrer Anwesenheit beehren: von der Empore schaut eine Orgel des Marburger Orgelbauers Gerald Woehl auf uns hinab; da fühlen wir uns doch gleich wie zuhause!
Der restliche Abend ist ganz der kulinarischen Erkundung Münchens gewidmet. Wir lassen uns von unseren süddeutschen Kommiliton♪innen belehren, dass es eine Maß und keinesfalls ein Maß heißt, bevor es noch zu ernsthaften Auseinandersetzungen mit dem Brauhauspublikum kommt, probieren eine Menge Obatzda und müssen feststellen, dass sich Brotzeit und Vegetarismus/Veganismus nur bedingt vertragen. Mit einem (selbstredend) mehrstimmigen Prosit-Gesang ziehen wir durch die Gassen und versuchen uns sogar an einer „Groß ist der Herr“-Interpretation unseres Lieblingskomponisten Wilhelm Berger, deren Aufnahme wir dann am nächsten Morgen jedoch lieber stillschweigend verschwinden lassen (nur so viel: intonatorisch war Gott an diesem Abend eher tot als groß).
Nach einer Jugendherbergsnacht in herausfordernd kleinen Betten starten wir mit erstarktem Gemeinschaftsgefühl und etwas zerknittert in den neuen Tag, werden allerdings umgehend von einem Stadtführer mit theaterpädagogischen Ambitionen aufgefangen, der uns die Stadtgeschichte Münchens näherbringt. Ihm gelingt es nicht nur, die Sage des ‚Turmaffens‘, der einst den Kronprinzen Ludwig der Bayer aus seiner Wiege entführte, im Alten Hof mit unserer Unterstützung szenisch nachzustellen, sondern überzeugt uns auch davon, unsere eigene Version von Skandal im Sperrbezirk (Spider Murphy Gang) zum Besten zu geben. Abgerundet wird unser Gang durch die Münchener Innenstadt von einem Besuch der Frauenkirche, in deren wunderbarer Akustik wir Johann H. Scheins Motette Zion spricht singen und genießen dürfen. Um uns vor dem abendlichen Konzert noch einmal abzukühlen, treffen wir uns im Englischen Garten und schwimmen, vorbei an Stromschnellen und Totenkopfwarnschildern, gegenüber vom Monopteros im Eisbach. „Gegenüber“, so lautet auch der Titel unseres Konzertprogramms und genauso fühlt sich unser Auftritt in der Herz-Jesu-Kirche an diesem Abend an – viele Freund♪innen, Bekannte und Familienmitglieder sitzen im Publikum, jedes singende hat ein hörendes Gegenüber.
Samstag ist die Welt – nach einem erfolgreichen Konzertausklang im Augustiner-Keller am Abend zuvor – etwas zu hell, doch zum Glück haben wir auf unserer Weiterfahrt nach Salzburg einen Zwischenstopp am Chiemsee eingeplant. Während eine Gruppe einen Ausflug zur Fraueninsel macht, sonnen sich die anderen am Seeufer, gehen baden und hören Jazzballaden, während am Horizont die Segelboote vorbeiziehen, etwas kitschig, ja, aber genau das richtige für einen Nachmittag wie diesen. Angekommen in Salzburg beziehen wir unsere sympathische Jugendherberge im Grünen, gehen gemeinsam Essen und fallen dann früh ins Bett – heute werden keine Heldentaten vollbracht.
Dafür starten wir voller Energie in den nächsten Tag, frühstücken im Freien und fahren in die Stadt. Salzburg summt und brummt wie ein emsiger Bienenstock, Festspieltage! Aber wir haben keine Zeit, uns genauer umzuschauen, denn wir werden erwartet, und zwar im Dom, wo wir den morgendlichen Gottesdienst musikalisch begleiten sollen. Zumindest sind wir der festen Überzeugung, wir würden erwartet. Doch als wir den Domvorplatz erreichen, ist unsere Ansprechperson unauffindbar. Also ziehen wir uns um, singen uns ein, direkt hier auf dem Platz, umringt von Tourist♪innen, die uns sicherlich für eine ganz erlesene Festspielattraktion halten und wissen immer noch nicht, wie viele Stücke und vor allem wo in diesem riesigen Dom wir singen sollen. Dann geht alles ganz schnell. Wir werden (man kann es wirklich nicht anders ausdrücken) an den Tourist♪innen vorbei in den Dom geschleust und noch bevor wir uns richtig aufgestellt haben, beginnt auch schon der Gottesdienst. Nils, unser Chorleiter, kann gerade noch den Organisten befragen, wann wir denn eigentlich singen sollen, da sind wir auch schon dran, fallen gewissermaßen in die ersten Töne des Kyries aus der Messe von Frank Martin, fangen uns aber nach den ersten Takten und können dann endlich durchatmen und die einzigartige Atmosphäre des Salzburger Doms in uns aufnehmen. Als wir überraschend Thomas Cornelius im Publikum entdecken, der 2018 das Stück Stille Wasser Leben für den Marburger Unichor komponierte, können wir es uns nicht nehmen lassen, ihn unsererseits mit einer spontanen Wiedergabe seines Werkes zu überraschen.
Nach einer kurzen Pause treffen wir uns in der Andräkirche, um für unser Konzert am heutigen Abend zu proben. Als wir den Vers „Und zu jenen Taubenhändlern sprach er…“ aus Zoltán Kodálys Jesus und die Krämer singen, flattert eine aufgeregte Taube durch das Kirchenschiff – ganz so, als hätten wir sie aus dem Stück herausgesungen, ein Tintenherzmoment. Die Zeit bis zu unserem Auftritt vertreiben wir uns mit Schlendereien durch den Mirabellengarten und die Orangerie und probieren die berühmten Salzburger Nockerl im Mozart-Café, wo wir ausführlich für unser Hochdeutsch gelobt werden, das von uns als „Marburger Norddeutschen“ nun wirklich nicht zu erwarten gewesen sei. Leider haben wir keine Zeit, dieses Gespräch weiter zu vertiefen, denn es ruft das Konzert in der Andräkirche. Dieses wird ein voller Erfolg und endet mit den ersten standing ovations unserer Konzertreise sowie einem leckeren grünen Curry im Marmeladenglas als Abendessen, in dem wir – wo wir eben schon beim Kitsch waren – am liebsten alle Momente der bisherigen Reise einschließen, mitnehmen und für bittere, konzertreisenarme Tage in unserem Probenraum aufbewahren möchten, weil es einfach alles so schön ist…aber jetzt bloß nicht sentimental werden, denn die nächste Stadtführung ruft, dieses Mal im Dunkeln. Während wir uns noch fragen, ob wir das nach dem langen Tag wirklich noch durchhalten, haben wir schon den Unterschied zwischen echten und originalen Mozartkugeln gelernt, von den ikonischen Salzburger Jedermann-Aufführungen gehört und Mozarts Geburtshaus einen Besuch abgestattet. Erschöpft, aber glücklich lassen wir den Tag auf dem Salzburger Marktplatz bei Bier und Spielen ausklingen.
Die neue Woche beginnt ziemlich genau so, wie die alte zu Ende ging: mit einem Spaziergang durch Salzburg. In mehreren Gruppen bewegen wir uns durch die kleinen Gassen der Stadt, fahren mit dem Aufzug am Museum der Moderne hoch zum Mönchsberg und genießen den Blick über die Altstadt, wandern weiter und schauen und wandern und schauen und probieren dann, am höchsten Aussichtspunkt aus, wer den besten Jedermann-Rufer von uns abgeben würde. Wieder unten angelangt kaufen wir Postkarten, die wir an der Salzach sitzend schreiben, träumen in den Tag hinein und konsumieren dabei SPD-Werbegeschenke (alkoholfreies Radler). Nachmittags machen wir uns auf den Weg nach Berchtesgaden, wo wir das letzte Konzert unserer Reise in der Stiftskirche singen. Nach so vielen Tagen gemeinsamen Musizierens ist unser Chorklang so schön zusammengewachsen, hören wir einander so gut zu und können die Stücke so gut auswendig, dass wir Nils Dirigat unsere volle Aufmerksamkeit schenken können und einen (das Eigenlob muss an dieser Stelle sein) wirklich herausragenden Auftritt abliefern, nach dem wir uns noch eine ganze Weile Freuden- und Abschiedstränen weinend in den Armen liegen.
Den letzten Tag unserer Konzertreise verbringt ein Teil des Unichors beim Wandern rund um Salzburg, der andere im Mozarthaus zwischen Mozarts originalem (nicht echtem) Klavier und seiner Bratsche, handschriftlichen Partituren und Briefen, in denen er „unendlich viele Küsse an [s]eine Constanze“ und „Grüße an das Pferdegesicht“ seiner Schwester verschickt. Nach einer letzten Eisschokolade in der Sonne und einem Mittagessen in der Jugendherberge endet unsere Reise natürlich am späten Abend und natürlich endet sie im Bus, der uns mit vorfreudigem Blick auf alle kommenden Konzerte von Salzburg nach Marburg schaukelt.
Konzerte
Herz-Jesu-Kirche | München
Gottesdienst Dom | Salzburg
Andräkirche | Salzburg
Stiftskirche | Berchtesgaden
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