14.06.2023 Jetzt online: Zusammenfassung des Vortrags "Deutsche Gerichte auf dem Weg zu einem geschlechtergerechten Völkerstrafrecht?"

Foto: Rolf K. Wegst

Am Dienstag, den 6. Juni 2023 fand der inzwischen vierte Vortrag der interdisziplinären Ringvorlesung „Gender im Völkerstrafrecht“ mit einem Beitrag von Dr. Alexander Schwarz, Senior Legal Advisor for International Criminal Justice statt. Er war online aus Tunis zugeschaltet. Unter dem Titel „Deutsche Gerichte auf dem Weg zu einem geschlechtergerechten Völkerstrafrecht?“ zeigte Dr. Alexander Schwarz auf, inwieweit es bisher eine rechtliche Anerkennung und Verfolgung geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt im völkerstrafrechtlichen Kontext durch deutsche Gerichte gibt und was in der Zukunft noch getan werden müsse.

Der Vortrag von Dr. Alexander Schwarz auf YouTube

Unter diesem Link haben wir den vollständigen Vortrag „Deutsche Gerichte auf dem Weg zu einem geschlechtergerechten Völkerstrafrecht?“ von Dr. Alexander Schwarz im Rahmen der Ringvorlesung "Gender im Völkerstrafrecht" auf YouTube hinterlegt.

Einleitend zeigte der Referent auf, welche Rolle deutsche Gerichte bei der Entstehung eines geschlechtergerechten Völkerstrafrechts bisher schon gespielt haben. Deutschland ist ein transnationaler Akteur für die Umsetzung und Ausdeutung von Völkerstrafrecht und hat als eines der wenigen Länder das Völkerstrafrecht in nationales Recht umgesetzt. Die deutsche Rechtsprechung wird international wahrgenommen und trägt zur Fortentwicklung des Völkerstrafrechts bei. Dr. Alexander Schwarz betont in Bezug auf seine Arbeit im Bereich der sexualisierten und geschlechtsbezogenen Gewalt, dass „Recht nichts sei, was wir nur vorfinden, sondern was wir hervorbringen und verändern“. Recht sei handlungsleitend, es dürfe nicht einfach nur angewandt werden, sondern müsse sich auch fortentwickeln und an gesamtgesellschaftliche Herausforderungen angepasst und Interpretationsspielräume genutzt werden. Damit kritisierte er, dass nach wie vor noch im deutschen Kontext progressive internationale Normen teilweise ausgebremst oder nicht angewandt würden, sodass noch nicht alle Völkerstrafrechtstaten in all ihrer Breite verfolgt werden.

Im nächsten Schritt skizzierte Dr. Alexander Schwarz seine Vorstellung eines geschlechtergerechten Völkerstrafrechts, welches die spezifischen Erfahrungen von Überlebenden sexualisierter und geschlechtsbezogener Gewalt ausreichend berücksichtigen müsse. Ein geschlechtergerechtes Völkerstrafrecht basiere auf der Erkenntnis, dass insbesondere Frauen und Mädchen, aber auch Jungen und LGBTQ+-Personen häufig aufgrund ihres Geschlechts oder geschlechtlicher Normenerwartung gezielt zum Opfer von Formen der sexualisierten und geschlechtsbezogener Gewalt in bewaffneten Konflikten werden. Sie werden gezielt als Waffe eingesetzt, um die Zivilbevölkerung zu demütigen, sozial wie psychisch zu zerstören oder ethnische und religiöse Konstitutionalität zu beeinflussen. Ein erster Schritt wäre es, verschiedene Unrechtsformen wie sexuelle Sklaverei, Zwangsprostitution und Zwangssterilisation normativ zu erfassen und zu bestrafen. Allerdings benötige es in der Praxis geschlechtersensible und traumainformierte Justiz wie Strafverfolgungsbehörden, die sich der kontextspezifischen Herausforderungen sexualisierter und geschlechtsbezogener Gewalt bewusst sind und die über spezifische Qualifikationen verfügen. Hierzu zähle auch effektiver Schutz und Unterstützung von Überlebenden sexualisierter und geschlechtsbezogener Gewalt durch an die Bedürfnisse der Zeug:innen angepasste Befragungen und eine darauf spezialisierte psychosoziale Prozessbegleitung. Ein weiterer wichtiger Aspekt sei die zivilgesellschaftliche völkerstrafrechtliche Infrastruktur. Es geht um zivile Einzelpersonen und Gruppen, an welche sich die Prozessbeteiligten und Überlebenden vertrauensvoll wenden können sollen. Gleichzeitig stehe mit einer zivilgesellschaftlichen Völkerstrafrechtsinfrastruktur eine rechtspolitische, feministische und intersektionale Expertise zur Verfügung, die sich aktiv einbringen und laufende Verfahren beeinflussen kann.

Schließlich erklärte Dr. Alexander Schwarz, was unter sexualisierter und geschlechtsbezogener Gewalt zu verstehen sei und worin hier ein Unterschied bestehe. Beide Begriffe begründen keine eigenen Straftatbestände. Sie stellen lediglich Oberbegriffe für einzelne Tatbestände dar. Die Straftatbestände der sexualisierten Gewalt beziehen sich auf reproduktive Gewalttaten und solche mit Sexualbezug. Sie sollen dem Schutz der sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmung dienen. Geschlechtsbezogene Gewalttaten sind schwere Menschenrechtsverletzungen, die aufgrund des biologischen oder des sozialen Geschlechts begangen werden. Hiervon sei auch der Tatbestand der geschlechtsbezogenen Verfolgung umfasst, welcher bisher kaum Anwendung gefunden habe, trotz seiner hohen Bedeutung im völkerstrafrechtlichen Kontext. Für die rechtskonforme Aufarbeitung der Erlebnisse der Opfer kommt es darauf an, welches Rechtsgut verletzt worden ist. Dies schließt eine Überschneidung sexualisierter und geschlechtsbezogener Gewalt nicht aus. Anknüpfend daran stellte der Referent anhand der bestehenden Rechtslage und Rechtsprechung dar, wo Deutschland momentan auf dem Weg zu einem geschlechtergerechten Völkerstrafrecht steht. Dies zeigte er zum einen am Verfahren gegen Al Khabit in Koblenz und zum anderen am Verfahren gegen Taha Al. J. in Frankfurt. 

Der Vortrag bot einen informativen Überblick über den aktuellen Stand der Anerkennung geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt in völkerstrafrechtlichen Verfahren. Außerdem gab er viele progressive Anregungen für ein geschlechtergerechtes Völkerstrafrecht. Wir bedanken uns herzlich bei Dr. Alexander Schwarz und dem interessierten Publikum!

Die nächste Ringvorlesung findet am 20. Juni statt – wir freuen uns bereits jetzt darüber, Ulrike Schultz (FernUniversität in Hagen) mit einem Vortrag über „Frauen in völkerstrafrechtlichen Institutionen: Rekrutierung, Repräsentanz und Rechtsprechung“ begrüßen zu dürfen!

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