25.05.2023 Jetzt online: Zusammenfassung des Vortrags ",Geschlechter(Un)Ordnungen‘ - NS-Verbrecherinnen vor westdeutschen Gerichten (1945-1952)"

Foto: Rolf K. Wegst

Für den dritten Vortrag unserer Ringvorlesung „Gender im Völkerstrafrecht“ am 23. Mai 2023 konnten wir Historikerin Dr. Susanne Raidt (Pädagogische Hochschule Freiburg) gewinnen. Sie eröffnete eine historische Perspektive auf den Aspekt der Täterinnenschaft und problematisierte in ihrem Vortrag "‚Geschlechter(Un)Ordnungen‘ – NS-Täterinnen vor westdeutschen Gerichten (1945-1952)" die Kategorie "Geschlecht" in der Rechtsprechung der westdeutschen Nachkriegsjustiz.

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Anhand von drei Fallbeispielen präsentiert Susanne Raidt vier Thesen, welche auf den Ergebnissen ihrer Dissertation beruhen. Dabei nutzt sie die Kategorie "Gender" als analytisches Instrument für ihre Forschungsarbeit. Sie weist drauf hin, dass "Geschlecht" keine natürlich-ontologische Kategorie darstelle, sondern auf der Hegemonie biologisch begründeter Zweigeschlechtlichkeit beruhe, die als natürliche Gegebenheit wahrgenommen werde.

Frau Raidt erörtert den Ordnungsanspruch der und die Normierung durch die Justiz im Hinblick darauf, eine hierarchische und dichotome Geschlechterordnung wiederaufzubauen. Dafür beschreibt sie, wie durch Verhandlung und Performanz von Geschlecht eine heteronormative, geschlechterhierarchisierte und segregierte westdeutsche, bürgerliche Nachkriegsordnung hervorgebracht wurde. Dies verdeutlicht die Vortragende an vergeschlechtlichten Rechtsnormen und Praktiken sowie geschlechtsspezifischer Rechtsprechung: Während männliche NS-Täter zum NS-Kollektiv zählten, klammerte die Rechtsprechung Frauen weitgehend aus, indem ihre Taten individualisiert und als unpolitisch dargestellt wurden. Die NS-Organisationen waren männlich konnotiert, wohingegen Frauen als Unterstützerinnen der Männer, aber nicht als Teil der Organisation galten. Dafür nutzte die Justiz geschlechtsspezifische Zuschreibungen: Frauen tendierten zum Fanatismus und seien zu vernünftigem Handeln nicht in der Lage. Angebliche sexuelle Abweichungen, "Abartigkeiten" der NS-Täterinnen oder sexuelle "Hörigkeit" zogen Gerichte ebenfalls als Erklärungsmodelle heran. Dagegen wurde Männern das Ideal der Rationalität zugeschrieben. Indem NS-Täterinnen sexualisiert, kriminalisiert, pathologisiert und psychologisiert wurden, war es möglich, sie als anormal zu kennzeichnen. Es dürfe nicht unterschätzt werden, dass die NS-Täterinnen ein „doppeltes Verbrechen“ begingen, so Raidt. Sie verstießen nicht nur gegen Straftatbestände, sondern darüber hinaus gegen ein traditionelles Geschlechterbild, das Frauen als friedfertige Wesen darstellt.

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Auf Grundlage dessen galt die Frau in der westdeutschen Justiz als besonderes Problem. Die untersuchten Verfahren gegen weibliche Angeklagte können als ein Schlüssel zur Historisierung geschlechtsspezifischer Ordnungsvorstellungen der Nachkriegszeit gesehen werden. Dabei dient der Gerichtssaal als Bühnenbild, um das doppelte Verbrechen zu verdeutlichen. Susanne Raidt sieht in den Strafprozessen eine "vergeschlechtlichte Kanalisierung": Um gewisse Erwartungshaltungen zu erfüllen und das Sensationsbedürfnis des Publikums zu sättigen, passten die Strafverfolgungsbehörden Prozessakten der Geschlechtsnorm an, um keine Unordnung für die tradierten Geschlechterbilder zu erzeugen. Die NS-Frauen wurden über ihr geschlechtliches Verhalten repräsentiert. Dies spiegele sich letztlich auch in den Urteilen wider: Obwohl Richter Frauen eine Politisierung absprachen und sie so als unmündig vorführten, fielen die Urteile nicht milder aus. Anhand von Leserinnenbriefen zeigte die Vortragende, die gesellschaftliche Ächtung und (Vor-)Verurteilung in der gesellschaftlichen Reaktion auf die Strafprozesse auf. Dabei
galten die vermeintlich anständig Gebliebenen als Legitimationsgrundlage der Beurteilung. Frau Raidt macht Geschlecht als Analyseinstrument stark und plädiert für eine Sensibilisierung für
geschlechtsspezifische Zuschreibungen.

Im Anschluss an den Vortrag eröffnete Prof. Dr. Eckart Conze, stellv. geschäftsführender Direktor des ICWC, die Diskussion. Dabei kam die Frage nach der medialen Repräsentation der Strafprozesse auf. Frau Raidt sieht insbesondere im Verfahren gegen Ilse Koch ein mediales Großereignis. Auf die Frage, ob die Hegemonie der Geschlechter in unserer Gesellschaft noch immer aufrechterhalten werde, antwortete sie, dass dies differenzierter betrachtet werden müsse, aber es noch immer eine (un)bewusste Reproduktion heteronormativer Geschlechterverhältnisse in unserer Gesellschaft gebe.

Der Vortrag zeigte historische Kontinuitäten im Umgang mit Gender im Recht auf. Wir bedanken uns herzlich bei Susanne Raidt sowie dem engagierten Publikum!

Schon jetzt freuen wir uns auf den kommenden Vortrag unserer Ringvorlesung am 06. Juni – dann mit Dr. Alexander Schwarz zum Thema „Deutsche Gerichte auf dem Weg zu einem geschlechtergerechten Völkerstrafrecht?“.

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